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Full text of "Gesammelte Werke"

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. 


Theodor Fontane 


nunelte Werke 


Eine Auswahl in fünf Bänden 


9 . — 
5% je! 


Vierter Band 


———— —— 
S. Fiſcher / Verlag 7 Berlin 
8 


Alle Rechte, insbeſondere die der Überſetzung, vorbehalten. 


Effi Brieſt 


Inhalt 


Die Poggenpuhls 


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Erſtes Kapitel 


Die Poggenpuhls — eine Frau Majorin von Poggen⸗ 
pouhl mit ihren drei Töchtern Thereſe, Sophie und Manon — 

wohnten ſeit ihrer vor ſieben Jahren erfolgten Überfiedelung 
von Pommerſch⸗Stargard nach Berlin in einem gerade um 
jene Zeit fertig gewordenen, alſo noch ziemlich mauerfeuchten 
Neubau der Großgoͤrſchenſtraße, einem Eckhauſe, das einem 
braven und behaͤbigen Manne, dem ehemaligen Maurer⸗ 
polier, jetzigen Rentier Auguſt Nottebohm gehoͤrte. Dieſe 
Großgoͤrſchenſtraßen⸗Wohnung war ſeitens der Poggenpuhlſchen 
Familie nicht zum wenigſten um des kriegsgeſchichtlichen Namens 
der Straße, zugleich aber auch um der ſogenannten „wunder⸗ 
vollen Ausſicht“ willen gewaͤhlt worden, die von den Vorder⸗ 
fenſtern aus auf die Grabdenkmaͤler und Erbbegraͤbniſſe des 
Matthaͤikirchhofs, von den Hinterfenſtern aus auf einige zur 
Kulmſtraße gehoͤrige Ruͤckfronten ging, an deren einer man, 
in abwechſelnd roten und blauen Rieſenbuchſtaben, die Worte 
„Schulzes Bonbonfabrik“ leſen konnte. Moͤglich, ja ſogar 
wahrſcheinlich, daß nicht jedem mit dieſer eigentuͤmlichen 
Doppelausſicht gedient geweſen waͤre; der Frau von Poggen⸗ 
puhl aber, einer geborenen Puͤtter — aus einer angeſehenen, 
aber armen Predigerfamilie ſtammend —, paßte jede der 
beiden Ausſichten gleich gut, die Frontausſicht, weil die etwas 
ſentimental angelegte Dame gern vom Sterben ſprach, die 


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Ruͤckfrontausſicht auf die Kulmſtraße aber, weil fie beſtaͤndig 
an Huſten litt und aller Sparſamkeit ungeachtet zu gutem Teile 
von Gerſtenbonbons und Bruſtkaramellen lebte. Jedesmal, 
wenn Beſuch kam, wurde denn auch von den großen Vorzuͤgen 
dieſer Wohnung geſprochen, deren einziger wirklicher Vorzug 
in ihrer großen Billigkeit und in der vor mehreren Jahren 
ſchon durch Rentier Nottebohm gemachten Zuſicherung beſtand, 
daß die Frau Majorin nie geſteigert werden wuͤrde. „Nein, 
Frau Majorin,“ fo etwa hatte ſich Nottebohm damals geaͤußert, 
„was dieſes angeht, ſo koͤnnen Frau Majorin ganz ruhig ſein 
und die Fraͤuleins auch. Gott, wenn ich fo alles bedenke, 
verzeihen Frau Majorin, das Manonchen war ja noch ein 
Quack, als Sie damals, zu Michaeli, hier einzogen ... un als 
Sie dann Neujahr runter kamen und die erſte Miete brachten 
und alles noch leer ſtand von wegen der naſſen Waͤnde, was aber 
ein Unſinn is, da ſagte ich zu meiner Frau, denn wir hatten es 
damals noch nich: „Line, ſagte ich, ‚das is Handgeld und 
bringt uns Gluͤck.“ Und hat auch wirklich. Denn von dasſelbe 
Vierteljahr an war nie was leer, un immer reputierliche Leute, — 
das muß ich ſagen ... Und dann, Frau Majorin, wie werd 
ich denn grade bei Ihnen mit fo was anfangen ... ich meine 
mit das Steigern. Ich war ja doch auch mit dabei; Donner⸗ 
wetter, es war eine ganz verfluchte Geſchichte. Hier ſitzt mir 
noch die Kugel; aber der Doktor ſagt: ſie wuͤrde ſchon mal 
rausfallen und dann haͤtt ich ein Andenken.“ 

Und damit ſchloß Nottebohm eine Rede, wie er ſie laͤnger 
nie gehalten und wie ſie die gute Frau Majorin nie freund⸗ 


licheren Ohres gehoͤrt hatte. Das mit dem „Dabeigeweſenſein“ 


aber bezog ſich auf Gravelotte, wo Major von Poggenpuhl, 
ſpaͤt gegen Abend, als die pommerſche Diviſion herankam, 
an der Spitze ſeines Bataillons, in dem auch Nottebohm ſtand, 
ehrenvoll gefallen war. Er, der Major, hinterließ nichts als 
einen guten alten Namen und drei blanke Kroͤnungstaler, die 


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ir man in feinem Portemonnate fand und ſpaͤter feiner Witwe 
behaͤndigte. Dieſe drei Kroͤnungstaler waren, wie das Erbe 


der Familie, ſo ſelbſtverſtaͤndlich auch der Stolz derſelben, und 


als ſechzehn Jahre ſpaͤter die erſt etliche Monate nach dem Tode 


des Vaters geborene juͤngſte Tochter Manon konfirmiert 


werden ſollte, waren aus den drei Kroͤnungstalern — die bis 


dahin zu konſervieren keine Kleinigkeit geweſen war — drei 
Broſchen angefertigt und an die drei Toͤchter zur Erinnerung 


an dieſen Einſegnungstag überreicht worden. Alles unter 


geiſtlicher Mitwirkung und Beihilfe. Denn Generalſuperinten⸗ 
dent Schwarz, der die Familie liebte, war am Abend des Kon⸗ 
firmationstages in die Poggenpuhlſche Wohnung gekommen 
und hatte hier die in Gegenwart einiger alter Kameraden und 
Freunde ſtattfindende Broſchenuͤberreichung faſt zu einer kirch⸗ 
lichen Zeremonie, jedenfalls aber zu einer Feier erhoben, 
die ſogar dem etwas groben und gegen die „Adelspackage“ 
ſtark eingenommenen Portier Nebelung imponiert und ihn, 
wenn auch nicht geradezu bekehrt, ſo doch den wohlwollenden 
Geſinnungen ſeines Haus⸗ und Brotherrn Nottebohm um 
etwas naͤhergefuͤhrt hatte. 

Wie ſich von ſelbſt verſteht, war auch die Poggenpuhlſche 


Wohnungseinrichtung ein Ausdruck der Verhaͤltniſſe, darin 


die Familie nun mal lebte; von Pluͤſchmoͤbeln exiſtierte nichts 
und von Teppichen nur ein kleiner Schmiedeberger, der mit 
ſchwarzen, etwas ausgefuſſelten Wollfranſen vor dem Sofa 
der zunaͤchſt am Korridor gelegenen und ſchon deshalb als 
Empfangsſalon dienenden „guten Stube“ lag. Entſprechend 


* dieſem Teppiche waren auch die ſchmalen, hier und dort ges 


ſtopften Gardinen: alles aber war ſehr ſauber und ordentlich ge⸗ 
halten, und ein mutmaßlich aus einem alten maͤrkiſchen 
Herrenhauſe herſtammender, ganz vor kurzem erſt auf einer 


3 Auktion erſtandener, weißlackierter Pfeilerſpiegel mit ein⸗ 


gelegter Goldleiſte lieh der aͤrmlichen Einrichtung trotz ihres 


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Zuſammengeſuchtſeins oder vielleicht auch um deſſen willen 
etwas von einer erloͤſchenden, aber doch immerhin mal da⸗ 
geweſenen Feudalitaͤt. 

Über dem Sofa derſelben „guten Stube“ hing ein großes 
Olbildnis (Knieſtuͤck) des Rittmeiſters von Poggenpuhl vom 
Sohrſchen Huſarenregiment, der 1813 bei Großgoͤrſchen ein 
Karree geſprengt und dafür den Pour le Mérite erhalten hatte — 
der einzige Poggenpuhl, der je in der Kavallerie geſtanden. 
Das halb wohlwollende, halb martialiſche Geſicht des Ritt⸗ 
meiſters ſah auf eine flache Glasſchale hernieder, drin im 
Sommer Aurikeln und ein Vergißmeinnichtkranz, im Winter 
Viſitenkarten zu liegen pflegten. An der andern Wand aber, 
genau dem Rittmeiſter gegenuͤber, ſtand ein Schreibtiſch 
mit einem kleinen erhoͤhten Mittelbau, drauf, um bei Beſuchen 
eine Art Gaſtlichkeit uͤben zu koͤnnen, eine halbe Flaſche Kap⸗ 


wein mit Likoͤrglaͤschen thronte, beides, Flaſche wie Glaͤschen, 


auf einem goldgeraͤnderten Teller, der beſtaͤndig klapperte. 

Neben dieſer „guten Stube“ lag die einfenſterige Wohn⸗ 
ſtube, daran ſich nach hinten zu das ſogenannte „Berliner 
Zimmer“ anſchloß, ein bloßer Durchgang, wenn auch im 
uͤbrigen geraͤumig, an deſſen Laͤngswand drei Betten ſtanden, 
nur drei, trotzdem es eine viergliedrige Familie war. Die 
vierte Lagerſtaͤtte, von mehr ambulantem Charakter, war ein 
mit Rohr uͤberflochtenes Sofageſtell, drauf ſich, wochenweis 
wechſelnd, eine der zwei juͤngeren Schweſtern einzurichten 
hatte. 

Hinter dieſem „Berliner Saal“ (Nottebohm ſelbſt hatte den 
Grundriß dazu entworfen) lag die Kuͤche mitſamt dem Haͤnge⸗ 


boden. Hier hauſte das alte Dienſtmaͤdchen Friederike, eine 


treue Seele, die noch den gnaͤdigen Herrn gekannt und als 
Vertraute der Frau Majorin alles Gluͤck und Ungluͤck des 
Hauſes und zuletzt auch die Überſiedelung von Stargard nach 
Berlin mit durchgemacht hatte. 


12 


* 


man nur die rechte Geſinnung und dann freilich auch die noͤtige 
ae mitbringe, zufrieden und beinahe ſtandesgemaͤß 
leben koͤnne, was ſelbſt von Portier Nebelung, allerdings unter 
Raopfſchuͤtteln und mit einigem Widerſtreben, zugegeben wurde. 
Sämtliche Poggenpuhls — die Mutter freilich weniger — 
beſaßen die ſchoͤne Gabe, nie zu klagen, waren lebensklug und 
je ; gut, ohne daß fich bei dieſem Rechnen etwas ſtoͤrend 
. Berechnendes gezeigt haͤtte. 
% Darin waren ſich die drei Schweſtern gleich, trotzdem ihre 
53 ſonſtigen Charaktere ſehr verſchieden waren. 
5 Thereſe, ſchon dreißig, konnte (was denn auch redlich ger 
1 ſchah) auf den erſten Blick für unpraktisch gelten und ſchien 
von allerhand kleinen Kuͤnſten eigentlich nur die eine, ſich in 
einem Schaukelſtuhle gefällig zu wiegen, gelernt zu haben; in 
Wirklichkeit aber war ſie gerade ſo lebensklug wie die beiden 
juͤngeren Schweſtern und bebaute nur ein ſehr andres Feld. 
Es war ihr, das ſtand ihr feſt, ihrer ganzen Natur nach die Auf⸗ 
gabe zugefallen, die Poggenpuhlſche Fahne hochzuhalten und 
ſich mehr, als es durch die Schweſtern geſchah, in die Welt, 
in die die Poggenpuhls nun mal gehoͤrten, einzureihen. In den 
Generals; und Miniſterfamilien der Behren⸗ und Wilhelm; 
ſtraße war ſie denn auch heimiſch und erzielte hier allemal 
große Zuſtimmung und Erfolge, wenn ſie beim Tee von 
ihren jüngeren Schweſtern und deren Erlebniſſen in der „ſein⸗ 
wollenden Ariſtokratie“ ſpoͤttiſch laͤchelnd berichtete. Selbſt der 
alte Kommandierende, der, im ganzen genommen, laͤngſt auf⸗ 
. gehoͤrt hatte, ſich durch irgend etwas Irdiſches noch beſonders 
imponieren zu laſſen, kam dann in eine vergnüglich liebens⸗ 
wuͤrdige Heiterkeit, und der der Generalsfamilie befreun⸗ 
dete, ſchraͤg gegenuͤber wohnende Unterſtaatsſekretaͤr, trotzdem 
er ſelber von allerneuſtem Adel war (oder vielleicht auch 


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ebendeshalb), zeigte ſich dann jedesmal hingeriſſen von der 
feinen Malice des armen, aber ſtandesbewußten Fraͤuleins. 
Eine weitere Folge dieſer geſellſchaftlichen Triumphe war 
es, daß Thereſe, wenn es irgend etwas zu bitten gab, auch 
tatſaͤchlich bitten durfte, wobei ſie, wie bemerkt werden muß, 
nie fuͤr ſich ſelbſt, oder aber klug abwaͤgend, immer nur um 
ſolche Dinge petitionierte, die man muͤhelos gewaͤhren konnte, 
was dann dem Gewaͤhrenden eine ganz ſpezielle Befriedigung 
gewaͤhrte. 

So war Thereſe von Poggenpuhl. 

Sehr anders erwieſen ſich die beiden juͤngeren Schweſtern, 
die, den Verhaͤltniſſen und der modernen Welt ſich anbe⸗ 
quemend, bei ihrem Tun ſozuſagen in Kompanie gingen. 

Sophie, die zweite, war die Hauptſtuͤtze der Familie, weil 
ſie das beſaß, was die Poggenpuhls bis dahin nicht ausge⸗ 
zeichnet hatte: Talente. Moͤglich, daß dieſe Talente bei guͤnſti⸗ 
geren Lebensverhaͤltniſſen einigermaßen zweifelvoll angeſehen 
und mehr oder weniger als „unſtandesgemaͤß“ empfunden 
worden wären; bei der bedruckten Lage jedoch, in der fi 
die Poggenpuhls befanden, waren dieſe natuͤrlichen Gaben 
Tag fuͤr Tag ein Gluͤck und Segen fuͤr die Familie. Selbſt 
Thereſe gab dies in ihren ruhigeren Momenten zu. Sophie 
— auch aͤußerlich von den Schweſtern verſchieden, ſie hatte 
ein freundliches Pudelgeſicht mit Loͤckchen — konnte eigent⸗ 
lich alles; ſie war muſikaliſch, zeichnete, malte, dichtete zu 
Geburtstagen und Polterabenden und konnte einen Haſen 
ſpicken; aber alles dies, ſoviel es war, haͤtte fuͤr die Familie 
doch nur die halbe Bedeutung gehabt, wenn nicht neben ihr 
her noch die juͤngſte Schweſter geweſen waͤre, Manon, das 
Neſthaͤkchen. 

Manon, jetzt ſiebzehn, war, im Gegenſatze zu Sophie, 
ganz ohne Begabung, beſaß aber dafuͤr die Gabe, ſich überall 
beliebt zu machen, vor allem in Bankierhaͤuſern, unter denen 


* 


1 * 

ſie die nicht⸗chriſtlichen bevorzugte, fo namentlich das hoch 
angeſehene Haus Bartenſtein. Bei dem Kinderſegen der Mehr⸗ 

zahl dieſer Haͤuſer war nie Mangel an angehenden Backfiſchen, 

die mit den Anfaͤngen irgendeiner Kunſt oder Wiſſenſchaft 
bekannt gemacht werden ſollten, und ein uͤber die verſchiedenſten 

Diſßziplinen angeſtrengtes laͤngeres oder kuͤrzeres Geſpraͤch 
endete regelmaͤßig mit der leicht hingeworfenen Bemerkung 
Manons: „Ich halte es fuͤr moͤglich, daß meine Schweſter 
Sophie da aushelfen kann,“ eine Bemerkung, die ſie gern 
machen durfte, weil Sophie tatſaͤchlich vor nichts erſchrak, 
nicht einmal vor Phyſik und Spektralanalyſe. 

So war die Rollenverteilung im Hauſe Poggenpuhl, aus 
der ſich, wie ſchon angedeutet, allerlei finanzielle Vorteile 
herausſtellten, Vorteile, die zuzeiten nicht unbetraͤchtlich uͤber 
die kleine Penſion hinauswuchſen, die den eiſernen Einnahme⸗ 
beſtand der Familie bildete. Saͤmtliche drei junge Damen 
vergaben ſich dabei nicht das geringſte, waren vielmehr (be⸗ 
ſonders die zwei jüngeren) ebenſo leichtlebig wie dankbar, 
vermieden es taktvoll, in geſchmackloſe Huldigungen oder gar 
in Schmeichelei zu verfallen, und ſtanden uͤberall in Achtung 
und Anſehen, weil ihr Tun, und das war die Hauptſache, von 
einer großen perſoͤnlichen Selbſtloſigkeit begleitet war. Sie 
brauchten wenig, wußten ſich, zumal auf dem Gebiete der Toi⸗ 
lette — was aber ein gefälliges Erſcheinen nicht hinderte — 
mit einem Minimum zu behelfen und lebten in ihren Ge⸗ 
danken und Hoffnungen eigentlich nur fuͤr die „zwei Jungens“, 
ihre Bruͤder, Wendelin und Leo, von denen jener ſchon ein 
aͤlterer Premier über dreißig, dieſer ein junger Dachs von kaum 
zweiundzwanzig war. Beide, wie ſich das von ſelbſt verſtand, 

waren in das hinterpommerſche, neuerdings uͤbrigens nach Weſt⸗ 
preußen verlegte Regiment eingetreten, drin ſchon ihr Vater 
ſeine Laufbahn begonnen und am denkwuͤrdigen 18. Auguſt in 
Ruhm und Ehre beſchloſſen hatte. 


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Diefen Ruhm der Familie womoͤglich noch zu ſteigern 
war das, was die ſchweſterliche Trias mit allen Mitteln an⸗ 
ſtrebte. 

Hinſichtlich Wendelins, der ihrem eigenen Bemuͤhen in 
allen Stuͤcken entgegenkam, beſonders auch darin, daß er zu 
ſparen verſtand, hinſichtlich dieſes aͤlteren Bruders unterlag 
das Erreichen hoͤchſter Ziele kaum einem Zweifel. Er war klug, 
nuͤchtern, ehrgeizig, und ſoviel durch Aufhorchen in dem 
militaͤrexzellenzlichen Haufe zur Kenntnis Thereſens gekommen 
war, konnte ſich's bei Wendelin eigentlich nur noch darum 
handeln, ob er demnaͤchſt in das Kriegsminiſterium oder in 
den Generalſtab abkommandiert werden würde. Nicht fo 
glücklich ſtand es mit Leo, der, weniger beanlagt als der Altere 
Bruder, nur der „Schneidigkeit“ zuſtrebte. Zwei Duelle, von 
denen das eine einem Gerichtsreferendarius einen Schuß durch 
beide Backen und den Verluſt etlicher Oberzaͤhne eingetragen 
hatte, ſchienen ein raſches Sichnaͤhern an ſein Schneidigkeits⸗ 
ideal zu verbuͤrgen und haͤtten ebenſogut wie Wendelins 
Talente zu großen Hoffnungen berechtigen duͤrfen, wenn nicht 
das Geſpenſt der Entlaſſung wegen beſtaͤndig anwachſender 
Schulden immer nebenher geſchritten waͤre. Leo, der Liebling 
aller, war zugleich das Angſtkind, und immer wieder zu helfen 
und ihn vor einer Kataſtrophe zu bewahren, darauf war alles 
Dichten und Trachten gerichtet. Kein Opfer erſchien zu groß, 
und wenn die Mutter auch gelegentlich den Kopf ſchuͤttelte, 
für die Töchter unterlag es keinem Zweifel, daß Leo, „wenn es 
nur moͤglich war, ihn bis zu dem entſprechenden Zeitpunkt zu 
halten“, die naͤchſte große Ruſſenſchlacht, das Zorndorf der 
Zukunft, durch entſcheidendes Eingreifen gewinnen wuͤrde. 

„Aber er iſt ja nicht Garde du Corps,“ ſagte die Mama. 

„Nein. Aber das iſt auch gleichguͤltig. Die naͤchſte Schlacht 
bei Zorndorf wird durch Infanterie gewonnen werden.“ 


16 


Zweites Kapitel 


5 Es war ein Wintertag, der dritte Januar. 

Eben kam Friederike von ihrem regelmäßigen Morgen; 
einkauf zuruͤck, einen Korb mit Fruͤhſtuͤcksſemmeln in der einen, 
einen Topf mit Milch in der andern Hand, beides, Semmeln 

und Milch, aus dem Keller gegenüber, Die Finger, trotz 

wollener Handſchuhe, waren ihr bei der Kälte klamm geworden, 
und fo nahm fie denn beim Eintreten in ihre Küche den Tee; 
keſſel aus dem Kochloch und waͤrmte ſich an der Glut. Aber 
nicht lange, denn ſie hatte ſich, weil ſie gegen Morgen noch ein⸗ 
mal eingeſchlafen war, um eine halbe Stunde verſpaͤtet, was 
natuͤrlich wieder eingebracht werden mußte. 

So machte ſie ſich denn eifrig an ihre vom Brett genom⸗ 
mene Kaffeemuͤhle, ſchuͤttete, ſo daß ſie nachher nur noch auf⸗ 
zugießen brauchte, das braune Pulver in den Beutel und ging 
nun, nachdem ſie ſchließlich noch den Teekeſſel wieder in die 
Glut geſtellt hatte, mit ihrem Holzkorb (deſſen Boden uͤbrigens 
jeden Augenblick herauszufallen drohte) nach vorn, um da 
das einfenſtrige Wohnzimmer zu heizen. Hier kniete ſie vor 
dem Ofen nieder und baute Holz und Preßkohlen fo kunſt⸗ 
gerecht auf, daß es nur eines einzigen Schwefelholzes, aller⸗ 
dings unter Zutat eines aus Zeitungspapier zuſammenge⸗ 
drehten Zopfes, bedurfte, den kuͤnſtlichen Bau in Brand zu 
ſetzen. 

Keine halbe Minute verging, ſo begann es im Ofen auch 
wirklich zu knacken und zu kniſtern, und als Friederike nun 
wußte, daß es brennen wuͤrde, ſtand ſie von ihrem Ofenplatz 
wieder auf, um ſich ihrer zweiten Morgenaufgabe, dem Staub⸗ 

ahbwiſchen, zu unterziehen. Hierbei, weil das, was ſie leiſtete, 
die drei Frauleins doch nie zufriedenſtellte, verfuhr fie, fo 
gemwiſſenhaft fie ſonſt war, ziemlich obenhin und beſchraͤnkte 
ſich darauf, eine uͤber dem Sofa haͤngende Bilderreihe, die Leo, 


Ve. 17 


5 
3 


„ 


trotzdem es Zeitgenoſſen waren, die „Ahnengalerie des Hauſes 
Poggenpuhl“ zu nennen pflegte, leidlich blank zu putzen. Drei 
oder vier dieſer Bilder waren Photographien in Kabinettformat; 
die aͤlteren aber gehoͤrten noch der Daguerreotypzeit an und 
waren ſo verblichen, daß ſie nur bei beſonders guͤnſtiger Be⸗ 
leuchtung noch auf ihren Kunſtwert hin gepruͤft werden konnten. 

Aber dieſe „Ahnengalerie“ war doch nicht alles, was hier 
hing. Unmittelbar über ihr praͤſentierte ſich noch ein Olbild 
von einigem Umfang, eine Kunſtſchoͤpfung dritten oder vierten 
Ranges, die den hiſtoriſch bedeutendſten Moment aus dem 
Leben der Familie darſtellte. Das meiſte, was man darauf 
ſehen konnte, war freilich nur Pulverqualm, aber inmitten des⸗ 
ſelben erkannte man doch ziemlich deutlich noch eine Kirche 
ſamt Kirchhof, auf welch letzterem ein verzweifelter Nachtkampf 
zu toben ſchien. 

Es war der Überfall von Hochkirch, die Oſterreicher beſtens 
„ajuſtiert“, die armen Preußen in einem pitoyablen Beklei⸗ 
dungszuſtande. Ganz in Front aber ſtand ein aͤlterer Offizier 
in Unterkleid und Weſte, von Stiefeln keine Rede, dafuͤr ein 
Gewehr in der Hand. Dieſer Alte war Major Balthaſar von 
Poggenpuhl, der den Kirchhof eine halbe Stunde hielt, bis er 
mit unter den Toten lag. Eben dieſes Bild, wohl in Wuͤrdigung 
ſeines Familienaffektionswertes, war denn auch in einen 
breiten und ſtattlichen Barockrahmen gefaßt, waͤhrend die 
bloß unter Glas gebrachten Lichtbilder nichts als eine Gold⸗ 
borte zeigten. 

Alle Mitglieder der Familie, ſelbſt der in Kunſtſachen etwas 
ſkeptiſche Leo mit einbegriffen, uͤbertrugen ihre Pietaͤt gegen 
den „Hochkircher“ — wie der Hochkirch⸗Major zur Unter⸗ 
ſcheidung von vielen andern Majors der Familie genannt 
wurde — auch auf die bildliche Darſtellung ſeiner ruhmreichen 
Aktion, und nur Friederike, ſo ſehr ſie den Familienkultus mit⸗ 
machte, ſtand mit dem alten, halb angekleideten Helden auf 


18 


Fr eine Art Kriegsfuß. Es hatte dies einfach darin feinen Grund, 


5 daß ihr oblag, mit ihrem alten, wie Spinnweb ausſehenden 


Staublappen doch mindeſtens jeden dritten Tag einmal uͤber 
den uͤberall Berg und Tal zeigenden Barockrahmen hinzu⸗ 
fahren, bei welcher Gelegenheit dann das Bild, wenn auch nicht 
geradezu regelmaͤßig, ſo doch ſehr, ſehr oft von der Wand 
herabglitt und über die Lehne weg auf das Sofa fiel. Es 
wurde dann jedesmal beiſeite geſtellt und nach dem Fruͤhſtuͤck 
wieder eingegipſt, was alles indeſſen nicht recht half und auch 
nicht helfen konnte. Denn die ganze Wandſtelle war ſchon zu 


ſchadhaft, und uͤber ein kleines, ſo brach der eingegipſte Nagel 


wieder aus, und das Bild glitt herab. 

„Gott,“ ſagte Friederike, „daß er da ſo geſtanden hat, nu 
ja, das war ja vielleicht ganz gut. Aber nu fo gemalen, 
es ſitzt nich und ſitzt nich.“ 

Und nachdem ſie dies Selbſtgeſpraͤch gefuͤhrt und die Ofen⸗ 
tuͤr, was immer das letzte war, wieder feſt zugeſchraubt hatte, 


tat ſie Handfeger und Wiſchtuch wieder in den Holzkorb und 


trat leiſe durch die lange Schlafſtube hin ihren Ruͤckzug in die 
Kuͤche an. Es war aber nicht mehr noͤtig, dabei ſo vorſichtig zu 
ſein, denn alle vier Damen waren bereits wach, und Manon 
hatte ſogar den einen nach dem Hof hinausfuͤhrenden Fenſter⸗ 
fluͤgel halb aufgemacht, davon ausgehend, daß vier Grad unter 
Null immer noch beſſer ſeien als eine vierſchlaͤfrige Nacht⸗ und 
Stubenluft. 

Keine Viertelſtunde mehr, ſo kam der Kaffee. Die Damen 
ſaßen ſchon vorn in der warmen Stube, die Majorin auf dem 
Sofa, Thereſe in ihrem Schaukelſtuhl, waͤhrend Manon, einen 
Handwerkszeugkaſten vor ſich, eben dieſen Kaſten nach einem 


etwas längeren Nagel, und zwar für den alten, wieder herab⸗ 


gefallenen „Hochkircher“, durchſuchte. 
„Friederike,“ ſagte die Majorin, „du ſollteſt dich mit dem 


Bilde doch etwas mehr in acht nehmen.“ 


„Ach, Frau Majorin, ich tu es ja, ich ruͤhr ihn ja beinah 
nich an; aber er ſitzt immer fo wadlig... Gott, Manonchen, 
wenn Sie doch bloß mal einen recht langen faͤnden, oder noch 
beſſer, wenn Sie mal ſo nen richtigen Haken einſchlagen koͤnnten. 
In acht nehmen! Gott, ich denke ja immer dran, aber wenn er 
denn ſo mit einmal rutſcht, krieg ich doch immer wieder nen 
Schreck. Un is mir immer, als ob er vielleicht ſeine Ruhe nich 
haͤtte.“ 

„Ach, Friederike, rede doch nicht ſolch dummes Zeug,“ ſagte 
Thereſe halb aͤrgerlich. „Der, gerade der. Als ob der ſeine 
Ruhe nicht haͤtte! Was das nur heißen ſoll! Ich ſage dir, 
der hat ſeine Ruhe. Wenn nur jeder ſeine Ruhe ſo haͤtte. 
Gut Gewiſſen iſt das beſte Ruhekiſſen. Das weißt du doch auch. 
Und das gute Gewiſſen, na, das hat er... Aber wo haft du 
nur wieder die Semmeln her? Die ſehen ja wieder aus wie 
erſchrocken, viel erſchrockener als du. Ich mag nicht die Budiker⸗ 
ſemmeln. Warum gehſt du nicht zu dem jungen Karchow, das 
iſt doch ein richtiger Baͤcker.“ 

Es war dies eine zwiſchen dem Maͤdchen und dem Fraͤulein 
jeden dritten Tag wiederkehrende Meinungsverſchiedenheit, 
und Friederike, die vollkommene Redefreiheit hatte, wuͤrde auch 
heute nicht geſchwiegen und ihren alten Satz, „daß man es mit 
den Kellerleuten nicht verderben duͤrfe“, tapfer verteidigt haben, 
wenn es nicht in dieſem Augenblick draußen geklopft haͤtte. 
„Der Brieftraͤger,“ riefen alle drei Schweſtern, und gleich 
danach erſchien auch Friederike wieder im Zimmer und brachte 
die Poſtſachen: ein Zeitungsblatt unter Kreuzband, eine Holz⸗ 
und Torfanzeige und einen richtigen Brief. Die Holz⸗ und 
Torfanzeige flog gleich aufs Ofenblech, das an Sophie adreſſierte 
Zeitungsblatt, das wahrſcheinlich eine Rezenſion einiger ihrer 
ausgeſtellten Aquarellbilder enthielt, wurde beiſeite geſchoben, 
und nur der Brief erregte allgemeine Freude. „Von Leo!“ 
riefen die Schweſtern und reichten den Brief der Mutter. 


20 


Diefe gab ihn aber an Thereſe zuruck und ſagte: „Lies du, 
Thereſe. Ein ſo guter Junge. Aber ich kriege immer einen 
Schreck. Immer will er was. Und nun iſt eben erſt Weih⸗ 
nachten geweſen und Neujahr und die Miete ...“ 

„Ach, Mutter, du aͤngſtigſt dich immer gleich ſo. Man ſieht 
doch, daß du keine Soldatentochter biſt.“ 

„Nein, bin ich nicht. Und iſt auch recht gut ſo. Wer ſollte 
ſonſt das bißchen zuſammenhalten?“ 

„Wir.“ 

„Ach, ihr! ... Aber nun lies, Thereſe. Mir ſchlaͤgt ordent⸗ 
lich das Herz.“ 

„. . . Liebe Mama! Weihnachten war es nichts. Urlaub 
haͤtte mir das Regiment vielleicht gegeben, aber das Reiſegeld! 
Sie reden immer ſo viel jetzt von billigen Fahrpreiſen, aber ich 
finde ſie viel zu hoch, ganz unnatuͤrlich hoch. Und da Wendelin 
auch ſagte, 's geht nich, Leo, fo ging es nicht, und ich habe 
unten bei Schlaͤchtermeiſter Funke, meinem Wirte, wie ihr 
wißt, die Weihnachtsbeſcherung mit angeſehen. Alles war ſehr 
geruͤhrt, auch Funke. Man ſollte es nicht fuͤr moͤglich halten. 
Denn gerade in der Weihnachtszeit wurde immer geſchlachtet, 
und ich konnte das Gegietſche der armen Dieſter mitunter 
gar nicht mehr mit anhoͤren, und Funke immer in Perſon 
dabei. Und nun doch geruͤhrt. Übrigens war die friſche Wurſt 
und beſonders der Preßkopf ganz vorzuͤglich. In bezug auf 
Verpflegung bleibt hier in Thorn uͤberhaupt nichts zu wuͤnſchen 
übrig, nur der Geiſt darbt und das Herz darbt. Überhaupt 
ſcheint darben mein Los. Ach, Mutter, warum biſt du keine 
geborene Bleichroͤder? ...“ 

„Empoͤrend,“ unterbrach hier Thereſe ihre Vorleſung. 
„Wir haben ſchon Manon mit ihren ewigen Bartenſteins, und 
nun faͤngt Leo auch noch an.“ 

„Daß wir Bartenſteins haben, iſt ganz gut. Lies lieber 


weiter.“ 


21 


„. . . Alſo Heilig Abend war es nichts. Indeſſen das Jahr 
hat auch noch andre große Tage. Der groͤßte aber iſt der 
4. Januar, wo meine gute Alte, geborene Puͤtter, geboren 
wurde. Dieſer Tag iſt uͤbermorgen und ich werde geſtiefelt 
und geſpornt antreten, um meine Gluͤckwuͤnſche perſoͤnlich 
uͤberbringen zu koͤnnen.“ 

„Nicht zu glauben. Weihnachten kein Geld und zwei Tage 
nach Neujahr, wo doch die vielen Rechnungen kommen, will er 
die teure Reiſe machen.“ 

„Es wird ſich ja wohl alles aufklaͤren, Mama,“ ſagte Manon. 
„Und mutmaßlich noch in dieſem Briefe. Hoͤre nur weiter.“ 

m . . Es geſchehen nämlich immer noch Zeichen und Wun⸗ 
der, und mitunter iſt es mir, als ob der Unglauben und alle 
ſolche haͤßlichen Zeiterſcheinungen abgewirtſchaftet haͤtten. Auch 
der Adel kommt wieder obenauf, und ganz zu oberſt der arme 
Adel, das heißt alſo die Poggenpuhls. Denn daß wir dieſen 


in einer Art von Vollendung, oder ſag ich Reinkultur, dar⸗ 


ſtellen, daruͤber kann kein Zweifel ſein. Aber zur Sache, wie 
die Parlamentarier ſagen. Und ſo vernimm denn, am Silveſter⸗ 
abend noch ein Bettler (allerdings ein gluͤcklicher, denn wir 
brachten es im Kaſino auf ſieben Bowlen Großformat) und 
am ı. Januar früh ein Gott, ein Kroͤſus. Kroͤſus iſt namlich 
immer das Hoͤchſte, was man auch Klimar nennt. Schon um 
zehn klopft es, ich reiße mich aus meinem Morgentraum und 
empfinde einen gewiſſen bleiernen Zuſtand, aber nicht auf 
lange. Denn wer ſtand vor mir? Oktavio? Nein, nicht 
Oktavio. Wir wollen ihn heute lieber Wendelin nennen. Und 
was er ſagte, war das Folgende: ‚Leo‘, ſagte er,, du haft Gluͤck. 
Geldſchiff angekommen.“ 

‚Für mich?“ frag ich. 

„Nein, fuͤr dich nicht, wenigſtens nicht unmittelbar. Aber 
doch fuͤr mich. Das Militaͤrwochenblatt hat mir heute fruͤh das 
Honorar geſchickt. 


22 


be e 


Nn 


Viel? unterbrach ich ihn wieder in hoͤchſter Erregung. 
„Das Militaͤrwochenblatt ſchickt immer viel, antwortete er 


ruhig und legte dabei drei Zwanzigmarkſcheine vor mich hin. Ich, 


geblendet, als ob es nicht Scheine, ſondern das reine pure Gold 
waͤre, will mich blindlings und dankbar auf ihn losſtuͤrzen, aber 
er wehrt mich vornehm ab und ſagt nur: ‚Alles deine, Leo; aber 
nicht zum Verkneipen. Übermorgen früh reiſt du nach Berlin.“ 

„Der gute Wendelin! Er ſchickt ihn dir, weil er weiß, 
daß er dein Liebling iſt,“ unterbrach hier Manon und ſtreichelte 
der Mama die Haͤnde. Thereſe aber las weiter: „.. Vier 
Uhr nachmittags biſt du da, benimmſt dich nett und hilfſt am 


andern Morgen den Geburtstag mitfeiern. Nach Kaiſers Ge⸗ 


burtstag kommt Mamas Geburtstag. Das iſt Poggenpuhl⸗ 


ſcher Katechismus. Und nun zieh dich an und geh eine Stunde 


ſpazieren. Denn du ſtehſt da wie Silveſter in ſeiner letzten 


Stunde.“ Unter dieſen Worten verließ er mich wie ein Fuͤrſt. 


Und ich werde tun, wie er befohlen hat, und Dienstag nach⸗ 
mittag bei Euch eintreffen. Vier Uhr. Tout à vous ma Reine 
meère. Oein gluͤcklicher, verdrehter, wohlaffektionierter Leo J.“ 

Die beiden jüngeren Schweſtern klatſchten in die Haͤnde, 
ja ſelbſt Thereſe, ſo viel ſie an dieſem Übermut auszuſetzen 
hatte, freute ſich des Beſuchs. Nur die Mutter ſagte: „Ja, 
da ſoll ich mich nun freuen. Aber kann ich mich freuen? Her⸗ 
kommen wird er ja wohl gerade mit dem Geld, aber wenn er hier 
iſt, muͤſſen wir ihm doch ein paar gute Tage machen, und wenn 
er auch beſcheiden in ſeinen Anſpruͤchen iſt, ſo muß er doch den 
dritten Tag wieder zuruͤck und dafuͤr muͤſſen wir aufkommen.“ 
„Sprich doch nicht immer davon,“ ſagte Thereſe. 

„Ja, Thereſe, du denkſt immer, ein Livreediener wird dir eine 


* Kaſſette bringen mit der Aufſchrift ‚dem tapferen Haufe 
Poggenpuhl', aber das find alles Maͤrchengeſchichten, und der 


Mann am Schalter, der die Fahrkarten verkauft, iſt eine un⸗ 


erbittliche Wirklichkeit.“ 


23 


„Ach, Mama,“ fagte Sophie, „damit mußt du dir die 
Vorfreude nicht verderben. Es geſchehen noch Zeichen und 
Wunder, ſo hat er geſchrieben, und wenn ſie nicht geſchehen, 
ſo laß ich mir auf meine letzten Bilder einen Vorſchuß geben, 
und wenn auch das nicht geht, fo ...“ 

„Nun, ſo haben wir immer noch die Zuckerdoſe,“ warf 
Manon ein. 

„Ja, die ſoll jedesmal aushelfen. Aber mit einemmal iſt ſie 
doch weg.“ 

„Was ſchließlich auch nichts taͤte,“ fuhr Manon beſchwich⸗ 
tigend fort. „Dann ſchenken uns Bartenſteins eine neue; 
Frau Bartenſtein ſagte mir noch neulich: ‚Liebe Manon, 
haben Sie denn gar keinen Wunſch? Ja, Mama, ſo liegt es, 
Gott ſei Dank, und ich bin nur traurig, daß ich morgen abend, 
wenn Leo kaum angekommen iſt, auf die Polterabendprobe 
muß. Aber am Ende koͤnnt ich ihn mitnehmen. Ich habe ſchon 
lange meine Gedanken daruͤber und moͤchte mich verwetten, 
daß Flora ſich aufrichtig freuen wuͤrde.“ 

„Du vergißt immer, daß er des Koͤnigs Rock traͤgt.“ 

„Ach, Thereſe, das iſt ja kleinlich und altmodiſch und ganz 
überholt. Unſer Kronprinz iſt Kronprinz und trägt auch des 
Koͤnigs Rock, und wenn er noch nicht bei Bartenſteins war, ſo 
war er doch wo anders. Aber ebenſo.“ 

„Nun, wir werden ja ſehen,“ ſagte Thereſe, die zwar kritiſch 
zu den Bartenſteins ſtand, aber ſchließlich auch froh war, daß 
ſie exiſtierten. 


Drittes Kapitel 


Der naͤchſte Tag kam. Als es am Nachmittag ſchon 
daͤmmerte, hielt eine Droſchke vor dem Hauſe, und Mutter 
und Toͤchter ſahen alsbald vom Fenſter aus, wie Friederike 


24 


} 
/ 


nach vergnuͤglicher Begrüßung mit Leo den kleinen Offtziers⸗ 
koffer vom Kutſcherbock nahm und an Agnes Nebelung vorbei, 
— die, weil ſie den Leutnant gern ſehen wollte, dicht neben dem 
Trottoir Aufſtellung genommen — auf die Haustür zuſchritt. 
Leo folgte. Schon auf der von den Schweſtern en Echelon 
beſetzten Treppe wurden Kuͤſſe gewechſelt, oben aber ſtand die 
Mama. „Tag, meine gute Alte,“ und nun wieder ein Kuß. 
Allerhand konfuſe Saͤtze, die gar nicht paßten, flogen hin und 
her, und nun trat Leo von der guten Stube her in das ein⸗ 
fenſtrige Wohnzimmer, legte Paletot und Saͤbel ab, zupfte 
vor dem Spiegel ſeinen etwas raufgerutſchten Waffenrock 
zurecht und ſagte, waͤhrend er ſich mit einem ſtrammen Ruck 
vom Spiegel her umdrehte: „Na, Kinder, da waͤr ich mal 
wieder. Wie findet ihr mich?“ 

„O, wundervoll.“ 

Danke ſchoͤn. So was tut immer wohl, wenn's auch nicht 
wahr iſt; man kann beinahe ſagen, es erquickt. Aber apropos, 
Erquickung. Trotz der friſchen Luft, ich bin koloſſal durſtig; 
ſeit ſieben Stunden nichts als eine Sardellenſemmel; wenn 
ihr ein Glas Bier haͤttet.“ 

„Gewiß, gewiß. Friederike kann ein Seidel echtes holen.“ 

„Nein, nein, nichts holen. Und wozu? Waſſer tut's auch,“ 
und er ſtuͤrzte mit einem Zug ein Glas Waſſer hinunter, das 
ihm Mama gereicht hatte. „Brr. Aber gut.“ 

„Du biſt ſo haſtig,“ ſagte Manon. „Das bekommt dir 
nicht. Ich denke, du trinkſt nun erſt eine Taſſe Kaffee. Wir 
haben jetzt halb fuͤnf. Und um ſieben dann einen Imbiß.“ 

„Sehr gut, Manon, ſehr gut. Nur die Reihenfolge laͤßt 
fi vielleicht ändern. Das Waſſer hab ich intus; nehme ich 
nun auch noch gleich den Kaffee, fo gibt das zuviel Fluͤſſigkeit, 
nutzloſe Magenerweiterung, alſo ſo gut wie Schwaͤchung. 
Und man braucht ſeine Kraͤfte, oder, ſagen wir, das Vaterland 
braucht ſie.“ 


25 


„Du meinft alfo ...“ 


„Ich möchte mir zu meinen erlauben: Umkehr der Wiſſen⸗ 


ſchaft; erſt Imbiß, dann Kaffee. Denn wenn mein Durſt groß 
war, mein Hunger kommt gleich danach. In ſieben Stun⸗ 
N 

„Das haſt du ja ſchon geſagt.“ 

„Ja, Wahrheiten draͤngen ſich immer wieder auf. Nun ſagt, 
was habt ihr?“ 

„Eine Ente.“ 

„Kapital.“ 

„Aber ſie haͤngt noch oben am Bodenfenſter und iſt auch 
noch alles dran und drin. Alſo eine Sache von zwei Stunden...“ 

„Etwas lange.“ b 

„. . . Doch ich glaube, ich weiß Rat. Wir nehmen die Leber 
heraus, und in einer Viertelſtunde haſt du ſie gebraten auf dem 
Teller. Willſt du ſie mit Apfeln oder Zwiebel?“ 

„Mit beiden. Nur nichts ablehnen, wenn es der Anſtand 

nicht abſolut erfordert.“ 

„Du kennſt alſo doch Fälle,” ſagte Thereſe. 

„Natuͤrlich kenn ich Faͤlle, natuͤrlich. Aber nun ſage mir, 
liebe Alte, wie geht es dir eigentlich? Immer noch Schmerzen 
hier herum?“ 

„Ja, Leo, jede Nacht.“ 

„Weiß der Himmel, daß die Doktors auch gar nichts 
koͤnnen. Sieh hier meinen Zeigefinger, neulich umgeknickt, 
das heißt, 's iſt ſchon ein Vierteljahr, und immer dieſelbe 
Schwaͤche. Vielleicht muß ich den Abſchied nehmen.“ 

„Ach, rede doch nicht ſo,“ unterbrach Thereſe. „Die Poggen⸗ 
puhls nehmen nicht den Abſchied.“ 

„Dann kriegen ſie ihn.“ 

„Sie kriegen ihn auch nicht. Der da“ (und ſie wies auf den 
„Hochkircher“) „iſt unvergeſſen und der Sohrſche auch und 
Papa auch. Der Kaiſer weiß, was er an uns hat.“ 


26 


9 = F 

Ja, Thereſe, was hat er an uns?“ 

„Er hat unſre Geſinnung und die Gewißheit der Treue 

bis auf den letzten Blutstropfen.“ 

| „Nun ja, ja, das hat er... Aber fage, Mutter, haft du 
denn ſchon boͤten laſſen?“ 

„Boͤten?“ 

„Ja, boͤten. Boͤten iſt puſten und beſprechen oder ſo was 

wie mit Sympathie. Das hilft immer. Wir haben da eine 
alte Polſche, fo wie die lospuſtet, iſt es weg... Apropos, 
iſt denn noch Weihnachtsmarkt?“ 

„Ich glaube, er iſt noch oder wenigſtens ein bißchen.“ 

„Ein paar Buden werden ja wohl noch ſtehen, und da 
muͤſſen wir hin, Kinder. ‚Here Iraf, einen Dreier“, fo was 
Klaſſiſches will ich mal wieder hoͤren. Und dann gehen wir zu 
Helms und trinken Grog oder Schokolade mit Schlagſahne 
und dann in die Reichshallen.“ 

„O, das iſt ein gluͤcklicher Einfall,“ ſagte Manon. „Nicht 
wahr, Sophie? Du biſt fo ſtill; ſprich doch auch... Für 
Thereſe wird es wohl nicht paſſen, ſie wird die Reichshallen 
nicht vornehm genug finden. Aber zwei Schweſtern iſt auch 
genug, und ich freue mich herzlich. Nur mußt du's ſo ein⸗ 
richten, daß wir etwa um neun bei Bartenſteins ſind oder doch 
nicht viel ſpaͤter. Ja, Leo, bis in die Voßſtraße mußt du uns 
dann bringen.“ 

„Gern. Aber wozu? Was iſt denn da los?“ 

„Polterabendprobe. Seraphine Schweriner, eine Couſine 

von Flora, verheiratet ſich in vierzehn Tagen, und da haben 
wir ſeit Weihnachten immer Proben. Ich ſpiele mit, ſogar 
zweimal, erſt Quirlmaͤdchen, dann Slowake mit Mauſefallen; 
ich ſoll reizend ausſehen.“ 

„Natuͤrlich.“ 

Und Sophie hat ein Transparent gemalt und den Prolog 
gedichtet. Aber ſie will ihn nicht ſprechen.“ 


27 


rene 
* I. 


„Das mußt du dann am Ende auch noch.“ 

„Vielleicht; aber jedenfalls nicht gern. Prolog iſt immer 
zu langweilig. Jeder iſt immer froh, wenn es damit vorbei iſt. 
Aber ob ja oder nein, davon ſprechen wir unterwegs, voraus⸗ 
geſetzt, daß ſich unterwegs uͤberhaupt ein Geſpraͤch fuͤhren laͤßt. 
Denn man muß jetzt ſehr aufpaſſen; es iſt abends immer ſo 
neblig. Überhaupt, Berliner Luft ...“ 

„Ach, rede doch nicht ſo was, Manon. Berlin hat die feinſte 
Luft von der Welt. Ich kann dir ſagen, daß ich froh bin, mal 
wieder ein bißchen drin herumſchnuppern zu koͤnnen. Nebel; 
Nebel iſt ganz egal, Nebel iſt was Außerliches, und alles Außer⸗ 
liche bedeutet nichts. Innen ſteckt es, innen lebt die ſchaffende 
Gewalt, immer friſch, froh und frei; — ‚fromm' ſchenk ich mir, 
verzeih, Thereſe ... Gott, unſer Neſt da, das hat die reinſte 
Luft, immer Oſtwind und dergleichen, und wer nicht feſt auf 
der Boſt iſt,“ und er gab ſich einen Schlag auf die Bruſt, 
„der hat eine Lungenentzuͤndung weg, er weiß nicht wie. Alſo 
wir haben die reinſte Luft, keine Frage. Und doch ſag ich euch, 
immer ſtickig, immer eng, immer klein. Wenn der Oberſt 
nieſt, hoͤrt es der Poſten vorm Gewehr und praͤſentiert. Greu⸗ 
lich. Wenn nicht das bißchen Jeu waͤre und die paar Juden⸗ 
maͤdchen ...“ 

„Aber Leo...“ 

„Oder die paar Chriſtenmaͤdchen; bloß die Juͤdinnen ſind 
huͤbſcher.“ 

„Ihr muͤßt aber doch geiſtige Beſchaͤftigung haben.“ 

„J bewahre. Dazu iſt gar keine Zeit. Ich uͤberſchlage bloß 
dann und wann meine Schulden und rechne und rechne, wie 
ich wohl rauskomme. Das iſt meine geiſtige Beſchaͤftigung, 
ganz ernſthaft, beinahe ſchon wiſſenſchaftlich.“ 

„Gott, Leo,“ ſagte die Mutter und ſah ihn aͤngſtlich an. 
„Gewiß biſt du bloß deshalb gekommen. Iſt es denn wie⸗ 
der viel?“ 


28 


„Viel, Mutter? Viel iſt es nie. Viel kann es überhaupt 
nie ſein. Denn ſo dumm iſt keiner. Viel, das fehlte auch noch. 
Aber wenig iſt es, und bei allem Gluͤck, daß es ſo wenig iſt, 
iſt das auch grade wieder das Argerlichſte, ja das Alleraͤrger⸗ 
lichſte. Denn man ſagt ſich: ‚Gott, es iſt fo wenig, dafür kann 
man ja gar nichts gehabt haben und hat auch nicht, und dann 
kommt erſt das andre, daß man's, trotzdem es ſo wenig iſt, 
doch nicht begleichen kann. Keiner, der einem hilft, keine Seele. 
Wenn ich mir da die andern anſehe! Jeder hat einen Onkel...“ 

„O, den haben wir auch,“ unterbrach Sophie. „Und Onkel 
Eberhard iſt ein Ehrenmann ..“ 

„Zugeſtanden. Aber Onkel Eberhard, ſo gut er iſt, er 
legitimiert ſich nicht als Onkel oder wenigſtens nicht genug. 
Und dann, Kinder, wer keinen Onkel hat, der hat doch wenig⸗ 
ſtens einen Großvater oder einen Paten oder eine Stiftsdame. 
Stiftsdame iſt das beſte. Die glauben alles, jede Geſchichte, 
die man ihnen vorerzaͤhlt, und wenn ſie auch ſelber nicht viel 
haben, ſo geben ſie doch alles, ihr letztes.“ 

„Ach, Leo, rede doch nicht ſo. Sie koͤnnen doch nicht alles 
geben.“ 

„Alles, ſag ich. Denn was eine richtige Stiftsdame iſt, 
die kann auch alles geben, weil ſie gar nichts braucht. Sie hat 
Wohnung und Fiſch und Wild, und die Puthuͤhner laufen im 
Hof herum, und die Tauben ſitzen auf dem Dach, und in dem 
großen Gemuͤſegarten, den ſie natuͤrlich ſelber beſorgen (denn 
ſie haben ja nichts zu tun), da ſteht immer irgendwo ein Kohl⸗ 

rabi oder eine Mohrruͤbe, und in der Küche iſt immer Feuer, 
weil ſie frei Holz haben. Und deshalb, ja, ich muß es noch 
einmal ſagen, deshalb koͤnnen ſie alles geben, weil ſie alles 
haben und nichts brauchen.“ 
AUuAber ſie muͤſſen ſich doch kleiden.“ 
„Kleiden? J bewahre. Die kleiden ſich nicht. Sie haben 
ein Kleid, und das dauert dreißig Jahre. Sie ziehen ſich bloß 
6 29 


2 
ic 


an; natürlich, denn auf Eva im Paradieſe find fie nicht ein; 
gerichtet ... Aber da kommt ja die Leber; riecht koͤſtlich, delikat. 
Und nun, Kinder, wollen wir teilen: Mutter Mittelſtuͤck, weil 
das das weichſte iſt, Thereſe rechte Spitze, ich linke Spitze, 
Sophie und Manon“ 

„Ach, Leo, mach doch keine Komoͤdie. Du weißt ja doch, 
daß du das Ganze kriegſt. So warſt du immer, du willſt dich 
nett machen, wo du nicht beim Worte genommen wirft.” 

„Gib hier nicht Aufſchluͤſſe uͤber meinen Charakter, Sophie, 
gib mir lieber eine Semmel zu der Leber, ſie iſt ſonſt zu fett. 
Und mit der Verwandtſchaft hab ich doch recht; keine Stifts⸗ 
dame, keine Muhme, keine Baſe, keine Tante, kaum eine Cou⸗ 
ſine, wenigſtens keine richtige — man moͤchte raſend werden, 
ſagt Mephiſto irgendwo. Kennſt du Mephiſto, Mutter?“ 

„Natuͤrlich kenn ich ihn. Ihr Poggenpuhls denkt immer, 
ihr habt die Weisheit allein und alles wie durch Inſpiration. 
Denn von der Schule her habt ihr doch eigentlich gar nichts. 


Und nun gar du, Leo. Wenn ich an deine Zenſuren denke. 


Mit Wendelin war das was andres. Aber warum? weil er 
ins Puͤtterſche ſchlaͤgt.“ 

„Ach, Mutter, du biſt ſchon die Beſte; wenn wir dich nicht 
hätten! Und ich glaube auch beinahe, daß uns die Puͤtters 


über find. Bloß in einem find fie uns ganz gleich, fie haben 


auch nichts, und das iſt mein Schmerz. Ach, Mama, nirgends 
Geld, nirgends Ruͤckendeckung, und dazu jung und ein Leut⸗ 
nant; — eine ganz verdeubelte Geſchichte, und dabei hab ich 
euch aufgefordert, mit zu Helms zu kommen und dann in die 
Reichs hallen.“ 

„Er iſt unverbeſſerlich,“ lachte Sophie. „Was ſoll das nun 
wieder! Erſtens biſt du unſer Gaſt, der nichts als die Honneurs 
zu machen braucht. Und das Ritterliche wirſt du doch wohl fuͤr 
uns uͤbrig haben.“ 


„Gott, Maͤdels, ſeid ihr gut. Und ſo aufgeklaͤrt und be⸗ 


30 


e 


greift, daß es nicht anders ſein kann, und ich bleibe in eurer 
Liebe und Achtung. Das hoffe ich wenigſtens, ſonſt wuͤrde ich 
es nicht annehmen. Und nun, denk ich, gehen wir. Mama, 
du kommſt doch mit?“ 

„Mein, Leo. Eine Perſon mehr macht ſchon immer was 
aus. Und dann mein Mantel, wenn wir in einem Lokal ſitzen, 
iſt auch nicht mehr gut genug.“ 

V uAch, das iſt ja gleich, Mutter.“ 

Hund dann hab ich fo leicht das Reißen hier, und man weiß 
nie, welchen Platz man kriegt und ob es nicht gerade zieht. 
; Und wenn ich den Zug kriege, dann krieg ich auch meinen 
Rheumatismus und muß ins Bett. Und wenn ich den Rheu⸗ 
matismus nicht kriege, dann krieg ich meine Kolik, und das iſt 
noch ſchrecklicher.“ 

3 


Viertes Kapitel 


Leo, der den Weihnachtsmarkt und Helms und die Reichs⸗ 
hallen wirklich beſucht und ſich dann ſchließlich vor dem Barten⸗ 
ſteinſchen Hauſe von den beiden juͤngeren Schweſtern, die er 
bis dahin begleitet, verabſchiedet hatte, war bald nach neun 
wieder zu Haus, wo er nun, ſo ging wenigſtens ſein Plan, 

mit der Mutter und Thereſe weidlich plaudern und uͤber ſeine 

Berliner Eindruͤcke berichten wollte, denn er gehoͤrte zu den 
Gluͤcklichen, die, ſowie fie den Fuß auf die Straße ſetzen, immer 
was erleben oder ſich wenigſtens einbilden, was erlebt zu haben. 
Er traf es daheim aber anders als erwartet: Thereſe war in 
die Stadt gegangen, um noch ein paar Kleinigkeiten fuͤr den 
Geburtstagstiſch der Mama zu kaufen, und dieſe ſelbſt, wie er 
von Friederike gleich auf dem Korridor erfuhr, war ſchon zu 
Bett. „Hm,“ brummte er und ſchickte ſich, weil ihm nichts 
andres übrigblieb, eben zu ſtillem Meditieren in einer Sofa⸗ 


317 


ecke an, als die Mama ihm ſagen ließ, er folle nur an ihr Bett 
kommen und ihr was erzaͤhlen. Das war ihm denn allerdings 
erheblich lieber, als, wie er ſich ausdruͤckte, „unter Betrachtung 
ſeines Innern“ auf Thereſe zu warten. 

„Iſt dir ſchlecht, Mama?“ 

„Nein, Leo, ſchlecht eigentlich nicht. Ich habe mich nur 
hingelegt, weil ich morgen doch ein bißchen bei Kraͤften ſein 
will. Nimm dir einen Stuhl und ruͤcke ran und dann hole die 
Lampe, daß ich dich immer vor mir habe. Denn du haſt ein 
gutes Poggenpuhlſches Geſicht, und wenn dann was kommt, 
was nicht ſtimmt, ſo kann ich es dir immer gleich anſehen und 
mir meinen Vers danach machen.“ 

„Ach, Mama, du denkſt immer, ich mache Flauſen; aber 
es iſt nicht ſo ſchlimm damit. Ich habe nicht mal Talent dazu; 
ich uͤbertreibe bloß ein bißchen.“ 

„Iſt ſchon recht. Und du warſt auch immer mein Liebling, 
und die andern haben es dir auch gegoͤnnt. Aber du biſt ſo 
leichtſinnig und denkſt immer, ‚es wird ſich ſchon finden‘. Und 
ſieh, das aͤngſtigt mich. Was finden! Wie ſoll ſich denn was 
finden, wo ſoll es denn herkommen? Es iſt ja doch eigentlich 
ein Wunder, daß es noch immer ſo gegangen iſt.“ 

„Ja, Mutter, das iſt es ja gerade; da ſteckt ja gerade die 
Hoffnung, und ich muß beinahe ſagen die Zuverſicht. Wenn 
das Wunder geſtern war, warum ſoll es nicht auch heute ſein 
oder morgen oder uͤbermorgen.“ 

„Das klingt ganz gut, aber es iſt doch nicht richtig. Sich 
zu Wunder und Gnade ſo ſtellen, als ob alles ſo ſein muͤßte, 
das verdrießt den, der all die Gnade gibt, und er verſagt ſie 
zuletzt. Was Gott von uns verlangt, das iſt nicht bloß ſo hin⸗ 
nehmen und dafuͤr danken (und oft oberflaͤchlich genug), er 
will auch, daß wir uns die Gnadenſchaft verdienen oder wenig⸗ 
ſtens uns ihrer wuͤrdig zeigen und immer im Auge haben, nicht 
was ſo vielleicht durch Wunderwege geſchehen kann, ſondern 


32 


was nach Vernunft und Rechnung und Wahrſcheinlichkeit ges 
ſchehen muß. Und auf ſolchem Rechnen ſteht dann ein Segen.“ 

„Ach, Mama, ich rechne ja immerzu.“ 

„Ja, du rechneſt immerzu, freilich, aber du rechneſt nach⸗ 
her, ſtatt vorher. Du rechneſt, wenn es zu ſpaͤt iſt, wenn du 
bis uͤber den Kopf drin ſteckſt, und dann willſt du dich heraus⸗ 
rechnen und rechneſt dich bloß immer tiefer hinein. Was dir 
nicht paßt, das ſiehſt du nicht, willſt du nicht ſehen, und was dir 
ſchmeichelt und gefaͤllt, daraus machſt du Wahrſcheinlichkeiten. 
Die Menſchen haben ſo viel fuͤr uns getan, auch fuͤr dich, und 
nun mein ich, heißt es: ‚Hilf dir felber‘. Immer bloß, wir find 
ja die Poggenpuhls‘, damit machen wir uns bloß bedruͤcklich, 
und zuletzt ſind wir Querulanten, was ich doch nicht erleben 
moͤchte.“ 

„Davon ſind wir weitab, Mama.“ 

„Nicht ſo weit, wie du denkſt. Onkel Eberhard, der ein ſehr 
feiner und ſehr guͤtiger Mann iſt, ich muß ihn wirklich einen 
echten Edelmann nennen, wird allmaͤhlich auch reſerviert und 
ungeduldig. Er ſagt es nicht gerade heraus, weil er eben guͤtig 

iſt, aber es ſteht doch leiſe zwiſchen den Zeilen.“ 

„Ja, der Onkel, der alte Streitpunkt. Ich bitte dich, Mama, 
er tut aber doch auch wirklich zu wenig und alles ſo bloß um 
Gottes willen, und er muͤßte doch eigentlich denken: „Ich habe 
meine Zeit gehabt, nun find die andern dran‘, Er gibt wohl 
dann und wann, gewiß, aber was er ſo auf dem Familienaltar 
opfert, ſteht in keinem rechten Verhaͤltnis, weder zu ſeinen Ein⸗ 
nahmen, noch zu ſeinen Ermahnungen. Er koͤnnte ſich kuͤrzer 
faſſen und mehr geben. Hat er doch ein rieſiges Gluͤck gehabt 
und ſitzt nun uͤber ein Dutzend Jahre ſchon in der Wolle, oder, 
wie manche ſagen, in einer guten Aſſiette.“ 

„Daß du nicht davon abzubringen biſt und nicht wiſſen 

willſt, wie's mit dem Onkel eigentlich liegt. Er hat die reiche 
Witwe geheiratet und wohnt in einem Schloß, und wenn ſeine 


Ws 33 


ar e 


Frau den Prinzen Albrecht oder einen von den Karolaths ein?? 
laden will, dann iſt das ein großes Weſen, und der halbe 
niederſchleſiſche Adel ſitzt dann mit zu Tiſch, und es ſieht dann 
aus, als gaͤbe Onkel Eberhard das Feſt. Aber er gibt es nicht, 

ſie gibt es; er gibt nur den Namen dazu her und auch das 
kaum, denn viele, wenn ſie hinter dem Ruͤcken der Tante 
ſprechen, nennen fie noch immer bei dem Namen ihres erſten 
Mannes. Der war ſchleſiſch und ein ſehr vornehmer Mann, 
vornehmer als die Poggenpuhls ... das müßt ihr euch nun ſchon 
gefallen laſſen, daß es noch Vornehmere gibt ... Ich ſage dir, 
ſo gut ſie iſt, ſie haͤlt ihn trotzdem knapp, und er hat nicht viel 
mehr als ſeine Generalspenſion, von der er noch alte Schulden 
bezahlen muß...“ 

„. . Alte Schulden! Siehſt du, Mama, da ſagſt du's nun 
ſelbſt. Auch der alſo. Und iſt doch General geworden und hat 
nun eine reiche Frau ...“ 

„. .. Wovon er alte Schulden bezahlen muß,“ wiederholte 
die Mama, ohne ſeiner Zwiſchenrede weiter zu achten. „und 
da bleibt ihm nur ein Taſchengeld.“ 1 

„Aber ein gutes ...“ 1 

„Vielleicht, oder fagen wir gewiß. Und wenn er trotzdem 
damit zu Rate haͤlt, ſo liegt es wohl auch daran, daß er dir 
mißtraut oder, wenn nicht er, daß die Frau dir mißtraut, 
und daß deren Einfluß ihn beſtimmt.“ 

„Das iſt es ja eben, was einen aͤrgert, dieſer au 
Weibereinfluß. Und dann, Mama, von mir will ich am Ende 
nicht reden, ich bin vielleicht enfant perdu; meinetwegen. 
Aber Wendelin, dieſer Muſterknabe, wenn ich meinen Herrn 
Bruder ſo nennen darf, an dem muͤßte er doch wenigſtens ſeine 
Freude haben und ſogar die Frau Tante. Da liegt doch die 
Knauſerei ganz deutlich zutage.“ 

„Spricht Wendelin ebenſo?“ 1 

„Nein. Der nicht, der braucht es auch nicht. Wendelin, 


34 


Br 
der das Talent hat, bei feiner Waſſerkaraffe ſich Herr von 
ungezaͤhlten Welten zu fühlen, Wendelin macht auch fo feinen 
N Weg. Aber auch fuͤr ihn iſt doch ein Unterſchied. Es iſt nun 
mal was andres, ob man ſeinen Weg ſpielend macht oder in 
ewiger Aſkeſe. Die mit Aſkeſe haben meiſtens einen Knacks 

weg; — fie werden berühmt oder koͤnnen es wenigſtens werden, 

aber auch wenn ſie beruͤhmt ſind, wirken ſie meiſtens wie kleine 

Schulmeiſter. Moͤglich, daß Wendelin eine Ausnahme macht.“ 
„H Glaubſt du denn überhaupt und mit einer Art von Zus 
verſicht, daß etwas Hoͤheres aus ihm werden wird?“ 

„Gewiß, Mutter. Kein halbes Jahr, ſo kommt er in den 
Generalſtab. Was er uͤber Skobeleff geſchrieben, hat Aufſehen 
gemacht. Und dann noch ein Jahr oder zwei, dann ſchicken ſie 
ihn nach Petersburg, und da heiratet er, ſo nehme ich vor⸗ 
laͤufig an, eine Puſſupoff oder eine Dolgorucka; die haben alle 
wenigſtens zehntauſend Seelen und Bergwerke mit Diamanten. 
Was meinſt du dazu? Kein übler Blick in die Zukunft. Zu⸗ 
gegeben, nicht wahr? Aber wenn der Onkel anders waͤre oder 
meinetwegen auch die Tante — doch von der koͤnnen wir es 
nicht verlangen, denn ſie iſt bloß angeheiratet und war eine 
„Bourgeoiſe“, was immer ſchlimm iſt; du biſt doch wenigſtens 
eine „Buͤrgerliche“ — ja, dann wäre er ſchon da, dann wär er 
ſchon in Petersburg und ich waͤre ſchon attachiert und ginge 
mit in den Kaukaſus oder nach Merw oder nach Samarkand, 
und all das unterbleibt oder vertagt ſich wenigſtens grauſamer⸗ 
weiſe, bloß weil kein Vorſpann da iſt, weil die Goldfuͤchſe 
fehlen.“ 

„Gott, Leo, wenn man dich ſo hoͤrt, ſo ſollte man glauben, 
du koͤnnteſt alles haben, wenn ſich bloß der Wind ein bißchen 
drehen wollte. Phantaſien, Plaͤne, ſo warſt du ſchon als kleiner 
Junge.“ 

VM Ja, Mutter, fo muß man auch fein, wenigſtens unſereiner. 
Wer was hat, nun ja, der kann das Leben ſo nehmen, wie's 


ve‘: 
A 


“4 


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zart 


wirklich iſt, der kann das fein, was fie jetzt einen Realiſten 
nennen; wer aber nichts hat, wer immer in einer Wuͤſte Sahara 
lebt, der kann ohne Fata Morgana mit Palmen und Odalisken 
und all dergleichen gar nicht exiſtieren. Fata Morgana ſag 
ich. Wenn es dann, wenn man naͤher konnt, auch nichts iſt, 
ſo hat man doch eine Stunde lang gelebt und gehofft und hat 
wieder Courage gekriegt und watet gemuͤtlich weiter durch den 
Sand. Und ſo ſind denn die Bilder, die ſo truͤgeriſch und un⸗ 
wirklich vor uns gaukeln, doch eigentlich ein Gluͤck.“ 

„Ja, die Jugend kann das und darf es auch vielleicht. 
Und ich will dir noch mehr zugeben: wer immer hoffen kann, 
und die Hoffnung iſt oft beſſer als die Erfuͤllung, der hat ſein 
Teil Freude weg. Aber trotzdem, du hoffſt zu viel und arbeiteſt 
zu wenig.“ 

„Ich arbeite wenig, das iſt richtig, und ich will es nicht loben. 
Aber ich habe einen heiteren Sinn, und das iſt ſchließlich beſſer 
als alles Arbeiten. Heiterkeit zieht an, Heiterkeit iſt wie ein 
Magnet, und da denk ich, ich kriege doch auch noch was.“ 

„Nun, ich will es dir wuͤnſchen. Und jetzt geh in die Kuͤche 
und ſage Friederike, daß ſie dir was zum Abendbrot bringt.“ 


Fuͤnftes Kapitel 


Leo war es zufrieden, denn er hatte wirklich Hunger. Die 
Entenleber zu Mittag war nicht viel geweſen und die Taſſe 
Schokolade bei Helms noch weniger. 

Er ging alſo hinaus und traf Friederike, die vor einer 
Kuͤchenlampe ſaß und, ein an den Fuß der Lampe geſtelltes 
Tintenfaß dicht vor ſich, in ihrem Wirtſchaftsbuch aufſchrieb. 
Der aus Holz geſchnitzte Federhalter, den ſie nachſinnend 
zwiſchen Daumen und Zeigefinger hielt, war noch ganz neu 
(wohl ein Weihnachtsgeſchenk) und ſchloß nach oben hin mit 


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einem Adler ab, der aber auch eine Taube fein konnte. Soviel 
fich bei dem herrſchenden Halbdunkel erkennen ließ, war in der 
Kuͤche rundum alles in guter Ordnung und Sauberkeit, wenn 
auch nicht gerade blitzblank; blitzblank war nur der in ſeinem 
Kochloch ſtehende Teekeſſel, deſſen Tüllendedel beſtaͤndig klap⸗ 
perte. Denn immer kochendes Waſſer zur Verfuͤgung zu haben 
war ein eigentuͤmlicher, zugleich klug erwogener Luxus der 
Poggenpuhlſchen Familie, die ſich dadurch inſtand geſetzt ſah, 
jederzeit eine beſcheidene Gaſtlichkeit üben zu koͤnnen. Dieſe 
betätigte ſich dann in verſchiedenem. Obenan, faſt ſchon als 
Spezialitaͤt, ſtand eine mit Hilfe von geroͤſteten Semmel⸗ 
ſcheiben und einer Muskatnußpriſe raſch herzuſtellende Kraft— 
bruͤhe von franzoͤſiſchem Namen, in deren Anfertigung jeder 
einzelne fo ſehr erzellierte, daß ſelbſt Flora, wenn ſie abends zu 
einer Plauderſtunde mit herankam, unter freundlicher Ab; 
lehnung von „Aufſchnitt“ und dergleichen, darum zu bitten 
pflegte. Was auch klug war. 

„Ja, Friederike,“ ſagte jetzt Leo, als er, einen Kuͤchenſtuhl 
heranruͤckend, ſich über die Lehne desſelben beugte, „Mama 
ſchickt mich zu dir und hat ſogar von Abendbrot geſprochen. 
Wie ſteht es eigentlich damit? Ich habe Hunger und danke 
Gott fuͤr alles. Und dir auch.“ 

„Ja, junger Herr, viel is es nich.“ 

„Na, was denn?“ 

„Nun, eine Boulette von geſtern mittag und ein paar ein⸗ 
gelegte Heringe mit Dill und Gurkenſcheiben. Und dann noch 
ein Edamer. Aber von dem Edamer is bloß noch ſehr wenig. 
Und dann kann ich Ihnen vielleicht noch einen Tee aufgießen. 
Das Waffer bullert ja noch.“ 

n „Nein, Friederike, Tee nicht. Was ſoll man damit? Aber 

das andre iſt gut, und ich werde gleich hier bleiben, gleich hier 
in der Kuͤche. Mama iſt muͤd und angegriffen, und du kannſt 
mir dann auch was von den Maͤdchen erzählen, Sie ſchreiben 


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mir immer, Manon immer vier Seiten, aber es ſteht nicht viel 
drin. Wie geht es denn eigentlich?“ 

„Ja, junger Herr, wie ſoll es gehn? Fraͤulein Thereſe, 
na, da wiſſen Sie ja Beſcheid; ... aber ich will am Ende nichts 
geſagt haben. Und dann Sophiechen. Nu, das Sophiechen iſt 
ein Prachtſtuͤck. Und Manonchen iſt immer fidel, das muß 
wahr ſein.“ 

„Und haͤlt es mit den reichen Bankiers, und das iſt auch 
klug und weiſe. Bankiers, das ſind eigentlich die einzigen 
Menſchen, mit denen man umgehen ſollte, bloß ſchade, daß ſie 
faſt alle vom Alten Bund ſind.“ 

„Ja, junger Herr, ſo is es, und ich hab es ihr auch ſchon 
geſagt; aber da ſagte ſie: „Ja, Friederike, wenn man ſo was 
will, dann darf man nicht viel ausſuchen, dann muß man's 
nehmen, wie's faͤllt.“ 

„Sehr vernuͤnftig, ein kluges Maͤdchen; gefaͤllt mir außer⸗ 
ordentlich und iſt mir auch ganz recht. Ich bin naͤmlich auch ſo 
'n bißchen mit drin, hab auch angebaͤndelt, ſchoͤne ſchwarze 
Perſon, Taille ſo, und Augen, na, Friederike, ich ſag dir, 
Augen, die reinen Mandelaugen und eigentlich alles ſchon wie 
Harem. Kennſt du Harem?“ 

„Natuͤrlich kenn ich Harem. Das is das, wo die Tuͤrken 
ihre Frauen drin haben und keine Fenſter als bloß ganz kleine 
Loͤcher, wo ſie nur mal heimlich rausgucken koͤnnen.“ 

„Richtig. Und ſo wie bei den Tuͤrken, oder doch beinahe ſo, 
ſo ſieht meine auch aus.“ 

„Aber wird es denn gehen, junger Herr? Wird es denn die 
Familie zugeben?“ 

„Welche? Meine oder ihre?“ 

„Na, ich meine die Poggenpuhls.“ 

„Das iſt mir egal, Friederike. Und dann .., fieh, fo dumm 
ſind die Poggenpuhls auch nicht; wenn es nur recht viel iſt, 
ſind ſie ganz zufrieden und geben alles zu.“ 


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„Is es denn viel?“ 
„Ja, das weiß ich ſelber noch nicht. Und dann ſind dieſe 


Drientalen fo graͤßlich vorſichtig und machen immer Che; 


kontrakte, wo man nichts kriegt, wenn man nicht gleich ein halbes 
Dutzend herzaubert. Und ſo ſchnell geht es doch nicht.“ 

„Ach, Leochen, Sie werden ſchon ...“ 

„Ja, Friederike, das ſagſt du ſo; die Spiele der Natur 


3 find aber merkwuͤrdig, und wenn dann welche geboren werden, 


kleine, reizende Engelchen, denn wenn ſie ganz klein ſind, ſind 
ſie immer Engelchen, dann ſterben ſie, und ſieh, dann ſitzt man 
wieder da und hat alle Muͤhe umſonſt gehabt.“ 

„Ja, ja, ſo was kommt vor. Na, aber ſind Sie denn ſchon 
eins miteinander?“ 

„J Gott bewahre, ſie weiß eigentlich kein Sterbenswort, 
und ich ſage das auch bloß alles ſo, weil einem immer das 
Meſſer an der Kehle ſitzt, und da malt man ſich denn ſo was 
aus und troͤſtet ſich und denkt,, mal wirft du doch wohl raus⸗ 
kommen aus all dem Elend‘... Aber Friederike, du koͤnnteſt 
mir doch eigentlich einen Tee machen, das heißt, wenn noch 


dein bißchen Rum da it. 


„Nein, Leochen, Rum is nich mehr da; bloß noch ein Gilka.“ 

„Hm, das paßt eigentlich nicht recht. Aber am Ende, 
warum nicht? Eintun kann ich ihn freilich nicht, aber ſo 
nebenher iſt er ganz gut zu brauchen. Und nach dem Hering 
iſt mir doch ſo 'n bißchen durſtig geworden. Und was ich dir 
von der ſchoͤnen ſchwarzen Juͤdin geſagt habe, daruͤber mußt 
du reinen Mund halten und darfſt davon nicht ſprechen, nicht 


zu Mutter und auch nicht zu den Schweſtern, wenigſtens nicht 


e 


zu Thereſe. Zu Manon kannſt du ſchon eher etwas ſagen, die 


iſt ja ſchon ſo gut wie mit dabei, mit ihren ewigen Bartenſteins, 
wo ſie mich auch immer hin haben will. Der Alte ſoll uͤbrigens 


ſehr reich ſein, und ich weiß auch noch nicht, was ich tue. Man 
iſt dann mit einemmal raus, und das iſt doch die Hauptſache. 


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Wenn es aber nichts wird, na, dann Friederike, dann müffen 
die Schwarzen ran, das heißt die richtigen Schwarzen, die wirk⸗ 
lichen, dann muß ich nach Afrika.“ 

„Gott, Leochen! Davon hab ich ja gerade dieſer Tage 
geleſen. Du meine Guͤte, die machen ja alles tot und ſchneiden 
uns armen Chriſtenmenſchen die Haͤlſe ab.“ 

„Das tun ſie hier auch; uͤberall dasſelbe.“ 

„Und ſo viel wilde Tiere, Schlangen und Krokodile, daß 
man bei all der Hitze nich mal baden kann.“ 

„Ja, das iſt richtig. Aber dafuͤr hat man auch alles frei, 
und wenn man einen Elefanten ſchießt, da hat man gleich 
Elfenbein ſo viel man will und kann ſich ein Billard machen 
laſſen. Und glaube mir, ſo was Freies, das hat ſchließlich auch 
ſein Gutes. Haſt du mal von Schuldhaft gehoͤrt? Natuͤrlich 
haſt du. Nu ſieh, ſo was wie Schuldhaft gibt es da gar nicht, 
weil es keine Schulden und keine Wechſel gibt und keine Zinſen 
und keinen Wucher, und wenn ich in Bukoba bin, — das iſt fo 'n 
Ort zweiter Klaſſe, alſo ſo wie Potsdam — da kann ſich's 
treffen, daß mir der Aquator, von dem du wohl ſchon geleſen 
haben wirſt und der ſo ſeine guten fuͤnftauſend Meilen lang iſt, 
daß mir der gerade uͤber 5 Leib laͤuft.“ 

„Um Gottes willen ...“ 

„Und ſo was iſt hier ganz unmoͤglich, und deshalb will ich 
auch hin, wenn ſich hier nicht bald was findet.“ 

„Gott, junger Herr, dann doch lieber ...“ 

„Gewiß, Friederike, viel lieber. Und all das Poggenpuhl⸗ 
ſche, wovon Thereſe fo viel Laͤrm macht ... Aber, alle Wetter, 
dabei faͤllt mir ein, wo ſteckt denn nur eigentlich Thereſe? Sie 
wollte ja, wie du ſagteſt, bloß in die Stadt, um noch zu Mamas 
Geburtstag was einzukaufen ... Gott, Geburtstag. Sage, Fries 
derike, da muß ich am Ende doch auch wohl was anſchaffen; die 
alte Frau glaubt ſonſt, ich denke bloß immer an mich. Alſo was 
meinſt du, was kann ich ihr wohl ſchenken, was braucht fie?“ 


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„Gott, junger Herr, die gnaͤdige Frau braucht ja eigent⸗ 
lich alles.“ 

„Alles? Das iſt mir zu viel, das geht nicht, das iſt uͤber 
meinen Etat. Und zuruͤck muß ich doch auch noch wieder, und 
es reicht ſchon nicht... Aber du haft ja vorhin von einem 
Edamer geſprochen. Is noch was da?“ 

„Verſteht ſich.“ 

„Nun gut. Aber zunaͤchſt wollen wir das mit dem Geburts⸗ 
tagsgeſchenk abmachen. Freilich, zuruͤck muß ich, das bleibt 
das erſte.“ 

„Ja, junger Herr, wieviel wollen Sie denn wohl an⸗ 
legen?“ N 

„Wollen? Eine Million. Aber können, Friederike, innen, 
da ſitzt es, da hapert es. Über, über... na, ich will lieber keine 
Summe nennen; nur bloß was Nettes, was Sinniges muß 
es fein.” 

„Nu, ich denke mir eine Primel.“ 

„Gut, Primel. Primel paßt ganz vorzuͤglich. Primel oder 
Primula veris, das iſt naͤmlich der lateiniſche Name, heißt ſo⸗ 
viel wie Fruͤhlingsanfang, und Mutter wird ſiebenundfuͤnfzig. 
Und ſieh, das iſt das, was ich ſinnig nenne.“ 

„Und dann, junger Herr, vielleicht noch eine Tuͤte mit 
Mehlweißchen; die ißt ſie fuͤr ihr Leben gern. Aber knuſprige, 
nicht ſolche, die ſich ſo ziehen wie Leder.“ 

„Auch gut. Alſo Primel und Mehlweißchen, knuſprig und 
alle weiß beſtreut. Aber es iſt ſchon ſo ſpaͤt; ich glaube, man 
kriegt keine mehr.“ 

„Nein, heute nicht mehr; ich beſorge ſie aber morgen fruͤh. 
Vor neun wird ja doch nich aufgebaut, denn es muß doch erſt 
uͤberall warm ſein und auch alles ein bißchen in Ordnung.“ 
Unter dieſen Worten begann Friederike die herumſtehenden 
Teller und Glaͤſer abzuraͤumen und ſetzte dafuͤr den halben 
Edamer, der eigentlich nur noch eine rote Schale war, auf den 


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Tiſch. Aber das tat nichts. Leo hatte ſchon fein kleines Taſchen⸗ 
meſſer, weil ihm das am handlichſten war, herausgenommen 
und ſchabte damit die guten Stellen mit vieler Geſchicklichkeit 
heraus, immer verſichernd, daß, wenn man noch was faͤnde, 
wo eigentlich nichts mehr zu finden ſei, das ſei jedesmal das 
beſte, und darin laͤge auch was Sinniges. „Ja, Friederike, 
ſo muß man leben, immer ſo die kleinen Freuden aufpicken, bis 
das große Gluͤck kommt...“ 

„Ja, wenn es bloß kommt.“ 

„Und wenn es nicht kommt, dann hat man wenigſtens die 
kleinen Gluͤcke gehabt.“ 

Und dabei ſetzte er den ausgehoͤhlten Edamer auf ſeinen 
linken Zeigefinger und drehte ihn erſt langſam und dann immer 
raſcher herum, wie einen kleinen Halbglobus. 

„Sieh, das hier oben, das iſt die Nordhaͤlfte. Und hier 
unten, wo gar nichts iſt, da liegt Afrika.“ 


Sechſtes Kapitel 


Leo war in der guten Stube untergebracht worden und ſchlief 
hier unbequem aber feſt auf dem kleinen Rohrſofa, das fuͤr 
gewoͤhnlich in der Schlafſtube ſtand. Er wurde nur einen Augen⸗ 
blick wach, als Friederike kam, um einzuheizen, fiel aber raſch 
wieder in einen ruhigen Morgenſchlaf zuruͤck, als er nebenan 
in der einfenſterigen Wohnſtube das Knacken und Kniſtern des 
Holzes und bald darauf das Klappern der Ofentuͤr hoͤrte. 

Gegen halb neun erſt kam Manon, um ihn zu wecken. 
„Aufſtehen, Leo; es iſt hoͤchſte Zeit. Wir koͤnnen Mama nicht 
laͤnger im Bett halten.“ Und nun ſprang er auf und machte 
mit ſoldatiſcher Schnelligkeit ſeine Toilette. Der Pfeilerſpiegel 
uͤber der Konſole praͤſentierte ſich dabei ſtattlich genug, alles 
übrige aber war deſto primitiver: ein Kuͤchenſtuhl mit Waſch⸗ 


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becken und Handtuch, ein Glas und eine Waſſerkaraffe. Was 
er ſonſt noch brauchte, nahm er aus ſeinem Koffer. 
g „Guten Morgen, meine Damen,“ mit dieſen Worten trat 
er bei den Schweſtern ein und gab jeder einen Kuß. Es war 
ſchon recht huͤbſch warm in dem kleinen Zimmer. Auf einem 
alten Klavier lagen und ſtanden die fuͤr die Mama beſtimmten 
Geſchenke noch wirr und ungeordnet umher, denn ſie ſollten, 
wie ſelbſtverſtaͤndlich, nicht hier, ſondern in der guten Stube, 
die noch erſt inſtandzuſetzen war, aufgebaut werden. Das ge⸗ 
ſchah denn auch, und nun hatte man über alles einen Überblick: 
eine Morgenhaube, zwei Paar Zwirnhandſchuhe und ein Paar 
Filzſchuhe. Von Friederike war eine Erika geſtiftet, zwiſchen den 
zwei Filzſchuhen ſtand Leos Primel und die Tüte, Leo ſelbſt 
aber riß noch raſch ein Blatt aus ſeinem Notizbuch, um ein 
paar geilen aufzuſchreiben, und ſchob dieſe dann zwiſchen die 
beiden blaßlilafarbenen Primelbluͤten. „Ein Bild meines 
Gluͤcks,“ ſagte er zu der neben ihm ſtehenden Sophie; „zwei 
Bluͤten und blaßlila.“ Nun endlich konnte auch die ſchon un⸗ 
geduldig werdende Mutter aus ihrer Schlafſtube befreit und 
an den Geburtstagstiſch geführt werden. Leo und die zwei 
juͤngeren Schweſtern kuͤßten ihr die Hand, waͤhrend ſich Thereſe 
mit einem Backenkuß begnuͤgte. „Gott, Kinder, ſo vielerlei,“ 
ſagte die gute alte Dame. „Und wie ausgeſucht. Ja, die Filz⸗ 
ſchuhe haben mir gefehlt; ich hab es immer ſo kalt. Und die 
Primel und noch dazu mit einem Spruch.“ Und ſie nahm den 
Zettel und las: „Eine Primel, von deinem ... Ja, ja, Leo, das 
biſt du; du Haft das Wort nicht ausgeſchrieben, aber das war 
auch nicht nötig, Na, der liebe Gott meint es ja gut mit uns 
allen, und vielleicht hilft er dir auch noch.“ 
„Natuͤrlich, Mutter,“ ſagte Thereſe, „du darfſt ihn nicht 
ſo herabſtimmen. Er muß fein Selbſtgefuͤhl behalten und ſich 
ſagen, daß ein Pommerſcher von Adel immer feinen Platz 
3 findet. Ich bin guten Muts.“ 


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„Und uͤbernimmſt auch Buͤrgſchaft?“ 

„Nein Leo; Buͤrgſchaft uͤbernimmſt du ſelbſt. Und wenn 
du fie richtig uͤbernimmſt, wie es einem Poggenpuhl geziemt 
und worin dir Wendelin ein Vorbild ſein kann, ſo wirſt du 
gute Tage haben. Wir haben einen Stern im Wappen.“ 

„Ich wollte, ich haͤtte erſt einen auf der Achſelklappe.“ 

„Kommt Zeit, kommt Rat. Aber nun nimm Mamas Arm 
und fuͤhre ſie.“ 


Man blieb wohl eine Stunde beim Kaffee. Leo hatte von 
ſeinem Thorner Leben zu berichten, am meiſten von ſeinen Be⸗ 
ſuchen auf dem Lande, ſowohl bei den deutſchen wie bei den 
polniſchen Edelleuten. 

„Und macht ihr bei dieſen moraliſche Eroberungen?“ fragte 
Thereſe. „Gewinnt ihr Terrain?“ 

„Terrain? Ich bitte dich, Thereſe, wir ſind froh, wenn 
wir im Skat gewinnen. Aber auch damit hat's gute Wege. 
Dieſe Polen, ich ſage dir, das ſind verdammt pfiffige Kerle, 
lauter Schlauberger ...“ 

„Du haſt ſoviel berliniſche Ausdruͤcke, Leo.“ 

„Hab ich. Und weil man nie genug davon haben kann, 
denk ich, wir brechen ſobald wie moͤglich auf und gehen in 
die Stadt auf weitere Suche. Wer Augen und Ohren hat, 
findet immer was. Ich möchte mal wieder eine Litfaßſaͤule ſtu⸗ 
dieren. ‚Wer dreihundert Mark ſparen will‘, oder die, Goldene 
Hundertzehn' oder ‚Mittel gegen den Bandwurm‘, Ich leſe 
ſo was ungeheuer gern. Wer kommt mit? Wer hat Zeit und 
Luſt?“ 

Thereſe ſchwieg und wandte ſich ab. 

„Hm, Thereſe laͤßt mich im Stich, und Sophie hat die Wirt⸗ 
ſchaft. Aber Manon, auf dich, denk ich, iſt Verlaß. Wir ſehen 
uns das Rezonvillepanorama an (fo was verſtehn die Frans 
zoſen) und ſind um zwoͤlf Unter den Linden und ſehen die 


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Wache aufziehn mit voller Muſik, und wenn wir Gluͤck haben, 
ſteht der alte Kaiſer am Fenſter und gruͤßt uns. Oder wir 
koͤnnen's uns wenigſtens einbilden.“ 
Unter dieſen Worten hatten ſich Leo und Manon erhoben. 
„Kommt nicht zu ſpaͤt; zwei Uhr,“ mahnte e was 
denn auch verſprochen wurde. 


Leo und Manon hielten Zeit, und Punkt zwei ging man 
zu Tiſch. Es war in der guten Stube gedeckt, in der Mitte 
eine Torte, links und rechts die Erika und die Primel. Der 
Sohrſche ſah aus ſeinem Rahmen herab und laͤchelte. 

Gleich nach der Suppe wurde der Glasteller mit der kleinen 
Repraͤſentationsweinflaſche von dem Schreibtiſch herunter⸗ 
genommen und vor Leo hingeſtellt, der mit vieler Wuͤrde be⸗ 
merkte: „Wenn dies mir gilt, ſo muß ich es zuruͤckweiſen; 
wenn es aber wegen Mamas Geburtstag iſt, auf deren Wohl 
wir trinken muͤſſen, ſo kann es ſtehn bleiben.“ 

Und waͤhrend noch daruͤber parlamentiert und Leos Wider⸗ 
ſtand beſeitigt wurde, kam Friederike und brachte die Ente. 

„Wovon willſt du?“ fragte Sophie. 8 

„Keule, wenn ich bitten darf. Ich finde naͤmlich, wer um 
die Keule bittet, faͤhrt immer am beſten. Es macht jedes mal 
einen guten, weil beſcheidenen Eindruck, und zweitens laͤßt 
einen das Bindeſtuͤck nicht leicht im Stich. Außerdem iſt die 
reine Quantitaͤtsfrage doch auch nicht zu verachten.“ 

Er tat ſich denn auch bene; alles war ihm zu willen, und 
dann brachte er ſeinen Toaſt aus auf das Wohl der Mutter. 
Dieſe mußte trinken, die Maͤdchen aber ſtießen nur mit dem 
Knoͤchel ihres Zeigefingers an. 

Ves iſt doch wahr, zu Haufe ſchmeckt es immer am beſten. 
Solche muͤtterliche Ente krieg ich in ganz Thorn nicht. Und dieſe 
Fuͤllung, noch dazu zweierlei, hier Maronen und hier Pudding 
mit Roſinen. Kinder, ich glaube beinahe, es iſt alles Verſtel⸗ 


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lung bei euch; ich glaube, ihr habt was, ihr ſeid gar nicht fo 
arm.“ 

„Ach, Leo, ſage nur ſo was nicht, ſprich nicht ſo was; das 
aͤngſtigt mich immer. Du biſt imſtande, dir wirklich ſo was 
einzubilden . . .” 

„Nein, nein, ich weiß ja Beſcheid. Ich dachte nur zufällig an 
etwas, was ich mal in einer Zeitung geleſen habe, eine Ge⸗ 
ſchichte von einer alten Frau, die ein ganzes Vermoͤgen, ich will 
nicht ſagen wo, eingenaͤht hatte. Und dann dacht ich auch an 
Onkel Eberhard, an unſern Onkelgeneral, und daß er doch 
eigentlich ...“ 

In dieſem Augenblick ging draußen die Klingel, und Friede⸗ 
rike trat ein, um den Herrn General zu melden. 

„Lupus in fabula.“ Aber ehe Leo noch das Wort aus⸗ 
ſprechen konnte, ſtand der Onkel ſchon in der Tuͤr, legte den 
Finger halb dienſtlich an die Schlaͤfe und ſagte: „Habe die 
Ehre, Frau Schwaͤgerin.“ 

Die Mädchen eilten ihm entgegen, Leo natürlich desgleichen; 
als aber auch die alte Frau ſich erheben wollte, verſagten ihr 
die Kraͤfte, ſo ſehr war ſie bewegt von der Guͤte ihres Schwagers, 
fuͤr den ſie immer eine beſondere Liebe und Verehrung gehabt 
hatte. 

„Sitzenbleiben, meine liebe Albertine. Das kommt von 
den zu jugendlichen Bewegungen. Bringe dir auch Gruͤße von 
meiner Frau... Und daß ich den Leo hier treffe! Wetter, 
Junge, du ſiehſt brillant aus und wundervoll genaͤhrt. Freilich, 


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freilich ...“ und er wies auf die Ente. 

„An der du dich beteiligen mußt,“ ſagte Manon. ö 
Und der Onkel ruͤckte auch wirklich ein, band ſich, was er 
ſelbſt als altmodiſch bezeichnete, eine Serviette vor und machte 

ſich mit vielem Behagen daran, einen Flügel abzuknaupeln. 
„Delikat. Es iſt uͤbrigens bekannt, was wirklich Gutes kriegt 
man nur in den kleinen Haushaltungen, und warum? In 


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einem kleinen Haushalt kocht man noch mit Liebe. Ja, meine 
liebe Albertine, mit Liebe; das iſt nun mal die Hauptſache.“ 
„Du biſt immer ſo gut, Eberhard, immer der Alte. Und 
wenn es dir ſchmeckt ... Aber ſage vor allem, was fuͤhrt dich 
her? In Winterszeit nach Berlin.“ 
„Ja, Albertine, was fuͤhrt mich her! Ich koͤnnte ſagen: 


dein Geburtstag. Aber du wuͤrdeſt es vielleicht nicht glauben, 


und da iſt es doch wohl beſſer, daß ich gleich mit der Wahrheit 


herausruͤcke. Geſchaͤftliches fuͤhrt mich her, Hypotheken, Ab⸗ 


ſchreibungen und auf der Bank allerlei Sachen. Eigentlich 


langweilig. Aber doch auch wieder intereſſant ...“ 


„Sehr, ſehr,“ ſeufzte Leo und wollte dies weiter ausführen. 


Thereſe aber hob den Finger, um ihm Schweigen anzudeuten. 


„.. Und,“ fuhr der Onkelgeneral fort, „da die Reife nun 
mal nötig war, habe ich mir natürlich dieſen 4. Januar aus⸗ 


geſucht, um meiner lieben Frau Schwaͤgerin gratulieren zu 


koͤnnen.“ 
„Und du wirſt bei uns wohnen,“ ſagte die Majorin. „Wir 
koͤnnen dir nicht viel ER aber wir haben doch die Ausſicht 


auf den Matthäi.. 


„Ich weiß, Albertine, ſagte der General. „Alles ſehr ſchoͤn. 
Aber offen geſtanden, ich ziehe den Potsdamer Platz vor, weil 
da das meiſte Leben iſt. Und Leben iſt nun mal das Beſte, was 
eine große Stadt hat. Das fehlt uns in Adamsdorf. Ich bin 
alſo wieder im Fuͤrſtenhof abgeſtiegen, bin da ſchon bekannt, 
und wahrhaftig, es ſieht beinahe ſo aus, als freuten ſich alle, 


wenn ich komme.“ 


„Wird auch wohl ſo ſein.“ 
„Und wenn ich mich da morgens ins Fenſter lege, links 


und rechts ein Sofakiſſen unterm Arm, und die friſche Winter⸗ 


luft kommt ſo vom Hallſchen Tor her — was ich mir wohl 
gönnen kann, weil ich dran gewöhnt bin, denn von unſrer 


“ Koppe herunter puſtet es noch ganz anders — und ich 


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habe dann fo Cafe Bellevue und Joſty vor mir, Joſty mit dem 
Glasvorbau, wo ſie ſchon von fruͤh an ſitzen und Zeitungen leſen, 
und die Pferdebahnen und Omnibuſſe kommen von allen Sei⸗ 
ten heran, und es ſieht aus, als ob ſie jeden Augenblick ineinander 
fahren wollten, und Blumenmaͤdchen dazwiſchen (aber es ſind 
eigentlich Stehfüße), und in all dem Laͤrm und Wirrwarr 
werden dann mit einemmal Extrablaͤtter ausgerufen, fo wie 
Feuerruf in alten Zeiten und mit einer Unkenſtimme, als waͤre 
wenigſtens die Welt untergegangen, — ja, Kinder, wenn ich 
das ſo vor mir habe, da wird mir wohl, da weiß ich, daß ich mal 
wieder unter Menſchen bin, und darauf mag ich nicht gern ver⸗ 
zichten.“ 

Leo nickte ſtumm. 

„Alſo verzeih, Albertine, wenn ich ablehne. Bequemer ge⸗ 
legen iſt der Fuͤrſtenhof auch. Aber zuſammen ſein wollen 
wir doch. Jetzt iſt es drei. Was machen wir heute? Kroll! 
Gut, das ginge. Da wird doch wohl eine Weihnachts vor⸗ 
ſtellung ſein, Schneewittchen oder Aſchenbroͤdel; Aſchenbroͤdel 
iſt beſſer. In Schneewittchen haben wir den glaͤſernen Sarg. 
Und ich bin im ganzen genommen nicht für Saͤrge, bin über; 
haupt mehr für heitere Ideen verbindungen.“ 

„Ja, Onkel,“ ſagte Leo, „da waͤre vielleicht ein Theater das 
beſte. Sie geben heute die „Quitzows' an zwei Stellen: im 
Schauſpielhauſe die richtigen Quitzows und am Moritzplatz die 
parodierten. Was meinſt du zu den Quitzows am Moritzplatz?“ 

„Nein, Leo, das geht nicht, ſo gern ich ſonſt dergleichen 
ſehe. Man iſt doch ſeinem Namen auch was ſchuldig. Sieh 
die Poggenpuhls waren in Pommern ſo ziemlich dasſelbe, was 
die Quitzows in der Mark waren, und da, mein ich, verlangt 


es der Korpsgeiſt, daß wir uns eine Parodie der Sache nicht 


ſo ganz gemuͤtlich mit anſehn.“ 


Thereſe erhob ſich, um dem Onkel einen Kuß zu geben. „Es | 


ift mir immer eine Genugtuung, Onkel, folder Geſinnung zu, 


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begegnen. Leo verflacht ſich mit jedem Tage mehr. Und warum, 
weil er dem goldenen Kalbe nachjagt.“ 

„Ja,“ ſagte Leo, „das tu ich. Wenn es nur was huͤlfe. 

„Wird ſchon,“ troͤſtete die ſofort an Flora denkende Manon. 

„Aber wozu das?“ fuhr Leo fort. „Das liegt ja alles weit⸗ 
ab. Vorlaͤufig ſind wir noch bei den Quitzows, bei den richtigen 
und den falſchen. Die falſchen find abgelehnt, alſo ...“ 

„ . die richtigen,“ ergänzte der General. Die richtigen 
im Schauſpielhauſe; da wollen wir hin. Und hinterher in ein 
Lokal, um da noch unſern kleinen Schwatz zu haben und, ſo 
gut es geht, feſtzuſtellen, was es denn eigentlich mit dem Stuͤck 
auf ſich hat. Es ſoll ein ſehr gutes Stuͤck ſein, auch ſchon darin, 
daß es beiden Parteien gerecht wird, was doch immer eine ſchwere 
Sache bleibt. Aber, ſoviel hab ich ſchon gehoͤrt, der Dietrich 
von Quitzow ſoll intereſſanter ſein als der Kurfuͤrſt Friedrich. 
Natuͤrlich; das iſt immer ſo. Wer mit dem Eiſenhandſchuh auf 
den Tiſch ſchlaͤgt, iſt immer intereſſanter als der, der bloß eine 
Nachmittagspredigt haͤlt. Damit kommt man nicht weit. Ich 
denke mir den Dietrich ſo wie etwa den Goͤtz von Berlichingen, 
der vor dem Kaiſer nicht erſchrak und den Heilbronner Rat vers 

hoͤhnte. Das war immer meine Lieblingsſzene. Billetts wer⸗ 

den wir doch wohl kriegen, meinetwegen auch mit Aufſchlag. 
Wenn man Poggenpuhl heißt, muß man fuͤr einen alten Kame⸗ 
raden von ehedem was uͤbrig haben.“ 

„Ein Gluͤck, Eberhard,“ ſagte die Majorin, „daß die Waͤnde 
keine Ohren haben. So ſeid ihr Adligen. Und ihr Poggen⸗ 
puhls, ... na, ich weiß ja, ihr ſeid immer noch von den Beſten. 
Aber auch ihr! Alles habt ihr von den Hohenzollern, und ſo— 
wie die Standesfrage kommt, ſteht ihr gegen ſie.“ 

„ Haſt recht, Albertine. So find wir. Aber es hat nicht viel 
auf ſich damit. Wenn es gilt, find wir doch immer wieder da. 
Da nebenan hängt der „Hochkircher“, nach wie vor ohne Rock, 
was ihn aber ehrt, und ich moͤchte beinahe ſagen, was ihn 


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kleidet, und hier (und er wies auf das Bild uͤber dem Sofa), 
hier haͤngt der Sohrſche, und euer guter Vater, mein Bruder 
Alfred, nun, der liegt bei Gravelotte. Das ſind unſre Taten, 
die ſprechen. Aber wenn ſtille Tage find, fo wie jetzt, dann 
ſticht uns wieder der Hafer und wir freuen uns der alten Zeiten, 
wo's noch kein Kriegs miniſterium und keine blauen Briefe gab 
und wo man ſelber Krieg fuͤhrte. Man ſoll es wohl eigentlich 
nicht ſagen, und ich ſag es auch nur ſo hin, aber eigentlich muß 
es damals huͤbſcher geweſen ſein. Die Buͤrger brauten das 
Bernauer und das Kottbuſſer Bier, und wir tranken es aus. 
Und ſo mit allem. Es war alles forſcher und fideler als jetzt 
und eigentlich für die Bürger auch. Noch keine Konkurrenz. 
Nicht wahr, Leo?“ 

„Na, ob, Onkel. Alles viel ſchneidiger. Vielleicht kommt 
es noch mal wieder.“ 

„Glaub ich auch. Nur nicht bei uns. Wir ſind nicht mehr 
dran. Was jetzt ſo ausſieht, iſt bloß noch Aufflackern . 
Aber nun Schlachtplan für heute abend. Ich will zunaͤchſt 
in meinen Fuͤrſtenhof und ein paar Zeilen an meine Fran 
ſchreiben, und um ſechseinhalb ſeid ihr bei mir. Schwaͤgerin, 
du auch.“ 4 

„Nein, Eberhard. Fuͤr mich iſt es nichts mehr, ich habe 
das Reißen und bleibe lieber zu Hauſe. Wenn ihr alle fort 
ſeid, will ich erſt das Tageblatt leſen und dann den Abendſegen. 
Oder Friederike ſoll ihn leſen. Sie wundert ſich ſchon, daß wir 
ſeit Silveſter ſo wie die Heiden gelebt haben.“ 1 


Man hatte Billetts erhalten, gute Plätze, vierte Parkett? 
reihe. Mitterwurzer, der gerade zum Gaſtſpiel in Berlin war, 


Siebentes Kapitel | 
j 
gab den Dietrich von Quitzow, und gleich die Szene mit Wend 


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1 5 1 


von Ilenburg, Akt zwei, ſchlug mächtig ein. In der bald dar⸗ 
auffolgenden Zwiſchenpauſe wandte ſich der immer erregter 
gewordene Onkelgeneral an die rechts neben ihm ſitzende The⸗ 
reſe und ſagte: „Merkwuͤrdig, ganz wie Bismarck. Und dabei 
beide, ſo ſpielt der Zufall, wie Wand an Wand geboren; ich 
glaube, von Schoͤnhauſen bis Quitzoͤvel kann man mit einer 
Windbuͤchſe ſchießen, oder ein Landbrieftraͤger laͤuft es in einem 
Vormittag. Wunderbare Gegend, dieſe Gegend da; Lango⸗ 
bardenland. Ja, wo's mal ſitzt, da ſitzt es. Was meinſt du, 
Leo?“ 

Leo haͤtte gern geantwortet, aber ſo frei weg er ſonſt war, 
er genierte ſich doch einigermaßen, weil er ſah, daß man auf den 


Reihen vor und hinter ihm bereits die Köpfe zuſammenſteckte 


und tuſchelte. Der Onkel ſah es auch, nahm's aber nicht uͤbel 
und dachte nur: „Kenn ich; berliniſche Zimperei.“ 

Bald gegen zehn war die Vorſtellung aus, und nach kurzer 
Beratung an einer etwas zugigen Ecke beſchloß man, moͤglichſt 
in der Naͤhe zu bleiben und in einem in der Charlottenſtraße 
gelegenen Theaterreſtaurant zu ſoupieren. Man fand hier 
alles ſo ziemlich beſetzt, kam aber doch noch unter und traf nach 
Überfliegung der Speiſekarte raſch die Wahl. Alle waren für 
Seezunge, mit Ausnahme von Thereſe, die ſich fuͤr Makkaroni 
mit Tomaten erklaͤrte. Gleich danach wurden ohne weiteres 
fünf Seidel wie ebenſoviele Selbſtverſtaͤndlichkeiten vor fie 
hingepflanzt, und erſt als dieſe Seidel ſchon halb geleert waren, 
erſchien auch das Beſtellte, was dem ſchon ziemlich nervoͤs 
gewordenen alten General ſein Gleichgewicht wiedergab. Er 
ruͤckte nun feinen Teller etwas näher an ſich heran, troͤpfelte 
Zitronenſaft auf die knuſprige Panierung und ſagte, waͤhrend 
er gleich den erſten Biſſen kennermaͤßig wuͤrdigte: „Ja, Berlin 
wird Weltſtadt. Aber was mehr ſagen will, es wird auch See⸗ 
Be. Sie reden ja ſchon von einem großen Hafen, ich glaube, 
da bei Tegel herum, — und ich kann wohl ſagen, dieſe See⸗ 


4 51 


zunge ſchmeckt, als ob wir den Hafen ſchon hätten oder als ob wir 
hier mindeſtens in Wilkens Keller in Hamburg ſaͤßen. Es ſind 
das noch ſo Erinnerungen von Achtundvierzig her, wo ich ein 
blutjunger Leutnant war, ſo wie Leo jetzt, nur ſchmalere Gage.“ 

„Kann ich mir kaum denken, Onkel.“ 

„Nun, wir wollen das fallen laſſen; ſo was wird leicht 
perſoͤnlich, und im Perſönlichen liegen immer die Keime zu 
Streitigkeiten. Aber Kunſt, Kunſt, darüber laͤßt ſich reden; 
Kunſt iſt immer friedlich. Sagt, Kinder, was war das eigent⸗ 
lich mit dem Berliner Jargon in dem Stuͤck? Schon gleich 
als die Straußberger kamen und der Torwart nach ihnen aus⸗ 
lugte, ging es damit los. Und das alles ſo um 1411 herum.“ 

„Ich denke mir,“ ſagte Thereſe, „der Dichter, ein Mann von 
Familie, wird doch wohl ſeine Studien dazu gemacht haben. 
Vielleicht, daß er Wendungen und Ausdruͤcke, die dich ver⸗ 
wundern, in alten Magiſtratsakten gefunden hat.“ 

„Ach, Kind, das Berliniſche, das da geſprochen wird, das 
iſt noch keine hundert Jahre alt und manches noch keine zwanzig. 
Aber es mag wohl ſchwer ſein. Am beſten hat mir die polniſche 
Gräfin gefallen, ich glaube Barbara mit Namen, eine ſchoͤne 
Perſon, das muß wahr ſein. Auf dem Zettel ſtand: „Natuͤr⸗ 
liche Tochter Koͤnig Jagellos von Polen.“ Will ich gern glau⸗ 
ben; ſie hatte ſo was, Augen wie Kohlen. Und dieſer Dietrich; 
alle Wetter, muß der verwoͤhnt geweſen ſein, um ſolche pol⸗ 
niſche Koͤnigstochter ſo abfallen zu laſſen. Ich kenne nur wenig 

Faͤlle der Art, vielleicht den mit Karl dem Zwoͤlften und der 
Aurora von Koͤnigsmarck. Aber dieſer Fall iſt eigentlich keiner. 
Denn das mit Karl dem Zwoͤlften lag doch noch wieder anders; 
das hatte einen Haken“ 

„Einen Haken? Welchen, Onkel?“ 

„Ach, Manonchen, das iſt nichts fuͤr junge Damen. Und 
hier fo oͤffentlich ...“ 

„Dann ſag es mir ins Ohr.“ 


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„Geht auch nicht. Sieh, das find fo Fineſſen, auf die man 
warten muß, bis man ſie zufaͤllig mal aufpickt, ſagen wir auf 
einem Einwickelbogen oder auf einem alten Zeitungsblatt, da 
wo die Gerichtsſitzungen oder die hiſtoriſchen Miſzellen ſtehen. 
Denn nach meinen Erfahrungen umſchließt die ſogenannte 
Makulatur einen ganz bedeutenden Geſchichtsfond, mehr als 
manche Geſchichtsbuͤcher. Ich wuͤrde mich dabei vielleicht auf 
Leo berufen, wenn er nicht mit ſeinem Kneifer beſtaͤndig nach 
dem eleganten jungen Herrn da druͤben hinuͤberlorgnettierte; 
da druͤben am zweiten Tiſch von uns. Und nun gruͤßt er auch 
noch.“ 

Wirklich, Leo war waͤhrend der letzten Minuten ziemlich 
unaufmerkſam geweſen, und jetzt erhob er ſich von ſeinem Platz 
und ging auf den jungen Herrn zu, von dem der Onkel eben ge⸗ 
ſprochen. Es war unſchwer zu ſehen, daß beide gleichmaͤßig 
verwundert waren, ſich hier zu finden, und nachdem ſie, wie's 
ſchien, ein paar orientierende Fragen ausgetauſcht hatten, 
fuͤhrte Leo den hier ſo unerwartet Wiedergefundenen an den 
Poggenpuhlſchen Tiſch und ſagte: „Lieber Onkel, erlaube mir, 
daß ich dir Herrn von Kleſſentin vorſtelle. Alter Kamerad von 
mir, noch von den Kadetten her ... Meine drei Schweſtern ...“ 

Herr von Kleſſentin, ſehr gewandt und von typiſcher Leut⸗ 
nantshaltung, verbeugte ſich gegen den General und die jungen 
Damen und bemerkte dann, daß er ſich des Herrn Generals, 
der mal zum Beſuch draußen in Lichterfelde geweſen ſei, ſehr 
wohl noch erinnere. 

„Trifft zu, Herr von Kleſſentin. Ich war oͤfter draußen, 
mußte doch dann und wann nach dem Rechten ſehn.“ Und 
dabei wies er auf Leo. „Hat freilich nicht viel geholfen. Aber 
wollen Sie nicht bei uns einruͤcken? Dies iſt der beſte Tiſch 
hier, etwas abgetrennt von den uͤbrigen, und kein Zug.“ 

Kleſſentin verbeugte ſich, holte ſein Seidel und nahm den 
Platz zwiſchen dem General und Thereſe. 


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„Wir haben uns hier ſeßhaft gemacht,“ fuhr der General 
fort, „weil es fo nahe beim Theater iſt ... Sie waren drüben 
auch zugegen.“ 

„Zu Befehl, Herr General.“ 

„ .. und ich möchte beinahe wetten, Sie links im Parkett 
bemerkt zu haben, ſechſte oder ſiebente Reihe.“ 

„Bedaure, Herr General; ich war dem Aktionsfeld um ein 
gut Teil naͤher ...“ 

„Weiter vor?“ 

„Ja, Herr General. Auf der Bühne ſelbſt.“ 

Alle (Leo mit eingeſchloſſen) fuhren neugierig, aber doch auch 
ein wenig ſchreckhaft zuſammen, und man war froh, als der 
Onkel in einem heiteren Tone ſagte: „Da hat man Sie zu be⸗ 
gluͤckwuͤnſchen, Herr von Kleſſentin. Hinter den Kuliſſen; 
à la bonne heure, fo gut trifft es nicht jeder. Aber andrerſeits, 
Pardon, bin ich doch auch wieder erſtaunt, etwas Derartiges 
unter der jetzigen Verwaltung — die, ſoviel ich weiß, auf ſitt⸗ 
liche Strenge halt — ſich überhaupt ermöglichen zu ſehn. Oder 
find es perſoͤnliche Beziehungen zum Graf Hochbergſchen 
Hauſe?“ 

„Leider nicht, Herr General. Es handelt ſich auch nicht um 
befondere, mich auszeichnende perſöͤnliche Beziehungen. Ich 
bin namlich einfach Buͤhnenmitglied. Der Dietrich Schwalbe, 
deſſen Sie ſich vielleicht aus dem letzten Akt her entſinnen — 
auf dem Zettel ſteht Bannertraͤger; richtiger wäre vielleicht 
„Quitzowſcher Milhbruder‘ geweſen, aber dieſe Bezeichnung 
unterließ man wohl aus Delikateſſe — dieſer Dietrich Schwalbe 
bin ich.“ 

Thereſe bog ein wenig nach links hin aus, waͤhrend die 


beiden juͤngeren Maͤdchen noch mehr aufhorchten als vorher 


und auf den wiedergefundenen Freund ihres Bruders mit 
einem raſch ſich ſteigernden Intereſſe blickten. Leo ſelbſt ſchien 
immer noch etwas unſicher und war froh, als der Onkel mit 


54 


DA 


8 
großer Jovialitaͤt fortfuhr: „Freut mich, Herr von Kleſſentin. 
Man kann ſeinem Koͤnig an jeder Stelle dienen; nur auf die 
Treue des Dienſtes kommt es an...” 

Kleſſentin verbeugte ſich. 

„Aber was mich uͤberraſcht, ich habe den Zettel wenigſtens 
dreimal durchſtudiert und bin Ihrem Namen nicht begegnet...“ 

„Er fehlt auch, Herr General. Auf dem zettel heiße ich 
einfach Herr Manfred, nach meinem Vornamen. Es iſt das 
ſo Sitte. Manfred iſt mein nom de guerre.“ 

„Nom de guerre,“ lachte der Alte. „Vorzuͤglich. Ein 
Kleſſentin tritt aus der Armee und wird Schauſpieler, und 
im ſelben Augenblick, wo er dem Kriegshandwerk entſagt, 
kriegt er einen nom de guerre. Ein Gluͤck dabei, daß Sie ſolchen 
huͤbſchen Vornamen hatten. Aber ſo huͤbſch er iſt, ich moͤchte 
doch fragen dürfen, können nicht durch ſolche poetiſch-hiſtoriſchen 
Vornamen allerlei Komplikationen entſtehen, koͤnnen Sie nicht 
beiſpielsweiſe grade mit Manfred in eine gewiſſe Verlegen⸗ 
heit geraten?“ 

„Ich mag die Noͤglichkeit nicht geradezu beſtreiten, Herr 
General. Aber wenn ich die ganze lange Reihe der Rollen und 
Stuͤcke durchnehme, ſo kann ich mir, was ſpeziell meinen Namen 
angeht, eine ſolche Komplikation doch nur fuͤr den Fall denken, 
daß ich den Lord Byronſchen Manfred zu ſpielen haͤtte. Dann 
würd es freilich auf dem Zettel heißen muͤſſen: „Manfred... 
Herr Manfred, was — ſoviel muß ich zugeben — das Pu⸗ 
blikum einigermaßen ſtutzig machen und eine momentane Ver⸗ 
wirrung heraufbeſchwoͤren koͤnnte.“ 

„Verſteh, verſteh. Eine Verwirrung uͤbrigens, aus der Sie 
nichtsdeſtoweniger einen Ausweg finden wuͤrden.“ 

Ich glaube dies bejahen zu dürfen, immer für den Fall, 
daß ich uͤberhaupt in die hier angedeutete Lage kommen ſollte. 
Das iſt aber ſo gut wie ausgeſchloſſen, weil ganz e 
meiner Sphaͤre.“ 


55 


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FR TR 


„Sie find deſſen ſicher?“ 

„Vollkommen, Herr General, Der Lord Byronſche Manz 
feed, .“ 

„Und dann, Pardon, Herr von Kleſſentin, der aͤltere Bruder 
in der Braut von Meſſina, ... der, wenn mir recht iſt, etwas 
weniger ſchuldbelaſtete ...“ 

„. . . Zu Befehl, Herr General. Aber, Verzeihung, das 
iſt eigentlich ein Don Manuel.“ 

„Ah, richtig, richtig. Don Manuel, Don Manfred, oder 
auch bloß Manfred, das iſt mir durcheinander gelaufen... Und 
Sie meinen, dieſer Manfred, alſo wahrſcheinlich auch dieſer 
Manuel, beide Rollen, wie Sie ſich ausdruͤckten, laͤgen ganz 
außerhalb Ihrer Sphaͤre.“ 

„Gewiß, Herr General. Der Byronſche Manfred iſt eine 
Pyramidalrolle, groß, erhaben wie Lord Byron ſelbſt, waͤhrend 
ich durchaus auf einer Anfaͤngerſtufe ſtehe.“ 

„Das aͤndert ſich. Das iſt uͤberall dasſelbe. Heute Faͤhn⸗ 
rich und nach vierzig Jahren General; kommt Zeit, kommt Rat.“ 

„Wollte Gott, daß es ſo laͤge, Herr General. Aber es liegt 
anders. Ich bin nun mal in der Buͤhnenlaufbahn drin und 
muß jetzt dabei verbleiben; ein ewiges Umſatteln macht einen 
ſchlechten Eindruck. Aber es iſt mir, gerade ſeit ich dabei bin, 
ganz klar geworden, daß „Herr Manfred‘ kein großer Kuͤnſtler⸗ 
name werden wird . .. Es iſt moͤglich oder wenigſtens fehr 
wuͤnſchenswert, daß ich uͤber kurz oder lang eine ſogenannte 
gute Partie machen werde, nach welchem Ereignis ich keinen 
Augenblick zoͤgern würde, mich von der Bühne wieder zuruͤck⸗ 
zuziehen. Ich bin eigentlich gern Schauſpieler, ja, ich koͤnnte 
beinahe ſagen mit Paſſion; aber trotzdem, ... eine Tiergarten⸗ 
villa mit einem Delphinbrunnen, der immer plaͤtſchert und 
den Raſen bewaͤſſert ...“ 

„Eine ſolche Villa, mein lieber Kleſſentin, wuͤrden Sie vor⸗ 
ziehen. Das iſt das, was ich eine geſunde Reaktion nenne. 


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7 


Gott gebe ſeinen Segen dazu. Ja, Park mit Reh und Waſſer⸗ 
fall und mit alten Platanen, im Herbſte goldgelb, — das hat 
es mir auch angetan. Aber ſolange Sie nun noch mitmachen, 
iſt da nicht ein Avancement moͤglich?“ 

„Schwerlich, Herr General.“ 

„. . . Und wenn nicht, — verzeihen Sie meine Neugier, 
aber ich intereſſiere mich fuͤr all dergleichen — alſo wenn nicht, 
in welchem Rollenfache hat man Sie denn eigentlich zu ſuchen? 
Wenn ich wieder auf meinem Gute ſitze und nehme die Zeitung 
und leſe: Morgen Mittwoch: Wilhelm Tell, fo will ich, nach—⸗ 
dem ich das Vergnuͤgen Ihrer Bekanntſchaft gehabt habe — 
denn Sie gefallen mir außerordentlich, Herr von Kleſſentin; 
verzeihen Sie, daß ich Ihnen das ſo ohne weiteres ſage, — 
ſo will ich doch wiſſen, wo ich Sie im Tell unterzubringen habe; 
fuͤr den Attinghaus ſind Sie zu jung und fuͤr den Geßler nicht 
daͤmoniſch genug; aber vielleicht Rudenz.“ 

„Sie greifen immer noch um etliche Stufen zu hoch, Herr 
General. Es gibt allerdings ein paar Ausnahmefaͤlle, ſo zum 
Beiſpiel heute abend, wo ich mich als Quitzowſcher Banner⸗ 
traͤger von dem eigentlichen Gros um ein geringes abheben 
durfte; im ganzen aber duͤrfen mich der Herr General immer 
nur da ſuchen, wo Sie Gruppen und Rubriken finden: Erſter 
Buͤrger, zweiter Moͤrder, dritter Pappenheimer; ſo ſind mir 
die Wuͤrfel gefallen. Speziell im Tell bin ich natuͤrlich mit 
auf dem Ruͤtli und habe da den Mondregenbogen und dann 
ſpaͤter das Alpengluͤhen dicht hinter mir. Trotzdem — ich habe 
bis jetzt immer nur den Meier von Sarnen und ein einziges 
Mal auch den Auf der Mauer geſpielt, und ich darf hinzuſetzen, 
mein Ehrgeiz verſteigt ſich uͤberhaupt nicht hoͤher als bis zu 
Roͤſſelmann. Ein ſchwacher Aufſtieg. Aber um Ihnen nichts 
zu verſchweigen, man verletzt auch ſchon durch ein ſo beſcheidenes 
Avancement andrer Intereſſen. Und ſoviel liegt mir wieder 
nicht dran.“ 


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„Bravo, bravo. Ganz mein Fall. Nur nicht andre beiſeite 
ſchieben, nur nicht über Leichen.“ 5 

„Und dann, Herr General, wie man mit Recht ſagt, daß 
auch die kleinen Exiſtenzen ihre großen Momente haben, ſo 
ganz beſonders auch beim Theater. Da iſt beinahe keiner unter 
den mir gleichgeſtellten Kollegen, der ſich nicht ſagte: „Ja, dieſer 
Matkowsky! Dieſer Matkowsky ſpielt den Mortimer und den 
Prinzen in Calderons ‚Leben ein Traum', und er ſpielt beide 
gut, ſehr gut; aber den Frießhardt (das iſt, Verzeihung, der 
Kriegsknecht, der vor Geßlers Hut Wache ſteht), oder den 
Deveroux, der den Wallenſtein mit der Partiſane niederſtoͤßt, 
oder die Here im „Fauſt' oder — verzeihen Sie, meine Damen, 
daß ich meine Beiſpiele anſcheinend mit Vorliebe grade aus 
dieſer Sphäre nehme — die dritte Macbethexe, die ſpiele ich, 
da bin ich ihm über, dieſem Matkowsky. ... Und ſolche gluͤck⸗ 
lichen Momente habe ich auch.“ 

„Mir ſehr intereſſant, mein lieber Herr von Kleſſentin. 
Und nun muͤſſen Sie auch noch einen Schritt weiter gehn 
und außer dem Meier von Sarnen, von dem ich, offen geſtanden, 
eine nur dunkle Vorſtellung habe, mir alſo außer dieſem Meier 
von Sarnen noch ein paar andre Ihrer Paradepferde nennen, 
klein oder groß, denn man kann bekanntlich auch auf einem 
Pony paradieren.“ 

„Es ſchmeichelt mir, ſo viel freundlichem Intereſſe bei Ihnen 
zu begegnen, und ich wuͤnſche nur, daß meine gern abzulegen⸗ 
den Geſtaͤndniſſe mich um dies freundliche Intereſſe nicht 
bringen moͤgen. Meine Begabung, wenn uͤberhaupt von einer 
ſolchen die Rede ſein kann, liegt naͤmlich ſonderbarerweiſe nach 
der Seite des Grotesken hin; auch meine heutige Rolle ſtreifte 
wenigſtens dieſes Gebiet, und ſo darf ich denn wohl ſagen, daß 
ich meine kleinen Triumphe bisher im Sommernachtstraum 
und beſonders in Shakeſpeares Heinrich dem Vierten, zweiter 
Teil, errungen habe. Der Zufall, ein gluͤcklicher oder ungluͤck⸗ b 


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licher, hat es fo gefuͤgt, daß ich die ganze Reihe der Fallſtaff⸗ 
ſchen Rekruten, alſo des ſogenannten „Kanonenfutters“, durch⸗ 
geſpielt habe, mit Ausnahme des Schwaͤchlich. Einmal wurd 
ich ſogar durch Haͤndeklatſchen von ſeiten Seiner Majeſtaͤt aus⸗ 
gezeichnet, was mich begreiflicherweiſe ſehr begluͤckte. Beim 
Publikum aber hab ich bisher in der Rolle des Bullkalb am 
meiſten angeſprochen.“ 

Thereſe begleitete dies Wort mit einer ſtolzen Kopfbe⸗ 
wegung, die Herrn von Kleſſentin nicht entging, weshalb er 
ſofort hinzuſetzte: „Wenn man erſt mal, und ich muß deshalb 
wiederholentlich die Verzeihung der Damen anrufen, beim 
Beichten iſt, ſo kommen leicht Dinge zum Vorſchein, die mehr 
oder weniger anſtoͤßig wirken. Und beſonders wenn Shake⸗ 
ſpeare in Frage ſteht. In eben dieſem Heinrich dem Vierten 
begegnen wir Perſonen und Namen, einer Witwe Hurtig 
beiſpielsweiſe ... Nun, dieſe Witwe ſelbſt moͤchte noch gehn, 
aber neben ihr waltet auch ein blondes Dorchen ſeines Amtes, 
ein junges Mädchen mit einem Zunamen...“ 

„O, ich weiß, ich weiß,“ lachte Manon. 

„Du weißt es nicht,“ ſagte Thereſe mit dem ganzen Ernſt 
einer älteren Schweſter, die den Schul⸗ und Erziehungsgang 
der juͤngeren uͤberwacht und daraufhin eine Verantwortlich⸗ 
keit übernommen hat. 

„Doch, doch, und Leo kann es bezeugen. Und er muß 
es ſogar, damit der Armſte mal wieder zu Worte kommt. Er 
iſt ja ganz in bewunderndem Zuhoͤren aufgegangen, und ich 
wette, er hat die ganze Zeit über überlegt, welche Rollen ihm 
am beſten paſſen wuͤrden.“ 

Sophie legte den Finger auf den Mund. Aber Manon ſah 
es nicht oder wollte es nicht ſehen und fuhr fort: „Und wir er⸗ 
leben es auch noch, daß wir nach dem Vorbilde von „Manfred 
Herr Manfred‘ auf dem Theaterzettel leſen: „Leo ... Herr 
Leo.. Der von ihm zu Spielende muß aber natuͤrlich ein Papſt 


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fein, unter dem tu ich es nicht. Ja, Leo, das iſt mein Ernſt. 
Und ich wuͤrde mich vielleicht auch freuen, dich auf der Buͤhne 
zu ſehn. Warum auch nicht? Ich meine, man muß nur be⸗ 
ruͤhmt ſein; auf welchem Gebiet, iſt eigentlich ganz gleich.“ 

„Das iſt dann,“ unterbrach Thereſe, „der Grundſatz jenes 
auch beruͤhmt Gewordenen, der den Tempel zu Korinth an⸗ 
zuͤndete ..“ i 

„Epheſus .. .“ verbeſſerte Leo. „Korinth, da waren die 
Kraniche ...“ 

„Das iſt gleich, Tempel iſt Tempel. Im uͤbrigen verzeih, 
Onkel, wenn ich, dir vorgreifend, an unſern Auf bruch mahne. 
Auch Herr von Kleſſentin wird mir verzeihen. Aber unſre 
gute Mama...“ 

„Verſteht ſich, verſteht ſich. Und noch dazu heute an ihrem 

Geburtstage ... Leo (und Onkel Eberhard nahm bei dieſen 
Worten einen Schein aus ſeiner Brieftaſche), bitte, bemaͤchtige 
dich des Kellners und bring alles ins klare. Herr von 
Kleſſentin, Sie begleiten uns vielleicht eine Strecke ...“ 

„Mir eine große Ehre, Herr General. Aber bitte zugleich 
verzeihen zu wollen, wenn ich ſchon an der Friedrichſtraßen⸗ 
ecke mich verabſchiede. Eine Verabredung ... zwei Kameraden 
von meinem alten Regiment. Ich wuͤrde verſuchen,“ und er 
wandte ſich an die jungen Damen, „Ihnen auch Ihren Herrn 
Bruder abtruͤnnig zu machen (wenn man mal in Berlin iſt, will 
man auch Berliner Luft genießen), aber ich zweifle, daß ſeine 
ritterlichen Geſinnungen ihm dieſe Fahnenflucht geſtatten.“ 

„Es wird ſich leider verbieten, Herr von Kleſſentin,“ ſagte 
Thereſe mit einem bedeutungsvollen Laͤcheln. „Und was die 
Berliner Luft angeht, ich glaube, wir haben ſie in der Groß⸗ 
goͤrſchenſtraße reiner als in der Friedrichſtraße ...“ 

„Reiner, aber nicht echter .. . mein gnaͤdigſtes Fraͤulein.“ 


Leo, der inzwiſchen die Rechnung beglichen hatte, geſellte 


ſich ihnen wieder, und ſo brach man denn in corpore auf: der 


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ien . 


J 


General mit Thereſe, Leo mit Manon, Herr von Kleſſentin mit 
Sophie, die weniger geſprochen, aber durch ihre Mienen all 
die Zeit uͤber ein beſonderes Intereſſe gezeigt hatte. 

Sie fragte waͤhrend ihres jetzt beginnenden Geplauders 
mit ihrem Partner auch nach Fräulein Konrad, von deren Verz 
lobung ſie ganz vor kurzem gehoͤrt habe. „Der Verlobte,“ 
ſo bemerkte ſie, „ſoll ein ſehr ſcharfer Kritiker ſein. Ich denke 
es mir ſchwer, einen Kritiker immer zur Seite zu haben. Es 
bedruͤckt und laͤhmt den hoͤheren Flug.“ 

„Nicht immer. Wer fliegen kann, fliegt doch.“ 

„Ich freue mich, das aus Ihrem Munde zu hören...” 

Und bei dieſen Worten hatte man die Ecke der Leipziger⸗ und 
Friedrichſtraße erreicht, und Herr von Kleſſentin empfahl ſich; die 
Poggenpuhls aber gingen weiter auf das Potsdamer Tor zu, wo 
man ſich am Fuͤrſtenhofe — nachdem Leo nicht bloß eine exakte 
Rechnungsablegung, ſondern zu des Onkels großer Erheiterung 
auch eine Behaͤndigung des verbliebenen Reſtes verſucht hatte — 
mit einem „bis auf morgen“ voneinander verabſchiedete. 


Achtes Kapitel 


Mitternacht war dicht heran, als die Geſchwiſter vor ihrer 
Wohnung eintrafen. Sophie hatte den Schluͤſſel und ſchloß 
auf. In einer gewiſſen Erregung, in der ſie ſich mehr oder 
weniger befanden, ſprachen ſie ziemlich laut auf der Treppe, 
was das Gute hatte, daß ihnen die uͤber das lange Ausbleiben 
ſchon etwas unruhig gewordene Friederike bis in den zweiten 
Stock entgegenkam und leuchtete. 

„Mama noch auf?“ fragte Leo. 

„Nein, junger Herr. Die gnaͤdige Frau hat ſich ſchon gleich 
nach neun zu Bett gelegt; es war ihr ſo kalt. Aber ſie liegt 
bloß; ſie ſchlaͤft noch nicht.“ 


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7 x 


Unter dieſem kurzen Geſpraͤche hatten die jungen Damen 
ihre Maͤntel, Leo ſeinen Paletot abgelegt, und alle traten ge⸗ 
meinſchaftlich in das große Schlafzimmer, um die Mama 
noch zu begruͤßen, waͤhrend ſich Friederike in ihre er zu⸗ 
ruͤckzog. 

Die Majorin ſaß mehr im Bett, als ſie lag, und ſchien in 
beſſerer Stimmung als gewoͤhnlich. „Aber, Kinder, ſo ſpaͤt; 
nachtſchlafende Zeit; ich dachte ſchon, es wäre was paſſiert ...“ 

„Iſt auch, Mutter.“ 

„Na, das mag was Schoͤnes ſein. Vielleicht haſt du dein 
Vermoͤgen verloren. Aber davon hoͤr ich noch immer fruͤh ge⸗ 
nug. Komm, Manon, gib mir deine Hand und ſieh mich an. 
Und nun ruͤckt euch Stuͤhle ran und erzaͤhlt. Und du, Leo, 
kannſt dich unten auf die Bettkante ſetzen. Es iſt immer noch 
nicht ſo hart wie Lattenſtrafe; die gab es noch, als ich jung war. 
Ihr ſeid ja runde ſechs Stunden weg geweſen, und ein wahres 
Gluͤck, daß ich Friederike habe, mit der ich mich ausſprechen 
kann.“ 

„Was du wohl auch redlich getan haſt,“ ſagte Thereſe. 
„Du machſt dich immer ſo vertraulich mit ihr, mehr als eine 
Herrſchaft wohl eigentlich ſollte.“ N 

„Meinſt du?“ ſagte die Majorin, waͤhrend ſie ſich in ihrem 
Bett noch etwas hoͤher hinaufruͤckte. „Was meine vornehme 
Thereſe nicht alles weiß und meint. Aber nun will ich dir auch 
ſagen, was ich meine. Ich meine, daß ſolche ſchlichte Treue das 
Allerſchoͤnſte iſt, das Schoͤnſte fuͤr den, der ſie gibt, und das 
Schoͤnſte fuͤr den, der ſie empfaͤngt. Die Liebe der Kinder, 
auch wenn es gute Kinder ſind, die hat keine Dauer; die denken 
an ſich, und ich will's auch nicht tadeln und nicht anders haben; 
aber ſolch altes Hausinventar wie die Friederike, die will nichts 
als helfen und beiſtehn und fordert weiter nichts, als daß 
man mal danke ſagt. Und ich ſage dir, Thereſe, da ſteckt ein 
gut Teil Chriſtentum drin.“ ö 


62 


f 


„Ja, das glaubft du immer, Mutter.“ 

„Nein, das glaube ich nicht, das weiß ich. Aber wir wollen 
das laſſen; Leo ſoll lieber erzaͤhlen, wie alles war.“ 

„Ja, Mama, wenn ich davon erzaͤhlen ſoll, ſo kann ich es 
nur nach einer Dispofition, dreigeteilt, alſo wie ne Predigt.“ 

„Bitte, Leo...“ 

„Dreigeteilt alſo ſchlechtweg, ohne Zubemerkung oder Ver⸗ 
gleich. Erſter Teil: Onkel und die Quitzows; zweiter Teil: 
Onkel und Herr Manfred (Manfred iſt naͤmlich mein Kadetten⸗ 
freund Kleſſentin) und dritter Teil: Onkel und ... Aber davon 
erſt nachher; ich will meinen beſten Trumpf nicht gleich in einer 
großen Überſchrift ausſpielen.“ 

„Ach, Leo, das ſind ja wieder Flauſen; hinterher iſt es gar 
nichts.“ 

„Fehlgeſchoſſen, wie du gleich ſehen wirſt. Aber jetzt auf⸗ 
gepaßt. Erſt alſo: Onkel und die Quitzows.“ 

„Der gute Onkel! Er wird natürlich über all die Rodo⸗ 
montaden entzuͤckt geweſen ſein.“ 

„Mitnichten, Mutter. Ich moͤchte vielmehr umgekehrt an⸗ 
nehmen, daß er, trotzdem er den Dietrich von Quitzow be⸗ 
wunderte, nicht ſo recht auf ſeine Koſten gekommen iſt. Aber es 
ſtehe dahin. Nur ſoviel, als die Straußberger mit Sack und 
Pack anruͤckten, ſprach er ziemlich laut (und jedenfalls fo, daß 
es einen genieren konnte) von Muͤhlendamm und Troͤdelmarkt. 
Am meiſten gefallen hat ihm offenbar eine huͤbſche Graͤfin, eine 
gewiſſe Barbara, die bei den Pommernherzoͤgen, das mindeſte 

zu ſagen, gut angeſchrieben ſtand und es nun auch mit unſerm 
Dietrich von Quitzow verſuchen wollte. Aber da kam ſie ſchoͤn 
an. Die Mark vertrat ſchon damals die höhere Sittlichkeit, alſo 

dasſelbe, wodurch ſie ſpaͤter ſo groß geworden iſt.“ 

Spotte nicht.“ 

1 „Und der Onkel zeigte auch darin wieder feine pommerſche 
P banmmung, daß er gleich in hellen Flammen ſtand und von 


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nn 


Manfred Kleſſentin, den wir nach der Vorſtellung im Theater; 
reſtaurant trafen, auf der Stelle wiſſen wollte, wer denn eigent⸗ 
lich die Graͤfin ſei. Das heißt, die Schauſpielerin, die die Graͤ⸗ 
fin gab.“ 

„Eine ſchoͤne Geſchichte ...“ 

„. . . Und da haben wir denn mit guter Manier auch 
gleich die Überleitung auf Teil zwei, auf Onkel Eberhard und 
Manfred Kleſſentin. Aber davon koͤnnen dir am Ende die 
Maͤdchen gerade ſo gut erzaͤhlen wie ich ſelbſt.“ 

Die Mama nickte. 

„. .. und fo denn lieber gleich Teil drei unter der impo⸗ 
ſanten Überſchrift: Onkel Eberhard und der Hundertmark 
ſchein. Und noch dazu ein ganz neuer. Ja, Mama, das war 
ein großer Moment. Er exiſtiert zwar nicht mehr als Ganzes, 
ich meine natuͤrlich den Schein, aber doch immer noch in ſehr 
reſpektablen Überreften. Hier find fie. Wie du dir denken kannſt, 
ſtraͤubt ich mich eine ganze Weile dagegen; als ich aber ſah, daß 
er es uͤbelnehmen wuͤrde ...“ 

„Leo, fo haft du noch nie gelogen ...“ 

„Selbſtverſpottung iſt keine Luͤge, Mama. Aber du ſiehſt 
daran ſo recht, wie unrecht du mit deiner ewigen Sorge haſt. 
„Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf‘, ſolch großes 
Dichterwort iſt nicht umſonſt geſprochen und darf nie vergeſſen 
werden. Ich bekenne gern, daß ich den ganzen Abend uͤber wegen 
des Ruͤckreiſebilletts in einer gewiſſen Unruhe war, denn ich 
darf wohl ſagen, ich gebe lieber, als ich nehme ...“ 

Die Maͤdchen lachten. 

„. . . Indeſſen, Gott verläßt keinen Deutſchen nicht und 
einen Poggenpuhl erſt recht nicht, und wenn die Not am groͤßten 
iſt, iſt die Hilfe am naͤchſten. So hab ich es immer gefunden. Und 
ſo ſchwimm ich denn augenblicklich ganz kreuzfidel wieder oben⸗ 
auf und, ſo Gott will, eine ganze Weile noch. Denn die Ruͤckreiſe 
macht keinen großen Abſtrich, auch wenn ich erſter Klaſſe fahre.“ 


64 


Dr 


„Aber Leo...“ 

„Beruhigt euch, Kinder. Ich werde ja nicht erſter Klaſſe 
fahren; es begluͤckt mich nur, ſo einen Augenblick denken zu 
koͤnnen, ich koͤnnt es. Alles bloß Phantaſie, Traumbild. Aber 
das iſt Ernſt: ich will wiſſen, wieviel ich von meinem Vermoͤgen 
hier laſſen ſoll; jede Summe iſt mir recht, und ich will auch keine 
Ruͤckzahlung und keine Zinſen. Ich will vielmehr dieſen Zu⸗ 
ſtand voll und rein genießen und will Wendelin mal uͤber⸗ 
trumpfen. Aber ihr ſagt ja nichts, auch du nicht, Mama.“ 

„Nun, ich nehme es fuͤr genoſſen an, Leo. Und nun geh 
in die Vorderſtube, und nimm Manon mit, ſie kann dir beim 
Packen behilflich ſein. Aber haltet euch nicht zu lange damit auf; 
ich weiß ſchon, ihr kommt immer ins Schwatzen und koͤnnt dann 
kein Ende finden. Und nun gute Nacht, und wir nehmen auch 
gleich Abſchied. Komm morgen fruͤh nicht an mein Bett, und 
bringe Wendelin meine Gruͤße, und es waͤre huͤbſch von ihm 
geweſen, daß er dir dieſe Reiſe gegoͤnnt. Er waͤre nun ſchon der 
Beſte von der Familie, ganz anders ...“ 

ie Leo. 

„Ja, ganz anders. Aber du kannſt doch bleiben, wie du biſt. 
So ſind alle alten Muͤtter; die Tunichtgute ſind ihnen immer 
die liebſten, wenn ſie nebenher nur das Herz auf dem rechten 
Fleck haben. Und das haſt du. Du taugſt nichts, aber du biſt 
ein lieber Kerl. Und nun gute Nacht, mein Junge.“ 

Er ſtreichelte ſie und gab ihr einen Kuß, und dann ging 
er mit der juͤngſten Schweſter, die ſeine beſondere Vertraute 
war, nach vorn, um da fuͤr den Abreiſemorgen alles in Ord⸗ 
nung zu bringen. 


Als ſie mit dem Kofferpacken fertig waren, nahm Manon 
Leos Hand und ſagte: „Setz dich da in die Sofaecke; ich muß 
noch ein paar Worte mit dir ſprechen.“ 

„Brrr. Das klingt ja ganz ernſthaft. Iſt es ſo was?“ 


Ws 65 


„Ja, es ift fo was. Freilich in deinen Augen kaum. Und 
nun hoͤre zu, ganz aufmerkſam. Ich bin naͤmlich einigermaßen 
in Sorge, daß du, deiner ewigen Schulden halber, falſche 
Schritte tuſt. Und noch dazu in Thorn. Ich bitte dich, übereile 
nichts. Du haſt neuerdings ein paarmal Andeutungen ge⸗ 
macht, erſt in deinen Briefen und nun auch hier wieder, ſo 
heute abend noch auf dem Heimwege. Du weißt, daß ich in dieſer 
delikaten Sache nicht wie Thereſe denke; ſie haͤlt die Poggenpuhls 
fuͤr einen Pfeiler der Geſellſchaft, fuͤr eine ſtaatliche Saͤule, 
was natürlich lächerlich iſt; aber du deinerſeits haft umgekehrt 
eine Neigung, zu wenig auf unſern alten Namen zu geben oder, 
was dasſelbe ſagen will, auf den Ruhm unſres alten Namens. 
Ruhm und Name ſind aber viel.“ 

„Kann ich zugeben, Manon; aber wer hat heutzutage nicht 
einen Namen? Und was macht nicht alles einen Namen! 
Pears Soap, Blookers Cacao, Malzextrakt von Johann Hoff. 
Rittertum und Heldenſchaft ſtehen daneben weit zuruͤck. Nimm 
da beiſpielsweiſe den Marſchall Niel! Er hat, glaub ich, Se⸗ 
baſtopol erobert und war, wenn ich nicht irre, verzeih den Ka⸗ 
lauer, ein Genie im ‚Genie‘; jedenfalls eine militärifhe Bes 
ruͤhmtheit. Und doch, wenn nicht die Roſe nach ihm hieße, 
wuͤßte kein Menſch mehr, daß er gelebt hat. Indeſſen laſſen 
wir Niel; was geht uns am Ende Niel an? Nehmen wir lieber 
etwas, was uns viel, viel naͤher liegt, nehmen wir da beiſpiels⸗ 
weiſe den großen Namen Hildebrand. Es gibt, glaub ich, drei 
beruͤhmte Maler dieſes Namens, der dritte kann uͤbrigens auch 
ein Bildhauer geweſen ſein, es tut nichts. Aber wenn irgendwo 
von Hildebrand geſprochen wird, wohl gar in der Weihnachts⸗ 
zeit, ſo denkt doch kein Menſch an Bilder und Buͤſten, ſondern 
bloß an kleine dunkelblaue Pakete mit einem Pfefferkuchen 
obenauf und einer Strippe drum herum. Ich ſage dir, Manon, 
ich habe mein Poggenpuhlhochgefuͤhl gerade ſo gut wie du und 
faſt ſo gut wie Thereſe; wenn ich dieſes Hochgefuͤhls aber froh 


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werden foll, fo brauche ich zu meinem Poggenpuhlnamen, der, 


trotz aller Berühmtheit, doch leider nur eine einſtellige Zahl 


iſt, noch wenigſtens vier Nullen. Eigentlich wohl fuͤnf.“ 


„Ich habe nichts dagegen, Leo, daß du ſo rechneſt; ganz 
im Gegenteil. Bin ich doch ſelber nicht aͤngſtlich in dieſem 
Punkte. Ja, ich gebe zu, du mußt ſo rechnen. Aber ich fuͤrchte, 
du rechneſt nicht an der richtigen Stelle. Da ſind Bartenſteins, 
da iſt Flora ... Ja, das wäre was. Flora Bartenſtein iſt 
ein kluges und ſchoͤnes Maͤdchen und dazu meine Freundin. 
Und reich iſt ſie nun ſchon ganz gewiß. Alſo daruͤber ließe ſich 
reden. Aber in Thorn, wovon du beſtaͤndig ſchreibſt und 
ſprichſt, . . freilich immer nur fo dunkel und bloß in Andeu⸗ 
tungen. Ich bitte dich, Leo, was ſoll das? In Thorn! 
Wie heißt ſie denn eigentlich?“ 

„Eſther.“ 

„Nun, das ginge. Viele Englaͤnderinnen heißen ſo. Und 
ihr Vatersname?“ 

„Blumenthal.“ 

„Das iſt freilich ſchon ſchlimmer. Aber am Ende mag auch 
das hingehen, weil es ein zweilebiger Name iſt, ſozuſagen à deux 
mains zu gebrauchen, und wenn du Stabsoffizier biſt (leider noch 
weitab), und es heißt dann bei Hofe, wo du doch wohl verkehren 
wirft; ‚Die Frau Majorin oder die Frau Oberſt von Poggen⸗ 
puhl iſt eine Blumenthal‘, fo Hält fie jeder für eine Enkelin des 
Feldmarſchalls. Ein Poggenpuhl, der eine Blumenthal hei⸗ 
ratet, ſoviel Vorteil muß man am Ende von einem alten Namen 
haben, ruͤckt ſofort auf den rechten Flügel der Möglichkeiten.” 
„Bravo, Manon. Alſo deine Bedenken zerrinnen.“ 
„Doch nicht ganz: ſoviel kann ich nicht zugeben. Ich muͤhe 
mich nur einfach, aus Eſther und Blumenthal das Beſte zu 
machen. Außerdem, ich begreife deine Lage, fuͤhle den Druck 
mit und freue mich, daß du heraus willſt. Aber wenn es irgend 
ſein kann, bleibe im Lande und naͤhre dich redlich; laß es nicht 


s* 67 


an der Weichſel fein, nicht Eſther; fie kann, wie fie auch ſei, an 
Flora nicht heranreichen. Zudem, die ganze Bartenſteinſche 
Familie — es ſind drei Bruͤder, zwei in der Voßſtraße — hat 
ein beſonderes Anſehen; der, in deſſen Hauſe ich verkehre, iſt 
ein Ehrenmann, beilaͤufig auch noch ein Humoriſt, und ich bin 
ſicher, daß er bei der naͤchſten Anleihe geadelt wird. In meinen 
Augen iſt das nichts von Bedeutung, ja, beinahe ſtoͤrend, denn 
ich haſſe alles Halbe, was es doch am Ende bleibt. Aber vor 
der Welt ...“ 

„Ich will es mir uͤberlegen, Manon. Vorlaͤufig find ich es 
entzuͤckend, ſo gleichſam die Wahl zu haben; wenigſtens kann 
ich mir ſo was einbilden. Am liebſten freilich blieb ich noch eine 
Weile, was ich bin; ein Junggeſelle ſteht doch obenan. Nur der 
„Witwer mit feinem Blick in Vergangenheit und Zukunft ſteht 
vielleicht noch hoͤher. Aber das kann man nicht gleich ſo haben. 
Und nun gehab dich wohl. Mama wird ſich ſchon wundern, 
was wir noch alles wieder miteinander gehabt haben.“ 

Und bei dieſen Worten trennten ſie ſich. 

Manon aber trat noch an das Bett der Mutter, um zu 
ſehen, ob ſie ſchliefe. 

„Du haſt geweint, Mama.“ 

„Ja, Kind. Aber gute Traͤnen; die tun wohl.“ 


Neuntes Kapitel 


Manon war fruͤh auf, um dem Bruder noch bei der Abreiſe 
behilflich zu ſein; die beiden andern Schweſtern aber beſchraͤnk⸗ 
ten ſich darauf, als Leo den Korridor paſſierte, ihm ihre Arme 
durch den Tuͤrſpalt entgegenzuſtrecken. 

„Ich kenne euch doch,“ ſagte Leo, „der dicke Arm, das iſt 
Sophie.“ Die von ihm geſtellte Diagnoſe war denn auch richtig, 
aber fuͤr Thereſe verletzlich, und ſo empfing der Abſchieds⸗ 


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moment einen kleinen Beigeſchmack von Verſtimmung. Frie⸗ 
derike, die natuͤrlich mit aufgeſtanden war, trug den Koffer 
bis an den naͤchſten Droſchkenſtand, und als Leo hier gewählt 
und Platz genommen und dem Kutſcher „Friedrichſtraßenbahn⸗ 
hof“ zugerufen hatte, druͤckte er Friederike etwas in die Hand, 
das dieſe — trotzdem ihr bei den Poggenpuhls eigentlich wenig 
Gelegenheit gegeben war, ein feines Abſchaͤtzungsvermoͤgen 
fuͤr im Halbdunkel gereichte Trinkgelder auszubilden — ſofort 
als einen richtigen preußiſchen Taler erkannte. Der Schreck 
daruͤber war beinahe noch groͤßer als die Freude. 

„Gott, junger Herr ...“ 

„Ja, Friederike, die Tage ſind verſchieden, und wenn es 
nach mir ginge...” 

„Nein, nein. .“ 

„. Und wenn es nach mir ginge, fo nahm ich gleich 
den ausgehoͤhlten Edamer, der doch wohl noch da iſt, und 
ſchuͤttete ihn dir voll lauter Goldſtuͤcke. Na, nun mit Gott, 
vorwärts,” Und dabei gab er ihr noch die Hand, und die Droſchke 
ſetzte ſich in eine wilde, aber ſchnell nachlaſſende Bewegung. 


Auf dem Heimwege von der Potsdamerſtraßenecke bis 
wieder nach Hauſe kamen Friederike allerlei Betrachtungen. 
„Es kann einen doch eigentlich ruͤhren,“ ſagte ſie. „Und wenn 
ich dann fo an das reiche Volk denke, wo ich früher war, und 
gar kein Menſch nich. Und daneben nun dieſe Poggenpuhls! 
Eigentlich haben ſie ja gar nichts, un mitunter genier ich mich, 
wenn ich ſagen muß: „Ja, gnaͤdge Frau, der Scheuerlappen 
geht nu nich mehr. Aber ſie haben doch alle ſo was, auch die 
Thereſe; ſie tut wohl ein bißchen groß, aber eigentlich is es 
doch auch nich ſchlimm. Un nu das Leochen! Ein Tunichtgut 
iſt er, und ein Flauſenmacher, da hat die arme alte Frau ganz 


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geht es einem... Aber man is doch immer ein Menſch, un 
darin ſind ſie ſich alle gleich. Ich bin froh, daß ich ſolche Stelle 
habe; ſatt wird man ja doch am Ende, un wenn es mitunter 
knapp is, denn koſten ſie bloß un laſſen einen alles; aber ich 
mag denn auch nich; wenn man das ſo ſieht, da ſteckt es einen 
auch in'n Hals un will nich runter. Ja, ja, das liebe Geld... 
Un 'n Taler. Wo er ihn bloß her hat? Na, der Onkel wird 
wohl ordentlich in die Taſche gegriffen haben.“ 

Als Friederike wieder oben war, fand ſie die beiden alteren 
Maͤdchen ſchon am Kaffeetiſch, und Manon kniete vor dem 
Ofen, um einzuheizen. Als es zuletzt brannte, kam auch die 
Mutter und nahm wie gewoͤhnlich ihren Platz auf dem Sofa. 

„Na, iſt er gut fortgekommen?“ 

„Ja, Mama,“ ſagte Manon, „und ich ſoll dir auch noch 
einen Kuß von ihm geben, und du waͤrſt doch die Beſte, wenn 
du auch keine richtige Poggenpuhl waͤrſt ...“ 

„Nein, das bin ich nicht. Gott, Kinder, wenn ich auch eine 
waͤre, da waͤre die Elle ſchon lange viel laͤnger als der Kram.“ 

„Ach laß doch; es geht auch ſo. Nur immer Mut. Ich hatte 
mir ſchon vorgenommen, mit Flora zu ſprechen, und da mit 
einmal kam der Onkel ...“ 

„Ja, der hat mal wieder geholfen. Aber man muß nicht 
denken, daß es immer fo geht...“ 

„Nicht immer, Mama; aber doch beinah.“ 

„Ja, du biſt auch ſolch Leichtfuß, ganz wie der Bruder. 
Und mit dem jungen Kleſſentin wird es wohl auch ſo geweſen 
ſein. Da ſeht ihr, was dabei herauskommt. Und nun heißt 
er Herr Manfred. Und wenn nicht ein Wunder geſchieht, 
und ihr habt ja auch ſchon ſo was geſagt, ſo leſen wir auch noch 
mal auf dem Theaterzettel: Herr Leo. Wie fandet ihr denn den 
jungen Kleſſentin? Und wie kam denn der Onkel mit ihm aus 
oder er mit dem Onkel? Es muß doch eine rechte Verlegenheit 
geweſen ſein.“ 


70 


* 


„Nein, Mama,“ ſagte Sophie. „Und warum auch? Man 
muß es nur immer richtig anſehen. Ich bin doch auch von Adel 
und eine Poggenpuhl, und ich male Teller und Taſſen und 
gebe Klavier⸗ und Singunterricht. Er ſpielt Theater. Es iſt 
doch eigentlich dasſelbe.“ 

„Nicht fo ganz, Sophie. Das Öffentliche. Da liegt es.“ 

„Ja, was heißt oͤffentlich? Wenn fie bei Bartenſteins 
tanzen und ich ſpiele meine drei Taͤnze, weil es unfreundlich 
waͤre, wenn ich nein ſagen wollte, dann iſt es auch oͤffentlich. 
Sowie wir aus unſerer Stube heraus ſind, ſind wir in der 
Offentlichkeit und ſpielen unſre Rolle.“ 

„Gut, gut, Sophie. Du ſollſt recht haben; ich will es 
glauben. Aber der junge Kleſſentin. Was ſpielt er denn eigent⸗ 
lich? Ich habe doch noch nie von ihm geleſen.“ 

„Er hat immer nur ganz kleine Rollen und nannte auch 
ein paar. Aber, was einen troͤſten kann, er ſetzte gleich hinzu, das 
mache keinen rechten Unterſchied, und die kleinen Rollen, auf 
die kaͤm es mitunter auch an, gerade ſo gut wie auf die großen. 
Und alles, was er ſagte, klang ſo nett und ſo zufrieden und 
ſo voll guter Laune, daß Onkel Eberhard ganz eingenommen 
von ihm war und ihn begluͤckwuͤnſchte.“ 

„Ja, das glaub ich. Der gute Onkel iſt eine Seele von 
Mann und kann das Wichtigtun und das Aufſtelzengehen 
nicht leiden, und wenn einer ſagt: ,ich bin fürs Kleine,‘ der hat 
gleich ſein Herz gewonnen. Er mag's nicht, wenn die Menſchen 
ſich aufblaſen und ſo tun, als ob ſie ohne Atlastapeten nicht 
leben koͤnnten. Er iſt fuͤr ſeine Perſon beinahe beduͤrfnislos 
und mit allem zufrieden, und deshalb will ich ihn auch bitten, 
heute mittag mit uns fuͤrlieb zu nehmen. Denn ich denke doch, 
daß er noch mit herankommt. Was koͤnnen wir ihm denn wohl 
vorſetzen? Du haſt ja die Woche, Sophie; was meinſt du?“ 

„Nun, ich meine: Weißbierſuppe mit Sago, die hat ihm 
das vorige Mal ſo gut geſchmeckt. Und dann haben wir noch 


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eine kleine Schuͤſſel Teltower Rüben und können von der 
Spickgans aufſchneiden.“ 

„Das wird nicht gehen,“ ſagte Thereſe. „Die Spickgans 
iſt aus Adams dorf, von der Tante.“ 

„Tut nichts. Spickgaͤnſe kann man nicht unterſcheiden. 
Und wenn er es merkt, iſt es eigentlich eine kleine Aufmerk⸗ 
ſamkeit. Und als dritten Gang denk ich mir dann Sahnen⸗ 
baiſers von Konditor Eſchke druͤben. Und dann Butterbrot 
und Kaͤſe.“ 

Die Mutter, die das Ganze nur als eine ſymboliſche Handlung 
anſah und ſehr wohl wußte, daß der Onkel vorher gefruͤhſtuͤckt 
haben wuͤrde, war mit dieſem Menuͤ zufrieden und verlangte 
nur noch, daß die Toͤchter, die noch nachtraͤgliche Neujahrs⸗ 
viſiten in der Stadt zu machen hatten, um ſpaͤteſtens zwei Uhr 
wieder zu Hauſe waͤren, weil es ſonſt zu ſpaͤt wuͤrde. Bis dahin 
wollte ſie den Onkel ſchon feſthalten. 

Und nachdem auf dieſe Weiſe alles geordnet war, raͤumte 
man den Kaffeetiſch ab und begab ſich in das Hinterzimmer, 
um da fuͤr die noch ausſtehenden Beſuche die noͤtige Toilette 
zu machen. 


Alle drei Schweſtern verließen gleichzeitig die Wohnung, 
um vom Botaniſchen Garten aus die Pferdebahn zu benutzen, 
deren „Zonentarif“ ſie ſehr genau kannten. Die alte Majorin, 
als alles ausgeflogen, ging nun auch ihrerſeits an ihre „Re⸗ 
ſtituierung“ und war kaum damit fertig, als fie draußen auf 
dem Vorflur ein ziemlich lautes und gemuͤtliches Sprechen 
hörte, dag keinen Zweifel darüber ließ, daß der Schwager⸗ 
general gekommen ſein muͤſſe. 

„Guten Morgen, Albertine. Verzeih, daß ich etwas fruͤh 
komme, aber, wie ich ſehe, doch nicht zu fruͤh. Alles ſchon blink und 
blank, alles ſchon in full dress, wenn man dies von einer Dame 
ſagen kann; ‚full dress iſt nämlich eigentlich wohl maͤnnlich 


72 


und heißt glaub ich ſoviel wie Frack oder Schniepel. Früher 
ſagte man Schniepel.“ 

„Ach, Eberhard, du meinſt es gut und haſt immer ein 
freundliches Wort und ſiehſt es auch gleich, daß ich mir meine 
Staatshaube mit einem neuen Band aufgeſetzt habe. Aber 
mit mir iſt Spiel und Tanz vorbei.“ 

„Nicht vorbei, Albertine. Immer noch eine propre Frau. 
Und du biſt ja noch keine ſechzig. Aber wenn auch. Was ſind 
Jahre? Jahre ſind gar nichts. Sieh mich an. Eben kam ein 
Bataillon von eurem Eiſenbahnregiment an mir vorbei, — 
ich fage ‚von eurem‘, denn ihr habt es ja hier in eurer Straße 
— und ich kann dir ſagen, wie ich bloß den erſten Paukenſchlag 
hoͤrte, da ging es mir wieder durch alle Glieder und ich fuͤhlte 
ordentlich, wie das alte Gebein wieder jung und elaſtiſch wurde. 
Man hat immer das Spiel in der Hand und iſt gerade ſo jung 
wie man ſein will. Aber du ſpinnſt dich zu ſehr ein, da wird 
man Antiquitaͤte, aͤgyptiſches Muſeum, man weiß nicht wie. 
Sieh zum Beiſpiel geſtern. Warum warſt du nicht mit dabei?“ 

„Lieber Eberhard, Theater, — es iſt nichts mehr fuͤr mich.“ 

„Falſch, falſch. So denkt jeder. Aber iſt man erſt drin im 
Feuer, dann hat man auch das alte Vergnuͤgen wieder. Ich 
ſage dir, Albertine, wenn du dieſen Quitzow, dieſen Dietrich 
von Quitzow, geſehen haͤtteſt, Studie nach Bismarck, aber 
Bismarck Waiſenknabe daneben. Augenbrauen wie ne Schuh⸗ 
buͤrſte. Muͤſſen das Leute geweſen ſein. Und ſein Bruder ſoll 
noch toller ausgeſehen haben, weil er bloß ein Auge hatte. Po⸗ 
lyphem. Hieß er nicht Polyphem?“ 

„Ich glaube, Eberhard. Wenigſtens gibt es ſo einen.“ 

„Und dann nach dem Theater. In der Kneipe. Nun, 
die Kinder werden dir davon erzaͤhlt haben und von dieſem 
Herrn Manfred, dieſem Kleſſentin. Ein reizender junger Kerl, 
ſchneidig, friſch, humoriſtiſch angeflogen. Ach, Albertine, mit; 
unter iſt mir doch ſo, als ob alles Vorurteil waͤre. Na, wir 


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brauchen es nicht abzuſchaffen; aber wenn andre ſich dran mas 
chen, offen geſtanden, ich kann nicht viel dagegen ſagen. Es 
hat alles ſo ſeine zwei Seiten. Adel iſt gut, Kleſſentin iſt gut, 
aber Herr Manfred iſt auch gut. Überhaupt, alles iſt gut, und 
eigentlich iſt ja doch jeder Schauſpieler.“ 

„Ach, ich nicht, lieber Eberhard.“ 

„Nein, du nicht, Albertine. Dir iſt es vergangen. Aber ich, 
ich bin einer. Sieh, ich ſpiele den Gemuͤtlichen, und ich darf nicht 
mal ſagen, daß ſich ſolche Schauſpielerei fuͤr einen General nicht 
paßte. Da gibt es noch ganz andre Nummern, die auch alle 
Komoͤdie geſpielt haben, Kaiſer und Koͤnige. Nero ſpielte und 
ſang und ließ Rom anzuͤnden. Jetzt iſt es Panorama, fuͤnfzig 
Pfennig Entree. Denke dir, ſo billig iſt alles geworden. Und 
vor zehn Jahren, wie mir eben einfaͤllt, waren hier ſogar die 
„Fackeln des Nero“ ausgeſtellt, ein großes Bild. Damals war 
ich noch in Dienſt, und ich ſehe die große Leinwand noch vor 
mir. Und du haſt es vielleicht auch geſehen.“ 

„Nein, Eberhard, ich habe ſo was nie geſehen. Ich mußte 
mir dergleichen immer verſagen. Du weißt ſchon weshalb.“ 

„Sprich nicht von ‚verfagen‘, Das Wort kann ich nicht 
leiden, man muß ſich nichts verſagen, und wenn man nicht will, 
braucht man auch nicht. Nun ſieh, das war ein Bild, ſo groß 
wie die Segelleinwand von einem Spreekahn oder wohl eigent⸗ 
lich noch groͤßer, und rechts an der Seite, ja, da war ja nun das, 
was die Gelehrten die „Fackeln des Nero‘ nennen, und ein paar 
brannten auch ſchon und die andern wurden eben angeſteckt. 
Und was glaubſt du nun wohl, Albertine, was dieſe Fackeln 
eigentlich waren? Chriſtenmenſchen waren es, Chriſten⸗ 
menſchen in Pechlappen einbandagiert, und ſahen aus wie 
Mumien oder wie große Wickelkinder, und dieſer Nero, der Ver⸗ 
anſtalter von all dieſer Graͤßlichkeit, der lag ganz gemuͤtlich auf 
einem goldnen Wagen, und zwei goldfarbne Loͤwen davor, 
und der dritte Löwe lag neben ihm, und er kraute ihn in feiner 


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Maͤhne, als ob es ein Pudel waͤre. Und nun ſieh, dieſer felbige 
Nero, der ſich ſo was leiſten konnte, der die ganze Welt, ich 
glaube bis hier in unſre Berliner Gegend, beherrſchte, der ſang 

und ſpielte auch, geradeſo wie dieſer Herr von Kleſſentin, und 

da frag ich mich denn: ‚ja, warum ſoll er nicht, dieſer junge 

Menſch?' Wenn ein Kaiſer ſpielen darf, warum ſoll Kleſſentin 

nicht ſpielen? ein unbeſcholtener junger Mann, der wahrſchein⸗ 
lich niemals ne Fackel angeſteckt hat, am wenigſten ſolche.“ 

Die Majorin reichte dem Schwager die Hand und ſagte: 

„Eberhard, du biſt immer noch derſelbe. Und Leo wird auch ſo. 
Dein Bruder Alfred war immer ernſt, ein rede zu ſehr, was 

wohl an den Verhaͤltniſſen liegen mochte. 

„Sprich nicht von 1 Albertine. Verhäͤleniſse, 
davon kann ich nicht hoͤren ... 

VUund es iſt merkwuͤrdig, daß die Kinder oft mehr den Cha⸗ 
rakter aus der Seitenlinie haben. Und ich will nur wuͤnſchen, 
daß ſein Lebensgang, ich meine Leos, auch ſo wird wie der 
deine, dasſelbe Gluͤck ...“ 

„Sprich nicht von Gluͤck, Albertine. Mag ich auch nicht 
hoͤren. Selbſt iſt der Mann. Aber nein, nein, ich will dies 
nicht geſagt haben ... Sprich nur von Gluͤck. .. Es iſt ganz 
richtig ... Ich habe Gluͤck gehabt. Erſt im Dienſt. Natuͤrlich 

immer meine Schuldigkeit getan, aber doch ſchließlich kein 

Moltke ... Gott ſei Dank uͤbrigens, daß es davon fo wenige 

gibt, ſie fraͤßen ſich ſonſt untereinander auf, und wenn es zum 

Klappen käme, hätten wir keinen ... Einer iſt ſchon immer das 
beſte, da gibt es keine Konkurrenz und keinen Neid. Aber nun 
laſſen wir Kleſſentin und Nero und Moltke und verſuchen wir 
ein ander Bild. Wo ſind die Maͤdchen?“ 

„Ausgeflogen. Und ich habe es unternommen, ſie bei dem 
guͤtigen Onkel zu entſchuldigen. Es waren aufgeſchobene Bes 

ſuche, hoͤchſte Zeit. Aber du ſiehſt fie noch. Ich rechne darauf, 

daß du bleibſt und unſer Gaſt biſt, ſo gut wir's haben.“ 


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„Ah, ah, ah. Kann ich nicht leiden. So gut wir's haben. 
Was heißt das? Ein Teller Suppe ...“ 

„Sophie ſprach von Weißbierſuppe mit Sago...“ 

„Vorzuͤglich. Und koͤnnte meine Beſchluͤſſe beinah umſtoßen. 
Aber ich habe noch allerhand zu tun und zu beſorgen. Eigent⸗ 
lich Unſinn; eine Poſtkarte beſorgt es alles viel beſſer. Aber 
meine Frau wuͤnſcht es. Und was eine Frau wuͤnſcht, iſt Be⸗ 
fehl, ſonſt iſt der Krieg da, worin wir Militaͤrs immer ge⸗ 
ſchlagen werden; je ſchneidiger, je groͤßer die Niederlage. 
Alſo ich muß fort. Und ſo gern ich die Maͤdchen alle drei noch 
mal geſehen haͤtte, ſo paßt es mir auch wieder, daß ſie nicht da 
ſind. Ich will naͤmlich eine nach Adamsdorf mitnehmen, meine 
Frau hat den Wunſch ausgeſprochen, und iſt nur noch die 
Frage, natuͤrlich deine Zuſtimmung vorausgeſetzt, welche?“ 

„Und du meinſt, die Frage beantwortet ſich beſſer unter uns.“ 

„Ja, Albertine.“ 

„Nun, da denke ich mir Thereſe. Sie war ſchon vorletzten 
Sommer mit deiner Frau in Pyrmont und kennt alles und 
hat ſich einigermaßen mit ihr eingelebt.“ 

Alles richtig. Und doch waͤre vielleicht ein Wechſel angezeigt. 
Laß mich offen zu dir ſprechen. Thereſe iſt ein vortreff liches 
Maͤdchen und eine Dame. Aber ſie hat von der Dame mehr, 
als meiner Frau lieb iſt. Meine Frau, eine Buͤrgerliche wie 
du, iſt von einfachen Lebensgewohnheiten und Anſchauungen, 
was ich alles nur billigen kann. Und Thereſe — du wirſt ver⸗ 
zeihen, daß ich es ſage — hat eine ziemlich ausgeſprochene Nei⸗ 
gung, ſich auf das Poggenpuhlſche hin auszuſpielen. Ich mag 
nichts dagegen ſagen und nehme perfönlich keinen Anſtoß 
daran. Aber meine Frau findet es etwas uͤbertrieben und hat 
auch ſeinerzeit Auseinanderſetzungen mit ihr daruͤber gehabt.“ 

„Ich verſteh, Eberhard. Und deine Frau hat recht. Es 
geht mir hier ebenſo mit ihr. Sie hat einen zuverlaͤſſigen Cha⸗ 
rakter und nimmt es ziemlich ernſt mit ihren Anſchauungen 


76 


von Adel und Adelspflicht. Aber es ift ſehr ſchwer, wenn man 
in Verhaͤltniſſen ...“ 

„Nein, nein, nein ...“ 

„ Wenn man auf ſo beſcheidenem Fuße lebt wie wir. 
Das gibt dann immer Meinungsverſchiedenheiten und Un⸗ 
liebſamkeiten. Aber wenn Thereſe nicht, wer dann? Von 
Manon wuͤrde ich mich nicht gern trennen.“ 

„Sollſt du auch nicht, Albertine. Manon iſt Neſhatthen 
und muß dir bleiben. Meine Frau hat ſich, ich wiederhole, 
deine Zuſtimmung vorausgeſetzt, für Sophie entſchieden. 
Die hat ihr ſehr gefallen, als ſie ſie hier ſah, und ihre Briefe 
haben ihr gefallen, auch die, die ſie an Thereſe ſchrieb. Alles 
ſo verſtaͤndig. Und meine Frau hat eine Vorliebe fuͤr das 
Verſtaͤndige, nur keine Flauſen und Redensarten und auf⸗ 
geſteifte Sachen. Und Mogeleien ſind ihr nun ſchon von Grund 
aus zuwider.“ 

„Davon hat Sophie, Gott ſei Dank, nichts. Ihr Leben iſt 
immer Arbeit geweſen, und ſie haͤlt eigentlich alles zuſammen, 
was ſonſt auseinander fiele.“ 

„Darf nicht. Darf nicht. Nichts darf auseinander fallen. 
Alſo Sophie! Meine Frau will naͤmlich allerlei Neues und will 
namentlich auch neue Wappenteller haben, was mich anfaͤng⸗ 
lich, offen geſtanden, aufs aͤußerſte verwunderte. Sie hat mir 
aber Aufſchluß daruͤber gegeben: Ich bin jetzt, ſagte ſie mir neu⸗ 
lich, eine Poggenpuhl, und da paßt es nicht mehr, daß alles 
noch das Leyſewitzſche Wappen hat; ich glaube, die Leute reden 
daruͤber, und das muß man vermeiden. Sophie malt ſo gut; 
ſie ſoll uns das Poggenpuhlſche Wappen malen, dabei wird ſie 
ſich auch wohlfuͤhlen und gluͤcklich ſein, ihre Gaben im Dienſte 
der Familie verwenden zu koͤnnen. Und dann iſt ſie ſo muſikaliſch. 
In der Daͤmmerſtunde zuhoͤren, wenn ein Schubertſches Lied 
geſpielt wird, darauf freu ich mich, das wird unſer ſtilles Haus 
beleben, und wir koͤnnen Beſuche dazu laden.“ 


7 55 


„Und wann denkſt du, daß fie reifen ſoll?“ 
„Gleich heute mit mir. Sie muß um drei mit ihrem Koffer 
in meinem Hotel ſein. Am beſten allein. Abſchiede verwirren, 


Küffe find lächerlich. Um vier geht der Zug, und um elf find 


wir in Adamsdorf.“ 


Damit erhob er ſich, und unter Gruͤßen an Thereſe und Ma⸗ 


non nahm er Abſchied. 


Zehntes Kapitel 


Sophie von Poggenpuhl an Frau von Poggenpuhl. 

Adamsdorf, 6. Januar 
Liebe Mama! Geſtern, gleich nach elf, ſind wir wohlbehalten 
hier eingetroffen. Ganz zuletzt, auf dem Wege von Hirſchberg 
hierher, entzuͤckte mich die Fahrt im offenen Wagen, trotzdem 
der Himmel bedeckt und das Gebirge, das zu ſehen ich mich 
ſo gefreut, in ſeinen Linien unſichtbar war. Aber in den Doͤrfern 
herrſchte doch noch Leben, und die Erdmannsdorfer Fabrik, 
in der auch die Nacht hindurch gearbeitet wird, leuchtete durch 
den Nebel, der zog. Es ſah mittelalterlich⸗romantiſch aus, 
als ob eine uralte Piaſtenfamilie darin wohnte. Hier in Adams⸗ 
dorf — nur ganz in der Ferne ſchlug noch ein Hund an und ein 
andrer antwortete — war ſchon alles ſtill, und ſtill war es 
auch auf dem Vorplatz vor dem Schloß. Ich aͤngſtigte mich einen 
Augenblick; aber wie fiel das alles von mir ab, als ich in den 
Salon trat und von der Tante aufs liebenswuͤrdigſte begrüßt 


wurde! Eine herrliche Frau. Ich begreife Thereſe nicht, die 


ſich nie ſo recht mit ihr ſtellen konnte. Vielleicht kommen auch 
fuͤr mich noch die Beſchwerlichkeiten, aber ich glaube es kaum. 
Daß Dir, mein altes Mutterchen, die Lebensloſe doch auch ſo 
gluͤcklich gefallen waͤren! Ich ſprach von: Salon. Ja, es war 
ein Salon, in den wir eintraten, aber viel mehr noch iſt es 


78 


> 1 


eine Halle. Der Vorbeſitzer von Adamsdorf, das in alten Zeiten 
eine Benediktinerabtei war, hat viel von den alten Kloſter⸗ 
gebäuden mit in den Neubau heruͤbergenommen, und dieſe 
Halle war vordem ein Refektorium; — durch den Raum hin 
ſtehen noch drei gotiſche Pfeiler, und in dem Kamin glomm 
ein Feuer, deſſen von Zeit zu Zeit aufflackernde Lichter an der 
gewoͤlbten Decke hinſpielten. Außer der Tante war nur noch 
eine Katze da, ein wunderſchoͤnes großes Tier, das ſpinnend 
um mich herum ging und mir dann auf den Schoß ſprang. 
Ich erſchrak; aber die Tante beruhigte mich und ſagte: das ſei 
eine Liebeserklaͤrung, womit Bob (es wird alſo wohl ein Kater 
fein) ſonſt ſehr zurüdhalte, Er ſei mißtrauiſch und eiferſuͤchtig. 
Weil wir ausgefroren waren, bat der Onkel um einen Eier⸗ 
punſch, den ſie hier aus Ungarwein und Gelbei machen. Es 
ſchmeckte mir ganz vorzuͤglich. Und was noch wichtiger, ich habe 
hinterher herrlich geſchlafen, und als ich zu guter Zeit aufſtand 
und die Jalouſien in die Hoͤhe zog, da lag das Gebirge, ganz 
von Schnee uͤberdeckt, in langer Linie vor mir. Wir wollen in 
den naͤchſten Tagen eine Partie nach der Heinrichsbaude machen 
und dann in einem Hoͤrnerſchlitten wieder zu Tale fahren. 
Es ſoll wunderſchoͤn ſein, aber ich aͤngſtige mich ein wenig. 
Ergeh es Dir gut. Gruß und Kuß Euch allen und (wenn Ihr 
ſchreibt) auch nach Thorn hin an die Bruͤder. 
In herzlicher Liebe 
Deine Sophie. 


Schloß Adams dorf, 16. Januar 


Liebe Mama! Ich habe mich nun ſchon ganz hier eingelebt. 
Die Tante verbleibt in ihrer Güte dieſelbe gegen mich, und 
auch Bob haͤlt in ſeinem Attachement aus. Er geht darin ein 
wenig zu weit, denn feine Zaͤrtlichkeitsbezeigungen haben immer 
etwas Überfallartiges. Mit einemmal ſpringt er mich an, 
immer noch die Tigernatur. Die Fahrt zur Heinrichsbaude 


79 


iſt vertagt worden. Man will noch einen friſchen Schneefall 
abwarten, denn es heißt: je maͤchtiger die Schneedecke, deſto 
ſchoͤner die Fahrt talwaͤrts und deſto gefahrloſer; der Schlitten 
fliegt dann über die Felsbloͤcke weg, als ob es Maulwurfs⸗ 
huͤgel waͤren. — Unſer Leben hier iſt ziemlich ſtill, wenig Beſuch, 
und außer unſerm Adamsdorfer Prediger, der dann und wann 
vorſpricht, kommen meiſt nur Prediger aus der Nachbarſchaft 
und ein alter Oberſt aus der Stadt; außerdem auch noch ein 
Amtsgerichtsrat und ſeine Frau. Dieſe Beſuche freuen mich 
immer ſehr, aber auch ohne ſie habe ich Unterhaltung die Huͤlle 
und Fuͤlle, weil die Tante gern aus ihrem Leben erzaͤhlt, am 
liebſten aus ihren Kindertagen, die ſie noch in Armut ver⸗ 
brachte. Zu dem allem haben wir auch noch eine merkwuͤrdige 
Bildergalerie hier, deren Grundſtock aus verſchiedenen Bild⸗ 
niſſen aus der Kloſterzeit her beſteht: Heiligenbilder (nicht viele), 
zu denen ſich die Portraͤts von Abten und Prioren und ſogar 
ein Fuͤrſtbiſchof von Breslau geſellen; dazwiſchen allerlei 
ſpezifiſch Preußiſches: Friedrich der Große (dreimal), Prinz 
Heinrich, General Tauentzien und zum Schluß ein Dutzend 
Bildniſſe von Perſonen aus der Familie des erſten Mannes 
der Tante. Lauter Leyſewitze. Von den Poggenpuhls nichts; 
nicht einmal das Portraͤt des Onkels. Ich nahm vor ein paar 
Tagen Gelegenheit, leiſe darauf hinzuweiſen, worauf er lachend 
erwiderte: „Ja, Fiechen (ſo nennt er mich immer), das Poggen⸗ 
puhlſche fehlt ganz und gar, was aber recht gut iſt; es herrſcht 1 
hier ſchon ein ungeheures Durcheinander, und wenn auch noch 
der ‚Hochfircher‘ und der ‚Sohrfche‘ hinzukaͤmen, fo wäre die 
Konfufion vollſtaͤndig.“ Der gute Onkel hat ſolchen bon sens, 
daß ihm der Hang, auch Mitglieder ſeiner eigenen Familie hier 
einziehen und mit den altſchleſiſchen Adligen in Wettſtreit 
treten zu ſehen, gaͤnzlich fernliegt. Und damit haͤngt es auch 
wohl zuſammen, daß die Wappentellerfrage ruht. Onkel Eber⸗ 
hard war wohl von Anfang an dagegen und hat nur ſchließlich, 


80 


ich will nicht fagen gern, aber doch ohne lange Kämpfe nach⸗ 
gegeben. All das hat ſich aber geaͤndert. Eine ganz andere 
Aufgabe harrt jetzt meiner, die mich ſtolz und gluͤcklich macht. 
Was dies andre nun iſt, davon das naͤchſte Mal. — Wenn 
Briefe von Wendelin oder Leo bei Euch eintreffen, ſo ſchickt 
ſie mir, zunaͤchſt natuͤrlich meinetwegen, aber doch auch des 
Onkels halber, der ſich fuͤr beide ganz aufrichtig intereſſiert 
und von jedem was erwartet, von Wendelin gewiß, aber auch 
von Leo. Leo, ſagte er noch heut, iſt ein Gluͤckskind, und das 
Beſte, was man haben kann, iſt doch immer das Gluͤck. Die 
Tante wurde dabei ganz ernſthaft und beſtritt es, beruhigte 
ſich aber, als er verbindlich und mit einer chevaleresken Hand⸗ 
bewegung ſagte: „Hab ich dich verdient oder war es Gluͤck?“ 
Sie gab ihm einen Kuß, was mich ruͤhrte, denn es war kein 
Zaͤrtlichkeitskuß, den ich bei alten Leuten nicht ſehen mag, ſon⸗ 
dern nur echte Zuneigung und Dankbarkeit. Und mit Recht. 
Denn ſo gewiß dieſe Verheiratung ihn gluͤcklich gemacht hat, 
ſo gewiß auch ſie. — Du ſiehſt aus dieſem allem, wie gluͤcklich 
ich hier bin, aber mitunter ſehne ich mich doch nach Dir und moͤchte 
Dir die Hände ſtreicheln. Angſtige Dich nur nicht zuviel. Es 
wird noch alles gut. Das laͤßt Dir der Onkel noch eigens 
durch mich vermelden. Er ſagte mir heut, es gaͤbe einen 
Wappenſpruch, der laute: „Sorg, aber ſorge nicht zuviel, 
es kommt doch, wie's Gott haben will.“ Und gegen dieſen 
Spruch, ſo ſchloß er, verſtießeſt Du mehr, als recht ſei. 
Ich hab uͤbrigens nicht, wie Du vielleicht glaubſt, mit ein⸗ 
geſtimmt, hab ihm vielmehr geſagt: „Wie weh etwas tut, 
weiß nur der, der das Weh gerade hat.“ Da hat er mir 
auch einen Kuß gegeben. Es iſt ein herrlicher Mann, und 
ich kann nicht herauskriegen, wer beſſer iſt, er oder ſie. Nun 
aber lebe wohl. 
Deine Sophie. 


IV 6 81 


ai ar 


Schloß Adams dorf, 19. Januar 
Heute, meine liebe Mama, nur eine Karte. Vorgeſtern iſt 
Schnee gefallen; er liegt um das Schloß her wie eine Mauer. 
Seit heute fruͤh aber klarer blauer Himmel, milde Kaͤlte, himm⸗ 
liſches Wetter. Wir wollen nun in den naͤchſten Tagen zu Fuß 
und zu Wagen bis auf den Kamm des Gebirges und dann in 
Hoͤrnerſchlitten zu Tal. Der Paſtor und ein Aſſeſſor aus der 
Stadt wollen teilnehmen. Ich freue mich unendlich darauf. 

Ergeh es Euch gut. 
Deine Sophie. 


Heinrichsbaude, 22. Januar 
Wieder nur eine Karte. Diesmal aber mit einem Bilde 
drauf (Heinrichsbaude). Wir ſind naͤmlich hier oben und wer⸗ 
den wenigſtens noch bis morgen bleiben, bleiben muͤſſen. 
Und daran bin ich ſchuld. Ich verfehlte, gleich als ich den Schlit⸗ 
ten beſtiegen und das Niederſauſen begonnen hatte, den rechten 
Weg und waͤre, rettungslos verloren, in den Krater geſtuͤrzt — 
den ſie, weil er unten Waſſer hat, den „kleinen Teich“ nennen —, 
wenn nicht ein in der richtigen Richtung fahrender Schlitten, 
der dies ſah, mit allem Vorbedacht von der Seite her in meinen 
Hoͤrnerſchlitten hineingefahren waͤre. Bei dieſem, ich muß ſagen 
gluͤcklichen, weil mich rettenden Zuſammenſtoß wurde ich 
herausgeſchleudert und mußte, weil ich, etwas verletzt, nicht 
gehen konnte, hierher zuruͤckgetragen werden. Wir erwarten 
in ein paar Stunden den Arzt aus Krummhuͤbel. Das iſt 
das naͤchſte große Dorf. Angſtigt Euch nicht. Auf Hoͤrner⸗ 
ſchlittenfahrten aber laß ich mich nicht wieder ein. Mein Retter 
war ein junger Aſſeſſor (adlig) und ſchon verlobt. Wie immer 

Deine Sophie. 


Schloß Adamsdorf, 25. Januar 
Zwei Telegramme des guten Onkels werden Oich uͤber mein 
Befinden beruhigt haben. Von Gefahr keine Rede mehr; 


82 


x 2 


Oberſchenkelbruch; in vier Wochen, ſpaͤteſtens in ſechs, kann 
ich wieder tanzen. Der Arzt iſt vorzuͤglich und ſehr dezent; Sohn 
eines Webers hier aus der Naͤhe (Notiz fuͤr Thereſe). Meine 
Rettung, wie ich Dir, glaub ich, ſchon ſchrieb, verdanke ich allein 
dem Aſſeſſor; er iſt natuͤrlich Reſerveleutnant und will, wenn 
es zum Kriege kommt, dabei bleiben. Akten ſind ihm zuwider, 
was der Amtsgerichtsrat, ſein Vorgeſetzter, laͤchelnd beſtaͤtigt. 
Daß ich ſo viele Wochen ruhig liegen muß, wuͤrde mir hart an⸗ 
kommen, wenn mir der Doktor nicht freie Bewegung meiner 
Arme geſtattet haͤtte. Die Tante ließ mir denn auch ſofort eine 
Stellage herrichten, ſo daß ich ohne Muͤhe ſchreiben und zeichnen 
kann. Ich mache davon den reichlichſten Gebrauch und fertige 
Skizzen über Skizzen. Und da iſt es denn auch wohl an der geit, 
Dir, meine gute Alte, von dem neuen Plan zu erzaͤhlen, hin⸗ 
ſichtlich deſſen ich ſchon vor ein paar Wochen, bald noch meinem 
Eintreffen hier, einige kurze Andeutungen machte. Statt mit 
dem Malen von Wappentellern, bin ich naͤmlich, hoͤre und 
ſtaune, mit Ausmalung unſrer proteſtantiſchen Kirche (das 
Dorf hat, wie faſt uͤberall hier, auch eine katholiſche) betraut 
worden, und zwar ſollen in all die tiefer liegenden Felder, die 
ſich um die Kirchenempore herumziehen, auf Holz gemalte bib⸗ 
liſche Bilder eingelaſſen werden, jedes etwa von der Größe 
eines zuſammengeklappten Spieltiſches. Eine freilich etwas 
ſonderbare Maß⸗ und Groͤßenangabe, wenn ich bedenke, daß 
es ſich um eine Kirche handelt. Natuͤrlich wird es nichts groß⸗ 
artig Kunſtmaͤßiges werden, dafuͤr iſt geſorgt, aber doch auch 
nichts Schlechtes, und, was mich am meiſten begluͤckt, ich werde 
die Aufgabe ganz neu zu loͤſen trachten. Alſo: „Joſeph wird 
nach Agypten hin verkauft,“ „Judith und Holofernes,“ „Sim⸗ 
I fon und Delila,“ — all dergleichen denk ich fallen zu laſſen und 
dafuͤr das zu nehmen, worin das Landſchaftliche vorherrſcht. 
Meine Bemuͤhungen gehen mithin zunaͤchſt dahin, in der Bibel 
3 nach Stoffen mit guter Szenerie zu ſuchen und folde, wenn 


Sa | 83 


ich fie gefunden, in wenig Strichen hinzuwerfen, fo gut es in 
meiner gegenwaͤrtigen Lage geht. 

Aus der Laͤnge meines Briefes ſiehſt Du, daß es mir trotz 
alledem und alledem ſehr gut ergeht. Manon wird dies viel⸗ 
leicht beſtreiten und ſich darauf berufen, daß man, weil man 
Briefe vorlaͤufig noch mit der Hand ſchreibe, keine Schluß⸗ 
folgerungen daraus auf das Wohlbefinden des Fußes ziehen 
duͤrfe. Das iſt aber falſch. Wenn man einen kranken großen 
Zehen hat, d. h. wirklich krank, ſo kann man ebenſowenig ſchrei⸗ 
ben, wie wenn es ein kranker Daumen waͤre. 

Laß mich recht ausfuͤhrlich hoͤren, wie's Euch geht. Auch 
Friederike ſoll mir ſchreiben; Dienſtbotenbriefe ſind immer ſo 
reizend, ſo ganz anders wie die der Gebildeten. Die Gebildeten 
ſchreiben ſchlechter, weil weniger natuͤrlich; wenigſtens oft. 
Das Herz bleibt doch die Hauptſache. Nicht wahr, meine liebe 
gute Alte?! Du weißt das am beſten. Und Thereſe ſoll mir 
eine Beſchreibung von der Soiree bei Bronſarts machen und ob 
lebende Bilder geſtellt wurden und welche. Und Manon ſoll 
mir von Bartenſteins ſchreiben und dem Ball und ob ſie mit⸗ 
getanzt hat und mit wem. Und welche Toilette ſie hatte. Ma⸗ 
non verſteht es, aus ein bißchen Tuͤll und einem Roſaband ein 
Feenkoſtuͤm zu machen. Und nun lebe wohl. Die Tante will 
noch ein paar Zeilen (vielleicht einen Krankenbericht) mit bei⸗ 
legen. Wie immer Deine Dich herzlich liebende Sophie. 


Elftes Kapitel 


Wahrend der Wochen, wo dieſe Korreſpondenz zwiſchen 
Berlin und Schloß Adamsdorf ging, ging auch ein Brief⸗ 
wechſel zwiſchen Berlin und Thorn. Leon begann mit einer 
Karte an Manon, die, nachdem ſie geſchrieben, wohlweislich 
noch in ein Kuvert geſteckt worden war. 


84 


Thorn, 8. Januar 
Seit drei Tagen wieder da. Kopernikus ſteht noch. Im 
ganzen Neſte riecht es nach Bierfiſch, was uͤbrigens nicht ganz 
richtig iſt, denn ſie kochen hier die Karpfen mit Pfefferkuchen 
und Ungarwein. In dieſen Stuͤcken ſind wir euch uͤberlegen; 
freilich geht man etwas mißbraͤuchlich damit vor. — Wendelin 
empfing mich am Bahnhof, furchtbar artig, aber doch auch 
ſehr gnaͤdig. Er uͤbertreibt es; Goͤnnermiene, ganz General⸗ 
ſtab. Und er iſt es noch nicht mal. Natuͤrlich kommt er dazu. 
So viel Tugenden kann ſich der Staat nicht entgehen laſſen. 
Verzeih dieſe Malicen, aber wenn man ſich ſo verſchwindend 
klein fühlt, hat man nichts als Schaͤndlichkeiten, um ſich vor ſich 
und andern zu behaupten. Der Wurm kruͤmmt ſich. Ich ſchreibe 
morgen wieder, vielleicht noch heute, wenn mir das Rekruten⸗ 
ererzieren nicht den Lebensodem nimmt. „Dobry, dobry“ und 

dazwiſchen „Schafskopp“. Tauſend Gruͤße. Dein Leo. 


An den Rand der Karte war noch eine Nachſchrift gekritzelt. 

„Eben kommt eine Einladung zu heut abend; engſter 
Zirkel. Wohin, brauche ich Dir wohl nicht erſt zu ſagen. Eſther 
uͤbrigens heute fruͤh ſchon am Fenſter geſehen, — pompoͤs, 
ja, faſt pompoſiſſima, was mich ein wenig aͤngſtigt. Denn 
ſie iſt erſt achtzehn. Wohin ſoll das am Ende fuͤhren?“ 


Drei Tage nach Empfang antwortete Manon. 
Berlin, 12. Januar 

Mein lieber Leo! Habe Dank fuͤr Deine Zeilen, die mich 
herzlich erfreut haben, weil ſie ſo ganz Du ſelbſt waren. Deine 
Karte, gluͤcklicherweiſe kuvertiert, kam zugleich mit einem 
Briefe von Sophie. Da ſah man ſo recht den Unterſchied. 
Sophie immer ich moͤchte ſagen Palette in Hand, immer 
kuͤnſtleriſch, immer gefuͤhlvoll und immer dankbar. Nament⸗ 
lich dies letztere laͤßt ſich Dir nicht vorwerfen. Dein aͤlterer 
Bruder (und der beſſere dazu) macht Dir den Hof, und Du 


85 


beſpoͤttelſt ihn. Ei, ei; poggenpuhlſch iſt das jedenfalls nicht, 
Die Poggenpuhls ſind pietaͤtvoll. Ich glaube, Dein Hang zu 


kleinen Spoͤttereien und Überheblichkeiten fliegt Dir ſo an, iſt 5 


Umgangseinfluß, oder was dasſelbe ſagen will, eine Folge 
des Tons, dem Du im Hauſe der pompoͤſen Eſther oder der 
„Pompoſiſſima“, wie Du ſchreibſt, begegneſt. Ich kenne dieſen 
Ton auch von Bartenſteins her, wiewohl dieſe ſelbſt nicht 
daran teilnehmen und verlegen werden, wenn er uͤberhaupt 
angeſchlagen wird. Daß dies geſchieht, koͤnnen aber freilich 
ſelbſt Bartenſteins nicht verhuͤten, denn ſie haben, bei der 
eigentümlichen Zuſammenſetzung ihrer Geſellſchaft, das Spiel 
nie ganz in der Hand. Um nur eins zu nennen, die Ver⸗ 
wandtſchaft, die ſich allſonntaͤglich bei ihnen verſammelt, iſt 
immer wie aus zwei Welten: der eine Onkel war vielleicht 
dreißig Jahre lang in London oder Paris, der andre dreißig 
Jahre lang in Schrimm. Und das macht denn doch einen 
Unterſchied. Ich ſprach von Umgangseinfluß. Er iſt da; ſeine 
Macht verſpuͤr ich an mir ſelbſt, und wenn ich Thereſe anſehe, 
fo beftätigt ſich mir dieſer Einfluß, von der andern Seite her, 
wie eine Probe aufs Exempel. Thereſe, wenn auch manches 
an ihr anders ſein koͤnnte, weiß doch jederzeit, was ſich ſchickt, 
und das verdankt ſie der Wilhelmſtraßenluft, in der ſie nun 
mal lebt. Ich weiß nicht, in welcher Straße Eſther wohnt 
(vielleicht auch in einer Wilhelmſtraße), nur das weiß ich, daß 
es in der unſrigen keine Pompoſiſſimas gibt. Ich muß mich 
hier unterbrechen. Eben hat es geklingelt, und aus dem 
Korridorgeſpraͤch, das Friederike fuͤhrt, hab ich gehoͤrt, daß 
Flora gekommen und bei der Mama eingetreten iſt. Sie wird 
mich einladen wollen. Über das vorſtehende Thema naͤchſtens 
mehr. Deine ganze Zukunft, ſo viel wird mir immer klarer, 
dreht ſich um die Frage: Eſther oder Flora. Flora, Gott ſei 
Dank, iſt blond, ſogar hellrotblond. Lebe wohl. In alter Liebe 
Deine Manon. 


86 


1 


7 


Rr 


Berlin, 15. Januar 


Lieber Leo! Du haſt meinen zweiten Brief, der den erſten 
vervollſtaͤndigen ſollte, gar nicht abgewartet und mir um⸗ 


gehend geantwortet. Das iſt ſehr liebenswuͤrdig, aber leider 


auch aͤngſtlich, und wenn ſchon die bloße Raſchheit der Erz 
widerung etwas Michbeſorgtmachendes hatte, ſo mehr noch 
die einzelnen Wendungen Deines Briefs. Ich will doch nicht 
fuͤrchten, daß die Einladung zum 8. abends, von der Du auf 
Deiner Karte ſchriebſt, verhaͤngnisvoll fuͤr Dich geworden iſt. 
Ich weiß, daß dunkler Teint Dir immer gefaͤhrlich war. Und 
Eſther! Es iſt merkwuͤrdig, daß manchem Namen etwas wie 
eine myſtiſche Macht innewohnt, eine Art geiſtiges Fluidum, 
das in raͤtſelhafter Weiſe weiter wirkt. Raffe Dich auf, ſei 
ſtaͤrker als Ahasverus war (ich meine den Perſerkoͤnig), der 
auch der Macht der Eſther erlag. Eben habe ich Deine Zeilen 
noch einmal uͤberflogen und wieder den Eindruck davon gehabt, 
als haͤtteſt Du Dich bereits engagiert. Iſt dem ſo, ſo weiß 
ich ſehr wohl, daß die Welt daruͤber nicht zugrunde gehen wird, 
aber mit Deiner Karriere iſt es dann vorbei. Denn in der 
Provinz, und ſpeziell in Deiner Provinz, iſt das religiöfe 
Gefuͤhl — oder, wie ſie bei Bartenſteins immer ſagen, das 
„Konfeſſionelle“ (ſie waͤhlen gern ſolche ſonderbar verſchraͤnk— 
ten Ausdrücke) — von viel eigenſinnigerem Charakter, und der 
Übertritt wird von den Eltern einfach verweigert werden. In 
dieſem Falle bliebe Dir alſo nur Standesamt, ein, fo auf; 
geklaͤrt ich bin, mir geradezu ſchrecklicher Gedanke. Solch ein 
Schritt wuͤrde Dich nicht nur von der Armee, ſondern, was 
mehr ſagen will, auch von der „Geſellſchaft“ ausſchließen und 
Du wuͤrdeſt von da ab in der Welt umherirren muͤſſen, fremd, 
abgewieſen, ruhelos. Und da haͤtten wir dann den andern 
Ahasverus. Tu uns das nicht an. Thereſe wuͤrd es nicht 
uͤberleben. 
Deine Manon. 


87 


Berlin, 18. Januar 


Mein lieber Leo! Gott ſei Dank. Nun kann noch alles 
gut werden. Du glaubſt nicht, wie erloͤſt ich mich fuͤhle, daß 
dieſes Wetter an uns allen und nicht zum wenigſten an Dir 
ſelber voruͤbergegangen iſt. Du lachſt mich aus uͤber meine 
Beſorgniſſe, neckſt mich und ſtellſt die Frage, was denn, wenn's 
nun wirklich ſich ſo geſtaltet haͤtte, was denn fuͤr ein Unter⸗ 
ſchied geweſen waͤre zwiſchen den ſo verpoͤnten Blumenthals 
und den mit ſo vielem Empreſſement empfohlenen Barten⸗ 
ſteins. Ja, Du fuͤgſt hinzu, Blumenthal fuͤhre ſeit Jahr und 
Tag den Kommerzienratstitel, und ſolche Staatsapprobation 
durch eine doch immerhin chriſtliche Behoͤrde ſei zwar nicht die 
Taufe ſelbſt, aber doch nahe daran, und ſo ſei denn Haus 
Blumenthal dem Hauſe Bartenſtein eigentlich um einen Pas 
voraus. Ach, lieber Leo, das klingt ganz gut, und als einen 
Scherz will ich es gelten laſſen, aber in Wahrheit liegt es doch 
anders. Bei Bartenſteins war der Kronprinz, Bartenſtein iſt 
rumaͤniſcher Generalkonſul, was hoͤher ſteht als Kommerzien⸗ 
rat, und bei Bartenſteins waren Droyſen und Mommſen (ja, 
einmal, kurz vor ſeinem Hinſcheiden, auch Leopold von Ranke), 
und ſie haben in ihrer Galerie mehrere Bilder von Menzel, 
ich glaube einen Hofball und eine Skizze zum Kroͤnungsbild. 
Ja, lieber Leo, wer hat das? In einem Damenkomitee fuͤr 
das Magdalenum ſitzt Frau Melanie, das iſt der Vorname 
der Frau Bartenſtein, ſeit einer Reihe von Jahren, Dryander 
zeichnet fie bei jeder erdenklichen Gelegenheit aus... Und 
dann Eſther und Flora ſelbſt! Es iſt ein Unterſchied, muß 
ein Unterſchied ſein. Ich beſchwoͤre Dich: uͤberlege — vor 
allem aber — und das iſt das, was ich Dir nicht genug ans 
Herz legen kann — vor allem wiege Dich nicht in der eitlen 
Vorſtellung, daß man hier etwa bang und ſehnlichſt auf Dich 
wartete. Die Wuͤnſche beider Eltern, auch Floras ſelbſt, gehen 
unzweifelhaft nach der Adelsſeite hin, aber doch ſehr mit Aus⸗ 


88 


9 — ů — ENIE« 


9 


wahl, und wenn beiſpielsweiſe bei Frau Melanie — die ſich 
ihrer und ihres Hauſes Vorzuͤge ſehr wohl bewußt iſt — die 
Entſcheidung laͤge, ſo weiß ich ganz beſtimmt, daß ſie's unter 
einem Arnim oder Buͤlow nicht gern tun wuͤrde. Und nun 
berechne danach die Chancen der Poggenpuhls! Sie ſind, 
trotz Thereſe, nicht eben uͤberwaͤltigend, und Deine perſoͤnliche 
Liebenswuͤrdigkeit wuͤrde ſchließlich doch viel, viel mehr den 
Ausſchlag zu geben haben als das Maß unſrer hiſtoriſchen 
Beruͤhmtheit. Demungeachtet iſt auch dieſe ein durchaus 
in Rechnung zu ſtellender Faktor, ganz beſonders Flora gegen⸗ 
uͤber, die, im Gegenſatz zu beiden Eltern, einen ausgeſprochen 
romantiſchen Sinn hat und mir erſt vorgeſtern wieder ver— 
ſicherte, daß ihr, als ſie neulich in Potsdam die Grenadier⸗ 
muͤtzen vom r. Garderegiment geſehen hätte, die Tränen in 
die Augen gekommen ſeien. — Alles in allem, Leo, Du haſt 
noch keine volle Vorſtellung davon, um was und um wieviel 
Du wirbſt und daß es, trotz meiner guten und, ich kann wohl 
ſagen, intimſten Beziehungen, immer noch Mühen und Anz 
ſtrengungen koſten wird, die Braut heimzufuͤhren. Weiſe alſo 
nicht hochmuͤtig das, was ich Dir noch vorzuſchlagen haben 
werde, zuruͤck, ein Leichtſinn, gegen den ich Dich durch Deinen 
guten Verſtand und Deine ſchlechte Finanzlage gleichmaͤßig 
geſchuͤtzt glaube. 

Aber da kommt eben Flora, um mich zum „shopping“ 
(ſie waͤhlt gern engliſche Wendungen) abzuholen, und ich muß 
hier abbrechen, ohne mich uͤber meinen Plan: eine Familien⸗ 
geſchichte der Poggenpuhls, hoͤre und ſtaune, durch Dich ge— 
ſchrieben zu ſehen, naͤher ausgeſprochen zu haben. Nur noch 
ſo viel: Wendelin muß das Beſte dabei tun und hinterher 
natuͤrlich Onkel Eberhard. Überleg's. Vor allem aber Mut 
und Schweigen. Flora weiß nichts, ahnt nichts. Wie immer 

Deine Manon. 
Umgehend antwortete Leo. 


89 


Thorn, 19. Januar 

Meine liebe Manon! Ich fuͤhle mich wie beſchaͤmt durch 
Deine Liebe und Fuͤrſorge. Ein vorzuͤglicher Plan, geradezu 
großartig. Aber, aber... Und ach, dies Aber laͤßt mich Dir 
in ziemlich ſchwermuͤtiger Verfaſſung antworten. Wendelin, 
der es doch ſchließlich machen muͤßte, will nicht. Er findet es 
einfach ridikuͤr. Und warum? Weil ſeiner aufrichtigen Mei⸗ 
nung nach das Poggenpuhlſche nicht mit den Kreuzzuͤgen, 
ſondern einfach mit Wendelin von Poggenpuhl anfaͤngt. Was 
ſeit hundert Jahren unter dem „Hochkircher“ und dem „Sohr⸗ 
ſchen“ geſchah, war Alltagsarbeit; in Front ſtehen und Hurra 
ſchreien, bedeutet ihm nicht viel, er iſt fuͤr ſtrategiſche Gedanken. 
Jedenfalls denkt er mehr an ſich als an die Familie. Er hilft 
mir zwar regelmaͤßig und iſt in vielen Stuͤcken eine glaͤnzende 
Nummer, aber es muß immer was ſein, was ihm zugleich in 
aller Augen zu Vorteil und Ehre gereicht; wenn es ihm ſo 


vorkommt, daß er perſoͤnlich damit bei hohen Vorgeſetzten an? 


ſtoßen oder wohl gar in einem fragwuͤrdigen Lichte daſtehen 
koͤnnte, ſo iſt es mit allem Familiengefuͤhl und aller Bereit⸗ 
willigkeit raſch vorbei. Er heißt Poggenpuhl, aber er iſt keiner, 
oder doch ganz auf ſeine Weiſe, die von der unſrigen ſehr ab⸗ 
weicht. Darüber aber kein Wort zu Mamaz; die iſt imſtande 
und ſchreibt es ihm, und dann bin ich an den Pranger geſtellt. 
Ich bin ohnehin ſchon immer verlegen, wenn er bei mir in die 
Stube tritt. Er hat ſo'n verdammt ſuperiores Laͤcheln, und ich 
muß mich ducken. Überhaupt — und das iſt das Fatale der 
ganzen Karriere —, man muß ſich immer ducken. Aber ſtatt 
dieſer Konfeſſions lieber zuruck zur Hauptſache, zu der zu 
ſchreibenden Ruhmesbroſchuͤre. Wendelin, wie geſagt, will 
nicht und ich ſelber kann nicht, kann nicht und wenn ſich's 
darum handelte, die Koͤnigin von Madagaskar als Braut 
heimzufuͤhren. Ach, Manon! .. . „uber Madagaskar fern im 
Oſten ſeh ich Fruͤhlicht glaͤnzen,“ — ja dahin muß ich, damit 


90 


E 1 
5 


endet's, damit muß es enden! Denn ich werde Flora nie 
„mein nennen“ (fo druͤcken ſich manche aus), wenn die Familien; 
geſchichte durchaus geſchrieben werden muß. Und daneben, 
und das iſt das Schlimmſte, weil zugleich das Beſchaͤmendſte, 
daneben hab ich die Leidenſchaft Eſthers fuͤr mich ſtark uͤber⸗ 
ſchaͤtzt. Oder vielleicht auch, daß mir über Nacht ein Rival, 
ein bevorzugter Mitbewerber, erſtanden. In dieſem Falle 
wuͤrde ich Eſther haſſen muͤſſen. Und um nichts zuruͤckzuhalten, 
ach, Manon, auch von dem Quitzowabend, der ſich ſo glaͤnzend 
anließ oder wenigſtens ſo glaͤnzend abſchloß, iſt ſeit einer Woche 
ſo gut wie nichts mehr da. Trauriges Daſein und draußen 
Tauwetter. Ich koͤnnte den Hamletmonolog deklamieren, aber 
ich waͤhle das Kuͤrzere: „Nymphe, bete fuͤr mich“. Es wird 
wohl falſch zitiert ſein; die meiſten Zitate ſind falſch. 
Dein Leo. 


Zwoͤlftes Kapitel 


Dieſe Korreſpondenz zwiſchen den zwei juͤngeren Ge⸗ 
ſchwiſtern ſetzte ſich bis in den Februar hinein fort, wenig 
zur Freude Thereſens, die gelegentlich einen von Leos Briefen 
las und es jedesmal beklagte, daß ſich „das Poggenpuhlſche 
ſo weit verirren koͤnne,“ wobei ſie uͤbrigens der Schweſter die 
Hauptſchuld zumaß. „Meiner Meinung nach,“ ſo hieß es 
regelmaͤßig, wenn dies Thema zur Sprache kam, „iſt der ganze 
Briefwechſel uͤberhaupt uͤberfluͤſſig; wenn er aber ſtattfinden 
ſoll, ſo moͤcht ich wohl, daß er einen andern Inhalt haͤtte. Du 
wirft ihn noch ganz zu dir hinuͤberziehen, in jene geſellſchaft⸗ 
liche Sphaͤre, darin du dich leider wohl und immer wohler 
fuͤhlſt. Du willſt nicht einſehen, daß die Welt, die du leicht⸗ 

fertig und hochmuͤtig und, bloß um dich zu mokieren, als die 
‚chriftlichrgermanifche‘ bezeichneſt, daß dieſe Welt mehr be; 


91 


deutet, als ein halbes Dutzend Gerſons — denn fo viele werden 
es doch wohl nachgerade ſein. Es kommt auf das innerliche 
Leben an, nicht auf das aͤußerliche: die Apfel mit der ſchoͤnen 
Schale ſind meiſt wurmſtichig.“ 


„Und die grauen Reinetten überdauern den ganzen 


Winter.“ 

Thereſe zuckte die Achſeln und brach ab, nahm auch nicht 
Veranlaſſung, darauf zuruͤckzukommen, und zwar um ſo 
weniger, als ſich das, was ihr die Mama in dieſer Streitſache 
beguͤtigend geſagt hatte, ſehr bald erfuͤllen ſollte. „Laß doch 
die beiden,“ ſo etwa waren die Worte der Majorin bei jener 
Gelegenheit geweſen, „du ſollteſt doch Leo kennen und wiſſen, 
wie wenig das alles auf ſich hat. Heute will er das und morgen 
das. Ehe drei Wochen um ſind, hoͤrt die Schreiberei zwiſchen 
ihnen von ſelbſt auf.“ Und ſo kam es auch. Leo ſchloß ſich, 
noch ehe der Januar zu Ende ging, einem katholiſchen Geiſt⸗ 
lichen an, der Dogmenſtrenge mit Skat und Fidelitaͤt gluͤcklich 
zu vereinigen wußte, welche neue Bekanntſchaft denn auch 
ſofort verhaͤngnisvoll für die weitere Erörterung der Eſther⸗ 
und Florafrage wurde. Sie ſtarb ſehr bald ab. 

Ja, die Korreſpondenz nach Thorn hin erloſch raſch, aber 
die zwiſchen Sophie und Manon ſetzte ſich fort, und keine 
Woche verging, ohne daß ein Brief aus Adamsdorf eingetroffen 
waͤre, meiſtens gleichzeitig mit einer ſorglich gepackten Kiſte, 
deren Eintreffen Friederike, wenn fie fie oͤffnete, jedesmal mit 
derſelben Rede begleitete: „Wieder friſche Eier und alle ein⸗ 
gewickelt und in Haͤckſel. Ja, das laß ich mir gefallen, gnaͤdge 
Frau. Denn erſtens kriegt man keine friſchen, wenn es auch 
drauf ſteht, und zweitens ſind Eier doch immer beſſer, als 
was eben erſt gefchlachter is. Ente geht noch, weil Ente fett 
iſt; aber ſchon bei Huͤhnern faͤngt es an, und iſt es gar Kalb, 
dann hat es immer einen Stich ... Un ich werde auch gleich 
eins kochen, gnaͤdge Frau; Sie muͤſſen ſich auch mal was 


92 


— 


—— — 


gönnen. Es is wahr, Sie haben ja die Bonbons, aber das 
gibt keine Kraft un is bloß von wegen den Huſten.“ 

Sophiens Briefe teilten ſich, der Zeit nach, in ſolche, die 
ſich mit ihrer fortſchreitenden Geneſung und, als dieſe ſchließlich 
da war, mit ihrer maleriſchen Taͤtigkeit beſchaͤftigten. Dieſe 
Briefe zu leſen war immer ein Vergnuͤgen, und einzelne 
davon nahm Manon ſogar mit zu Bartenſteins, um ſie da 
zum beſten zu geben, aber freilich meiſt nur, wenn der Alte 
zugegen war, der ſo was gern hoͤrte, waͤhrend die Damen 
eigentlich nur aus Artigkeit folgten. Flora (vielleicht weil ſie 
wegen eines geplanten Ausfluges nach Olympia gerade Neu⸗ 
griechiſch lernte) hatte eine Neigung, alles „unbedeutend“ zu 
finden, was Manon, ſo verliebt ſie in die Freundin war, doch 
beſtimmte, mit ihren Mitteilungen ſchließlich etwas zuruͤck⸗ 
haltender zu ſein. 

In einem dieſer Briefe hieß es: „Ich bin jetzt bei der Sintflut, 
die ja, wenn man will, auch ins Landſchaftliche fallt. Waſſer 
iſt doch auch Gegend und Gegend iſt Landſchaft. Und was 
denkt ihr nun wohl, wie meine Sintflut ausſieht? Ganz 
anders wie andre, was ich, ohne unbeſcheiden zu ſein, ſagen 
darf, weil die Idee nicht von mir, ſondern von Onkel Eberhard 
herruͤhrt. Und auch eigentlich nicht von ihm, wie ihr gleich 
hoͤren werdet. Als ich mich naͤmlich vorige Woche beim Tee 
dahin aͤußerte, daß ich jetzt an die Sintflut herangehen wolle, 
ſagte der Onkel; „Ja, Fiechen, wie denkſt du dir das nun 
eigentlich? Oder richtiger, ich will es gar nicht wiſſen, ich will 
dir lieber gleich ſagen, wie ich es mir denke und wie ich es mir 
wuͤnſche. Als ich noch in Berlin bei „Alexander ſtand, war ich 
mal auf Beſuch in einer benachbarten Dorfkirche, drin viele 
Bilder waren, auch eine Sintflut. Und aus der Sintflut ragte 
nicht bloß, wie gewoͤhnlich, der Berg Ararat mit der Arche her⸗ 
vor, nein, neben dem Ararat befand ſich auch noch in geringer 
Entfernung ein zweiter Berg, und auf dieſem zweiten Berge 


93 


ſtand eine Kirche. Und dieſe Kirche war genau die Heine maͤr⸗ 
kiſche Dorfkirche mit einem Laternenturm und ſogar einem 
Blitzableiter, in der wir uns in jenem Augenblick gerade be⸗ 
fanden. Und das hat damals einen ſo großen Eindruck auf mich 
gemacht, daß ich dich bitten moͤchte, du machteſt es auch ſo und 
ließeſt auch zwei Kuppen aufſteigen, und auf der zweiten Kuppe 
ſtaͤnde die Kirche von Adamsdorf. Das heißt die proteſtantiſche. 
Wenn ſich die Katholiken daruͤber aͤrgern, koͤnnen ſie ſich ja ihre 
Kirche auch malen laſſen. Ich ſtehe zu Martin Luther und der 
reinen Lehre. Darin, denke ich, bin ich ein feſter Poggenpuhl.“ 
Ich erſchrak erſt, als der Onkel das ſagte, weil ich es mir alles 
anders gedacht hatte; da's aber kein Entrinnen gab, ſo gab ich 
mich zufrieden, und jetzt, wo's beinahe fertig iſt, hab ich mich 
in die Idee ganz verliebt. So kindlich es mir anfaͤnglich vorkam 
und auch noch vorkommt, fo hat es doch zugleich eine tiefe 
Bedeutung; als die alte Suͤndenwelt unterging und die neue, 
beſſere, ſich aufbaute, war das erſte, was neu erſchien (denn die 
Tiere waren ja noch aus der alten Welt), die Kirche jenes kleinen 
maͤrkiſchen Dorfes und jetzt alſo die von Adamsdorf. Es war, 
als ob Gott ſie gleich dahin geſtellt habe. Natuͤrlich kann man 
daruͤber lachen, aber man kann ſich auch daruͤber freuen. Und 
Du, meine liebe Mama, die Du ja Gott ſei Dank aus einem 
frommen Predigerhauſe biſt, Du wirſt es ſchoͤn finden und den 
Onkel Eberhard noch lieber haben als zuvor. Er iſt auch wirklich 
ein kapitaler Mann. Soviel uͤber die Idee zu dem Bilde. 
Und nun wirſt Du Dich nur noch wundern, wo und wie ich, 
die das Meer nie geſehen, die Vorſtellung dazu hergenommen 
und zu meiner Sintflut verwandt habe. Nun hoͤre. Vielleicht 
erinnerſt Du Dich noch der Partie, die wir vorigen Herbſt mit 
Bartenſteins machten, alle dritter Klaſſe, was Bartenſteins 
noch ſo ſehr amuͤſierte. Dritter Klaſſe Ringbahn und bis Bahn⸗ 
hof Stralau. Und als wir da hoch oben ausſtiegen, hoch wie 
der Berg Ararat, da lag der Rummelsburger See mitſamt der 


94 


7 
Spree wie eine maͤchtige Waſſerflaͤche vor uns. Dieſes Pano⸗ 
rama hab ich fuͤr mein Bild benutzt. Der Bahnhof iſt der Ararat, 
der Rummelsburger See die Sintflut. Auf ſtuͤrmiſche Be⸗ 
wegung, weil ich doch ſozuſagen nur den Schlußakt der Sintflut 
gemalt habe, glaubte ich, ohne dadurch unkorrekt zu werden, 
verzichten zu koͤnnen.“ 


Briefe verwandten Inhalts trafen oͤfter ein, unter denen 
einer, der Sophies „Untergang von Sodom und Gomorrha“ 
beſchrieb, des alten Bartenſteins ganz beſondern Beifall weckte. 
„Das iſt eine Mahnung,“ hatte er ſich damals gegen Manon 
geäußert, ohne uͤbrigens anzudeuten, wen er dadurch gemahnt 
ſehen wollte. 

Fiechen lebte ſich inzwiſchen immer mehr ein, und je laͤnger 
ſie bei den Verwandten weilte, deſto lebhafter wandte ſie ſich 
neben ihren Malereien, auch den haͤuslichen Angelegenheiten 
von Schloß Adamsdorf und ganz beſonders dem Charakter 
der Frau vom Hauſe zu. Geſpraͤche, die ſie, wenn ſie gemein⸗ 
ſchaftlich um die große Parkwieſe gingen, mit der Tante fuͤhrte, 
teilte fie, wenn es paßte, ganz ausführlich nach Haufe hin mit. 
Einmal ſchrieb ſie: „Wir haben geſtern wieder unſern Spazier⸗ 
ganz gemacht, um die große Wieſe herum, in deren Mitte ſich 
ein Gehege mit ein paar jungen Rehen befindet, reizende Tiere, 
die ich auch noch zu verwenden hoffe. Da mit einmal, ich weiß 
nicht mehr in welchem Zuſammenhange, ſagte die Tante: 
Ja, deine Schweſter Thereſe. Sie wird nicht recht zufrieden 
mit mir geweſen ſein und mich vielleicht bei euch verklagt haben, 
weil ich damals in Pyrmont nicht Luft bezeigte, mich der Fuͤrſtin 
von Wied vorſtellen zu laſſen, worauf ſie beſtaͤndig drang, und 
als ein Korſo war, wollte ich nicht mit in der Reihe fahren 
und noch weniger die Pferdegeſchirre mit Roſengirlanden aus⸗ 
ſtaffieren laſſen. Es ſchien mir alles unpaſſend, und ich hab es 
ihr auch frank und frei geſagt. Thereſe, wie das ſooft geſchieht, 


95 


hat eine falſche Vorſtellung von meiner Vermoͤgenslage, die 
mal glaͤnzend war, aber es nicht mehr iſt. Es liegt mir daran, 
dich uͤber dieſe Dinge, die ziemlich kompliziert ſind, aufzuklaͤren. 
Ich bin aus einer einfachen buͤrgerlichen Familie, die klein und 
arm anfing und es nachher zu Reichtum brachte. Da heiratete 
mich mein erſter Mann, der damals nichts beſaß, und kaufte 
ſich Schoß Adamsdorf, denſelben Beſitz, der ſchon fruͤher ein⸗ 
mal, als es aufhoͤrte Kloſter zu ſein, in ſeiner Familie war 
und dann verloren ging. Er war ein vollkommener Kavalier, 
und wir fuͤhrten eine ſehr gluͤckliche Ehe, in der uͤbrigens, was 
das Vermoͤgen angeht, die Rollen ſehr bald gewechſelt wurden. 
Mein Geld naͤmlich ging verloren, und wir haͤtten Adamsdorf 
wieder aufgeben muͤſſen, wenn nicht mein Mann durch Todes⸗ 
faͤlle ganz unerwartet ein ziemlich bedeutendes Vermoͤgen 
geerbt haͤtte. Das hat uns an dieſer Stelle gehalten. Aber 
alles, was wir beſitzen, iſt dadurch wieder Leyſewitziſch ge⸗ 
worden und muß den Leyſewitzes verbleiben, was dein Onkel 
auch von Anfang an gewußt hat und guthieß. Ich habe das 
ſeltene Gluͤck erfahren, in zwei Ehen zwei gleich treffliche Maͤnner 
zur Seite gehabt zu haben. Alles hat ſich zum Guten fuͤr mich 
gefuͤgt, aber dieſe gluͤckliche Geſtaltung der Verhaͤltniſſe darf 
ich auch nicht vergeſſen und muß danach leben. Es liegt ſo: 
Von allem, was du hier ſiehſt, haben wir nur den Nießbrauch; 
Schloß, Gut, Vermoͤgen, alles faͤllt zuruͤck, und weil es ſo iſt, 
habe ich haushalten gelernt. Und du, du biſt ein gutes und 
kluges Kind und kannſt mir in allem folgen. Thereſe, die, 
wenn ich Andeutungen der Art machte, kaum mit halbem Ohr 
hinhoͤrte, wollte nicht recht daran glauben. Das iſt immer ſo. 
Was einem nicht paßt, das glaubt man nicht gern.“ 

Ja, liebe Mama, das war es, was die Tante mich wiſſen 
ließ. Es wird ganz gut ſein, wenn Thereſe davon erfaͤhrt. 
Aber in Deiner Antwort bitte ich Dich, all dieſer Dinge, trotz⸗ 
dem ſie mir wahrſcheinlich mitgeteilt wurden, um ſie Dich 


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wiſſen zu laſſen, nicht zu erwähnen; ich bin daran gewöhnt, 
Deine und der Schweſtern Briefe beim Fruͤhſtuͤck vorzuleſen, 
und eine auf dieſe meine Mitteilungen bezuͤgliche Antwort⸗ 
ſtelle wuͤrde mich nur in Verlegenheit bringen. 

Im uͤbrigen hab ich ſeit vielen Wochen nichts von den 
Bruͤdern gehoͤrt. Wendelin, das faͤllt nicht auf, er ſchreibt 
immer nur Pflichtbriefe. Aber Leo? Mitunter aͤngſtige ich 
mich doch und denke, ſein naͤchſter Brief kommt aus Kamerun 
oder Namaqualand. Ehe nicht ſeine Verhaͤltniſſe geordnet 
ſind, kommt er nicht zur Ruhe. Aber wo ſoll dieſe Ordnung 
herkommen?“ 


Es war Ende Mai, als Sophie dieſen Brief ſchrieb, und ſie 
vermied klugerweiſe, das darin behandelte Thema noch einmal 
zu beruͤhren. Es genuͤgte ihr, daß ihr Brief ſeine Wirkung 
getan und das ungerechte Kritteln der aͤlteren Schweſter in 
eine gerechtere Beurteilung umgewandelt hatte. 

Das ſtille Leben in Schloß Adamsdorf nahm mittlerweile 
feinen Fortgang und erfuhr nur einen Wandel, als der Hochs 
ſommer heran war und die Tante, eine paſſionierte Schleſierin, 
allwoͤchentlich einmal auf eine Fahrt ins Gebirge drang. Ab⸗ 
wechſelnd fuhr man bis Schreiberhau oder Hermsdorf oder 
Krummhuͤbel, um dann von dieſen Punkten aus hoͤher ins Ge⸗ 
birge hinaufzuſteigen, nach Kirche Wang oder dem Mittagsſtein, 
oder ſelbſt bis zu den Schneegruben. Sophie ſkizzierte irgendeine 
Szenerie fuͤr ihre altteſtamentlichen Bilder und ſagte dabei: „Das 
iſt Abrahams Grab, das iſt der Sinai, das iſt der Bach Kidron.“ 
Ihr groͤßtes Vergnuͤgen aber war immer, wenn auf dem Heim⸗ 
wege, da, wo man das Fuhrwerk zuruͤckgelaſſen hatte, noch ein⸗ 
mal Raſt gemacht und das Tun und Treiben der Berliner 
„Sommerfriſchler“ beobachtet wurde. Das gab dann jedes mal 
Heiterkeitsſtoff fuͤr die Ruͤckfahrt, und Onkel Eberhard wurde 
nicht muͤde zu verſichern: „Ja, dieſe Berliner, man mag ſie 


15 97 


nun lieben oder haſſen, amuͤſant find fie, und ihnen fo zuzu⸗ 
ſehen iſt immer wie ein Schauſpiel. Eigentlich iſt es auch wirk⸗ 
lich ſo was; denn ſie kucken ſich immer um, ob ſie auch wohl 
ein Publikum haben, vor dem ſich's verlohnt, den Vorhang 
aufzuziehen.“ 

An den Bildern fuͤr die Kirche wurde den ganzen Sommer 
uͤber fleißig weitergearbeitet. Ende Auguſt war Sophie ſchon 
bei „Saul in der Hoͤhle“ (die Hoͤhle dazu hatte ſie dicht bei den 

Kraͤberſteinen entdeckt) und Saul ſelbſt war halb Onkel Eber⸗ 
hard, halb der Kretſchamwirt, der einen Vollbart trug und 
einen boͤſen Blick hatte. David aber war der Aſſeſſor. Onkel 
Eberhard freute ſich aufrichtig am Fortſchreiten der Arbeit 
und verſicherte jeden Tag, daß er nie geglaubt haͤtte, von einer 
ſolchen Sache ſo viel Freude haben zu koͤnnen. Er erging ſich 
dann auch in wohlgemeinten Außerungen uͤber Kuͤnſtlerleben 
uͤberhaupt und nahm alles zuruͤck, was er in ſeinen fruͤheren 
Jahren daruͤber geſagt hatte. „Man kann daruͤber lachen, aber es 
iſt doch immer eine kleine Schoͤpfung. Und Schaffen macht 
Freude. Wenigſtens kann ich mir nicht denken, daß Gott die 
Welt aus Verdrießlichkeit geſchaffen hat.“ 

„Mancher ſieht doch ſo aus, Onkel.“ 

„Ja, Fiechen, da haſt du recht. Mancher ſieht ſo aus. 
Aber was kommt nicht alles vor! Und das einzelne beweiſt 
nichts. Das iſt ein fataler Zug jetzt bei den Menſchen, daß ſie 
den Ausnahmefall zur Regel machen wollen. Und wenn ſie 
ſich dabei nur was Huͤbſches ausſuchten! Aber nein, was 
recht Haͤßliches muß es ſein. 's war freilich vor dreißig Jahren 
auch nicht viel beſſer. Ich hab es noch erlebt, wie das mit den 
Affen aufkam und daß irgendein Orang-Utan unſer Groß⸗ 
vater ſein ſollte. Da haͤtteſt du ſehen ſollen, wie ſie ſich alle 
freuten. Als wir noch von Gott abſtammten, da war eigent⸗ 
lich gar nichts los mit uns, aber als das mit dem Affen Mode 
wurde, da tanzten ſie wie vor der Bundeslade.“ 


98 


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Das war gerade am zweiten September, daß Onkel Eber⸗ 
hard und Sophie dies Geſpraͤch hatten, oben in der Giebel⸗ 
ſtube, die die Adamsdorfer Herrſchaften ihrer Nichte zum 

Atelier eingerichtet hatten. Eine Stunde ſpaͤter fuhr der Onkel 
nach Hirſchberg, wo der Sedantag wie herkoͤmmlich feſtlich 
begangen werden ſollte. Natürlich auch durch eine Rede auf 
Kaiſer Wilhelm. Und dieſe Rede, wie nicht minder ſelbſtver⸗ 
ſtaͤndlich, hatte der alte General von Poggenpuhl zu halten, 
dem dabei ſchlechter zumute war als bei St. Privat im aller⸗ 
verflirteften Moment. Sonſt, wenn er die ſchoͤne Fahrt durchs 
Tal machte, lachten ihn die Felder in ihrem Segen an, aber 
heute ſah er nicht, wie der Hafer ſtand, er ſah ihn überhaupt 
nicht, ſondern memorierte in einem fort und ſagte ſich in wach⸗ 
ſender Unruhe: „Jetzt iſt es eins. Noch drei Stunden, dann 
faͤngt mein Leben erſt wieder an und vielleicht auch mein 
Appetit. Bis dahin iſt es nichts.“ Er hatte denn auch Kopfweh, 
ein leiſes Ticken an zwei Stellen, das ſich bei der beſtaͤndig 
wiederkehrenden Frage: „Wenn ich nun ſtecken bleibe?“ natuͤr⸗ 
lich noch ſteigerte. Zuletzt aber fand er ſich auch darin zurecht 
oder reſignierte ſich wenigſtens. „Und wenn ich nun wirklich 
ſtecken bleibe, was iſt denn am Ende? Zu meiner Zeit 

konnte uͤberhaupt keiner reden, und das wiſſen die Vernuͤnftigen 
auch. Außerdem hab ich die Einleitung ganz intus, und wenn 
„ . . Und fo möcht ich Sie denn fragen, Sie alle, die Sie hier 
verſammelt ſind, ſind wir Preußen? Ich bin Ihrer Antwort 
ſicher. Und in dieſem Sinne fordre ich Sie auf... Und dann 
das Hoch.“ 5 

All das gab ihm ſeine Haltung einigermaßen wieder, aber 

er blieb trotzdem in einem gewiſſen Fieber, und dies hielt auch 

noch an, als der ſchreckliche Moment bereits voruͤber war. 

Vielleicht lag es auch daran, daß er gleich nach ſeinem Hoch 
ein großes Glas herben Ungar heruntergeſtuͤrzt hatte. Nach 


r | 99 


dem Kaffee überfiel ihn ein Schwindel. Er ging aber wieder 
voruͤber, und in beſter Laune brach er ſchließlich auf. Die 
Sterne funkelten; es war ſchon herbſtlich friſch, und er froͤſtelte. 
„Hoͤre, Johann,“ ſagte er, „haſt du nicht eine Zudecke?“ 

„Nein, Herr General; ich werde aber meinen Mantel aus⸗ 
ziehen.“ 

Aber da kam er ſchoͤn an. „Unſinn, Menſchen Rock vom 
Leibe ziehen; ich, ein Poggenpuhl.“ Und in ſolchen Ausrufungen 
ſprach er noch eine Weile weiter. 

Es war ein Uhr, als er in die Dorfgaſſe einfuhr. Im 
Schloſſe war noch ein alter Diener auf, ebenſo Sophie. 

Die ſah ſchon auf dem Flur, wie veraͤndert er war. „Onkel, 
du frierſt fo, ſoll ich noch einen Tee machen oder eine Stuͤrze?“ 

„Unſinn. General Poggenpuhl ...“ 

Es klang ſo ſonderbar, und Johann ſagte zu Sophie: 
„Gott, Fraͤulein, ſo ſagt er ſchon immerzu. Ich glaube, er iſt 
ſehr krank.“ 


Er war ſehr krank. Doktor Nitſche, der am anderen Morgen 
gerufen wurde, bemerkte zu der Tante: „Gnaͤdige Frau, wir 
muͤſſen naſſe Tuͤcher aufhaͤngen und ein mattes Licht und voll⸗ 
kommene Ruhe;“ zu Sophie aber ſagte er: „Typhus, mein 
gnaͤdiges Fraͤulein.“ 

„Wird er wieder?“ 

Er zuckte die Achſeln. 


Dreizehntes Kapitel 


Die Befuͤrchtungen erfuͤllten ſich ſchnell. Sophie, die 
trotz Widerſpruch des Arztes die Pflege leitete, ſchrieb jeden 
Abend eine Karte nach Haus, in der ſie — ſchon der Tante 
halber, die die Zeilen vielleicht leſen mochte — zunaͤchſt immer 


100 


ac a 


nur betonte, „daß noch feine Gefahr ſei“. Sie war aber nur 
zu ſehr da, und den ſiebenten Tag nach Beginn der Krankheit 
traf ein Brief bei der Mama ein, der dahin lautete: 

„Heute mittag iſt Onkel Eberhard geſtorben; waͤhrend der 
Nacht war er noch in großer Unruhe, dann fiel er im Laufe des 
Vormittags in einen apathiſchen Zuſtand, und kurz vor zwoͤlf 
iſt er eingeſchlafen. Von Anfang an war wenig Hoffnung, 
weniger als ich Dir ausſprechen mochte. Ich habe viel an ihm 
verloren, aber nicht ich nur; wir werden ihn alle ſehr vermiſſen, 
vielleicht Wendelin ausgenommen, der ſeinen Weg auch ſo 
macht. Über manches, was dieſe Tage mich ſonſt noch erleben 
ließen, mündlich ausführlicher. Ich freue mich, euch alle 
wiederzuſehen, vor allem Dich, meine liebe gute Mama. Daß 
ihr kommt, nehme ich als ſicher an. Die Tante wuͤnſcht es 
dringend, und ich glaube, wir muͤſſen ihre Wuͤnſche reſpektieren. 
Erſt aus Klugheit, und dann, weil ſie's ſo ſehr verdient. Das 
Beigeſchloſſene bittet ſie freundlichſt aus ihrer Hand annehmen 
zu wollen und hofft, daß es ausreichen werde, die Reiſe ſowie 
alles uͤbrige zu beſtreiten. Was ich brauche, wird aus Breslau 
kommen. Ihr werdet am beſten uͤbermorgen abend abreiſen. 
Dann ſeid ihr am zwoͤlften in aller Fruͤhe hier. In der Mittags⸗ 
ſtunde ſoll die Beiſetzung erfolgen. 

Deine Sophie.“ 


Die Gefuͤhlsbewegung, als Manon dieſen Brief vorgeleſen 
hatte, war bei den drei Damen eine nicht geringe, bewegte ſich 
aber doch nach ſehr verſchiedenen Seiten hin. Die Mutter hing 
ganz einer herzlichen Trauer nach, die noch reiner geweſen waͤre, 
wenn ſich nicht manche bange Zukunftsſorge mit eingemiſcht 
haͤtte; Manon, trotz aller Verehrung und Liebe fuͤr den Onkel, 
empfand es ſchmerzlich, einer gerade fuͤr den zwoͤlften bei 
Bartenſteins angeſetzten Soiree nicht beiwohnen zu koͤnnen, 
waͤhrend ſich Thereſe nur von einer Vorſtellung beherrſcht 


101 


fühlte: von dem Gedanken an das ihr lediglich als eine Haupt⸗ 
und Staatsaktion erſcheinende Begraͤbnis. Sie ſah ſich nicht 
nur bereits in der vorderſten Reihe der Leidtragenden, ſondern 
lebte auch ganz dem Hochgefuͤhle, daß die Repraͤſentation der 
Poggenpuhlſchen Familie — die beiden alten Damen als nur 
angeheiratete, zaͤhlten kaum mit — einzig und allein auf ihr 
beruhe. Dies Hochgefuͤhl ſah ſich allerdings durch den dem 
Briefe beigelegten Tauſendmarkſchein auf Augenblicke beein⸗ 
traͤchtigt, aber die Vorzuͤge lagen andrerſeits auch wieder ſo 
klar zutage, daß das Bedruͤckliche ſchnell hinſchwand, beſonders 
nachdem man ſich untereinander dahin geeinigt hatte, daß 
Thereſe in die Stadt fahren und dort die Trauergarderobe 
beſorgen ſolle. Naͤchſt dem Begraͤbnis ſelbſt, erſchien allen 
dieſer Beſuch in einem Trauermagazin als der bedeutungsvollſte 
Moment, und die Miene, mit der ſich die aͤltere Schweſter zu 
dieſer Fahrt anſchickte, hatte etwas ſo ausgeſprochen Diſtin⸗ 
guiertes, daß ſelbſt Manon davon beruͤhrt und zu einer Art 
Huldigung hingeriſſen wurde. 

Dieſes Gefühl machte freilich raſch einer entgegengeſetzten 
Empfindung Platz, als Thereſe von ihrer Fahrt zuruͤckkehrte. 
Die Kleider, ſo berichtete ſie, wuͤrden bis morgen fruͤh geliefert 
werden, kleine Anderungen ſeien leicht zu bewerkſtelligen; 
alles andre aber habe ſie gleich erſtanden und in einem großen 
Karton mitgebracht. Es waren dies Krepphuͤte, lange ſchwarze 
Schleier und drei Trauerhauben mit einer tiefen Stirnſchneppe. 

„Gehſt du davon aus,“ ſagte Manon, „daß wir dieſe 
Hauben mit Schneppe wirklich tragen ſollen?“ 

„Eine ſonderbare Frage.“ 

„Das heißt alſo ‚ja‘ ?“ 

Thereſe nickte. 

„Nun, dann erlaube mir, dir zu ſagen, daß ich mich davon 
ausſchließen werde.“ 

„Das wirſt du nicht. An ſolchem Tage wenigstens wirſt 


102 


du dich auf das befinnen, was du deinem Namen ſchul⸗ 
dig biſt.“ 

„Ich weiß, was ich meinem Namen ſchuldig bin.“ 

„Und das waͤre?“ 

„Wenn es ſein kann, nicht ins Ridikuͤle zu fallen.“ 

„Was in deinen Augen worin beſteht?“ 

„ . Uns & tout prix als Koͤniginwitwe herauszuſtaffieren. 
Wir ſind einfach die Nichten eines alten Generals.“ 

„Des Generals von Poggenpuhl. Ich wenigſtens ſtehe in 
der alten, guten Tradition.“ 

„Aber nicht in der des guten Geſchmacks.“ 

Man erhitzte ſich immer mehr; zuletzt ſollte die Mama 
entſcheiden. Dieſe lehnte das aber ab. „Ich bin nicht be⸗ 
wandert genug in derlei Fragen und weiß nicht, ob es paßt 
oder ob es zuviel iſt. Ich denke wir, wir nehmen die Kartons 
mit und richten uns nach dem Ausſpruch der Tante.“ 

Dies fand Zuſtimmung, und als am andern Morgen 
die gleich „wie angegoſſen“ ſitzenden Kleider erſchienen, wurde 
vor dem langen, ſchmalen Spiegel, in dem man ſich gemuſtert 
und gegenſeitig befriedigend gefunden hatte, der ſchweſterliche 
Friede neu beſiegelt. 

„Er war doch ein herrlicher Mann,“ ſagte Manon. 

„Das war er, und ſein Andenken ſei geſegnet. Aus meinem 
Herzen kann ſein Bild nie wieder ſchwinden.“ 


Um zehn Uhr ging der Nachtzug vom Friedrichſtraßenbahn⸗ 
hof aus ab. Schon vor neun ſtand man in voller Reiſetoilette 
da, bei der Manon, die ſehr gut ausſah, auf einen zufaͤllig vor⸗ 
handenen Krimſtecher nur ungern verzichtet hatte. Sie ſagte 
ſich aber, daß es „ſtillos“ ſein wuͤrde (ſtillos war eine Lieblings⸗ 
wendung Floras), und als ſie dies erloͤſende Wort gefunden 

hatte, wurde ihr der Verzicht auch leichter. Friederike befand 
ſich mit im Vorzimmer, um zu helfen, wenn die Maͤntel um⸗ 


103 


genommen werden ſollten; es war aber immer noch viel zu 
früh, und man kam in Verlegenheit, wie die Zeit hinzubringen 
ſei. Das benutzte die Majorin, um noch eindringlich eine 
Rede zu halten. 

„Ich kann dir nur ſagen, Friederike, ſei vorſichtig und 
denke daran, was alles vorkommt. Erſt geſtern ſtand wieder 
was drin.“ 

„Ich weiß ja, gnaͤdge Frau. Aber man is doch auch kein 
Kind mehr.“ 

„Und wenn es klingelt, mache nicht gleich auf und ſchiebe 
dir lieber erſt eine Fußbank ran, daß du durchs Oberfenſter 
ſehen kannſt, wer eigentlich draußen iſt ...“ 

„Ja, gnaͤdge Frau.“ 

„Und wenn du aufmachſt, immer noch die Kette vor und 
immer bloß durch die Ritze ... Neulich iſt erſt wieder eine 
Witwe totgemacht worden, und wenn du gleich alles aufreißt, 
kann es dir auch paſſieren, oder ſie ſtreuen dir Schnupftabak in 
die Augen, oder ſie haben auch einen Knebel und da kannſt du 
nicht mal ſchreien. Und dann rauben fie alles aus...“ 

„Ach Gott, gnaͤdge Frau, die wiſſen ja immer gut Beſcheid, 
hier kommen ſie nicht.“ 

„Sage das nicht. Die denken auch, wer das Kleine nicht ehrt, 
iſt des Großen nicht wert. Immer beſſer bewahrt als beklagt!“ 

Friederike verſprach alles, und nun trennte man ſich. 

Eine Droſchke — die Portiersfrau hatte ſich dazu verſtanden, 
eine von der Ecke her herbeizuholen — hielt ſchon vor der Tuͤr, 
und nach nochmaligem Abſchied von Friederike ging es auf die 
Potsdamer Straße zu. 


Morgens gleich nach fünf kam der Zug in Schmiedeberg 
an, von dem aus es nur eine kleine Stunde bis Adamsdorf 
war. Johann hielt in einem offenen Wagen am Bahnhofe; 
der große Koffer kam nach vorn, die alte Majorin in den Fond, 


104 


ebenſo Thereſe; Manon dagegen ſaß auf dem Ruͤckſitz und freute 
ſich uͤber das Landſchaftsbild. Die Sonne war noch nicht auf, 
die Berge rings um aber roͤteten ſich ſchon, und dazu ging eine 
friſche Luft. Alles verſprach einen ſchoͤnen Herbſttag. 

Auch Thereſe war ganz hingenommen davon, und als die 
Berglinien immer ſchaͤrfer und klarer hervortraten, deutete 
ſie darauf hin und ſagte, ſich von ihrem Sitz erhebend: „Das 
alſo iſt das Rieſengebirge?“ 

Johann, an den ſich dieſe Frage richtete, fand ſich in dem 
ungewohnten Worte nicht gleich zurecht und ſagte deshalb: 
„Ja, da links, das iſt die Koppe.“ 

„Die Schneekoppe?“ 

„Ja, die Koppe.“ 

Manon amuͤſierte ſich, daß der Kutſcher auf das Bildungs⸗ 
deutſch ihrer aͤlteren Schweſter nicht recht eingehen wollte, 
waͤhrend Thereſe ſelbſt ihrer Lieblingsvorſtellung von der Volks⸗ 
beſchraͤnktheit behaglich nachhing. 


Es war gerade ſechs, als der Wagen vor Schloß Adamsdorf 
hielt. Ein Diener half den Damen beim Ausſteigen, und gleich 
nach ihm erſchien Sophie, die ſichtlich erfreut war, alle drei 
wiederzuſehen, Thereſe mit eingeſchloſſen, trotzdem dieſe ſich 
etwas reſerviert zeigte. Sie fand naͤmlich den Empfang anders 
als erwartet und vermißte namentlich die Tante. 

„Wo iſt die Tante?“ fragte ſie. „Doch nicht krank?“ 

„Nein, nicht krank,“ erwiderte Sophie, die ſofort erriet, 
was in Thereſens Seele vorging. „Die letzten Tage waren ſo 
ſchwere Tage. Da will ſie ſich ausruhen, ſo lange es irgend 
geht. Sie hat mich gebeten, ſie zu entſchuldigen.“ 

„Arme Verwandte,“ ſagte Thereſe mit halblauter Stimme 
vor ſich hin. 

Danach ſtiegen alle die breite Treppe hinauf in den erſten 
Stock, wo zwei Fremdenzimmer hergerichtet waren, ein großes 


105 


TEN er. 


und ein kleines, beide nebeneinander und die Zwiſchentuͤr auf, 
nur durch eine ſchwere Portiere geſchloſſen. In dem großen 
Zimmer ſollte die Mama mit Manon ſchlafen, in dem kleineren 
Thereſe. Die Auszeichnung, die darin lag, ſoͤhnte dieſe halb 
wieder aus. 

„Und nun könnt ihr euch,“ ſagte Sophie, „noch volle zwei 
Stunden ausruhen. Oder ſoll ich euch gleich ein Fruͤhſtuͤck aufs 
Zimmer ſchicken und ihr geht dann im Park ſpazieren, bis die 
Tante kommt? Es iſt am ſchoͤnſten des Morgens.“ 

Manon und die Mama ſchienen auch wirklich zu ſchwanken, 
namentlich erſtere, die von „Morgenſpaziergaͤngen im Park“ 
eine hohe Vorſtellung hatte. Thereſe hielt es aber fuͤr unklug, 
dieſe Dinge zu ſehr zu betonen und zu tun, als ob man der⸗ 
gleichen noch nie geſehen habe; die Guͤter in Pommern, die ſie 
kannte, hatten doch ſchließlich auch ihre Parks, und ſo ſagte ſie 
denn, es wuͤrde wohl das beſte ſein, dem Beiſpiel der Tante 
zu folgen und fuͤr das, was der Tag noch alles bringen muͤſſe, 
nach Moͤglichkeit Kraͤfte zu ſammeln. 


Vierzehntes Kapitel 


Um halb neun erſchienen die Damen unten in der großen 
Halle, darin ein Feuer brannte, trotzdem die Luft draußen 
beinahe ſommerlich war. Die Tante begruͤßte die Verwandt⸗ 
ſchaft herzlich und zugleich mit einem ſo vornehmen Anſtand, 
daß Thereſe ziemlich verwundert war. Damals, in Pyrmont, 
hatte die Generalin einen ſehr buͤrgerlichen Eindruck auf ſie 
gemacht, woraus alle Meinungsverſchiedenheiten und kleinen 
Haͤkeleien entſtanden waren, und jetzt nun ſo ganz anders. 
War es das Gefuͤhl, hier in Adamsdorf auf der eigenen Scholle 
zu ſein? Oder war es einfach der Schmerz, der ſie geadelt hatte? 
Sie entſchied ſich fuͤr den Schmerz. 


106 


Ihr Beiſammenſein beim Fruͤhſtuͤck waͤhrte nicht lange; 
waren doch nur noch wenige Stunden bis zum Begraͤbnis, 
und der Adel aus der Nachbarſchaft erſchien ſehr wahrſcheinlich 
um ein gut Teil fruͤher. Die Mama fragte, ob ſie den Schwager 
noch einmal ſehen koͤnne, was verneint wurde; der Sarg 
ſei ſchon geſchloſſen. Manon und Thereſe druͤckten ihre 
Trauer daruͤber aus, waren aber eigentlich froh und fanden 
Troſt in der Wendung, „er lebt ſo in einem lichteren Bilde 
in uns fort“. 

Schon um zehn fuͤllte ſich der Platz vor dem Schloß mit 
Leuten aus dem Dorf. Die Alten, Maͤnner wie Frauen, 
waren ernſt und bewegt, denn ſie hatten den General geliebt 
und verehrt; das junge Volk aber war mehr oder weniger in 
Kirmesſtimmung und kicherte ſich ſehr Irdiſches ins Ohr. 
Um elf kamen die Equipagen, eine halbe Stunde ſpaͤter die 
beiden Geiſtlichen aus dem Dorf (auch der katholiſche), und um 
zwoͤlf ſetzte ſich der Zug unter Geſang in Bewegung, bis in die 
Kirche. Hier ſprach der Geiſtliche; nach ihm, in privater Eigen⸗ 
ſchaft, auch der alte katholiſche Pfarrer, „der nur dem Dank 
fuͤr die ſchoͤne Gerechtigkeit Worte leihen wolle, die den ver⸗ 
ehrten Toten ausgezeichnet habe“, — danach noch die Ein⸗ 
ſegnung, und der Sarg ſenkte ſich in die Kirchengruft. Thereſe 
hatte ein ſchmerzliches Gefühl, daß ein Poggenpuhl auserſehen 
ſei, ſo zwiſchen den Saͤrgen einer fremden Familie zu liegen, 
und ihre Haltung, die durch Ernſt auffiel, gab dieſem Ge⸗ 
fuͤhle Ausdruck. Einige billigten es; andre aber — Schleſiſche 
von Adel — fanden es etwas albern und fluͤſterten ſich zu: 
„Pommerſcher Junkerhochmut.“ Denn die Schleſier haben 
keine Junker. Oder wenigſtens keine ganz echten. 

Alle waren uͤbrigens mit der Feier zufrieden, einen Kirchen⸗ 
aͤlteſten ausgenommen, der nicht darüber weg konnte, daß auch 
der „alte Katholſche“ geſprochen habe. Das ginge nicht. Wenn 
man das einreißen laſſe, ſo ſetze man ſich in die Neſſeln und die 


107 


„Simonie“ fei fertig. Was er darunter eigentlich verſtand, 
konnte nicht aufgeklaͤrt werden. 


Gleich nach der Feier in der Kirche wurde ein Imbiß ge⸗ 
nommen, Mittagstafel fiel aus, und als die Gaͤſte wieder fort 
waren, zogen ſich die beiden alten Damen, die Generalin und 
die Majorin, in ihre Zimmer zuruͤck. Sie bedurften der Ruhe, 
wollten allein ſein. Sophie hatte noch in der Wirtſchaft zu tun, 
und ſo blieben nur Manon und Thereſe, die ſich alsbald zu 
einem Spaziergange an dem von einem Waͤſſerchen um⸗ 
zogenen Außenrande des Parkes hin entſchloſſen. Es mochte 
gegen vier Uhr ſein, die Sonne neigte ſich ſchon und ſchien durch 
hohe Silberpappeln. Kein Luͤftchen ging, alles ſtill, nur von 
einer benachbarten Schmiede her hoͤrte man ein Haͤmmern 
und Pinken und ganz zuletzt, als man weiter und ſchon bis in 
die Naͤhe der Felder gekommen war, auch das Dengeln der 
Senſe; weiße Birkenbruͤcken führten über das Waͤſſerchen hin⸗ 
uͤber, und an einzelnen Stellen machte der Laubengang kleine 
Niſchen und Buchtungen, in denen Baͤnke ſtanden. Die Voͤgel 
ſangen nicht mehr, aber ein Eichhoͤrnchen ſprang uͤber den Weg. 
Thereſe gab ihre kritiſche Laune ganz auf und fand ſich ge⸗ 
muͤßigt, anerkennende Außerungen uͤber den ſchleſiſchen Adel 
einzuſtreuen. „Es iſt alles reicher hier,“ ſagte ſie; „man fuͤhlt 
es den Dingen ab, daß niemand ans Sparen dachte. Bei uns 
denkt man immer daran, auch die, die's nicht noͤtig haben. 
Sieh dieſe Bank. Alles Granit und mit Sandſtein eingefaßt. 
Bei uns waͤre ſie von Holz.“ 

Manon fand es eigentlich auch. Aber die Hauptunterhal⸗ 
tungs form zwiſchen den Poggenpuhlſchen Schweſtern war die, daß 
eine der andern widerſprach. Und ſo ſagte ſie denn: „Du kannſt 
nie Maß halten, Thereſe. Wie wir ankamen, mißfiel dir alles, und 
nun findeſt du wieder alles ſchoͤn und reich und uns uͤberlegen. 
Ich kann es nicht finden; ich finde den Tiergarten viel ſchoͤner.“ 


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„Wie du nur fo was ſagen kannſt, und alles bloß aus 
Widerſpruch. Der Tiergarten, nun meinetwegen, der kann 
paſſieren; aber er iſt doch etwas Öffentliches, und was öffent; 
lich iſt, iſt immer gewoͤhnlich. Und vieles, was man im Tier⸗ 
garten ſieht, iſt geradezu zyniſch.“ 

„Zyniſch?“ 

„Ja. Man ſieht Statuen und Reliefs, die das Zyniſche 
ruͤckſichtslos herauskehren. Ich waͤhle dieſen Ausdruck ab⸗ 
ſichtlich. Es iſt das eben die Vorliebe fuͤr das Natuͤrliche, das 
die moderne Kunſt als ihr gutes Recht anſieht; ich glaube aber 
umgekehrt, daß die Kunſt verhuͤllen ſoll. Indeſſen dies alles 
mag auf ſich beruhen, ich will davon nicht ſprechen; als ich vor⸗ 
hin mit Vorbedacht das Wort zyniſch gebrauchte, dachte ich 
vielmehr an die lebendigen Bilder und Szenen, an die Menſchen 
alſo, die man dort findet. Auf jeder Bank ſitzt ein Paar und 
verletzt durch ſeine Haltung. Und wenn man endlich wo Platz 
nehmen will, an einer Stelle, wo ſich zufaͤllig kein Paar befindet, 
ſo kann man es auch nicht, weil man nie weiß, wer vorher da 
geſeſſen hat. Gerade im Tiergarten ſoll es ſo furchtbare Men⸗ 
ſchen geben.“ 

„Ich ſetze mich immer da, wo Kinder ſpielen.“ 

„Das ſollteſt du nicht tun, Manon. Man iſt auch da nicht 
ſicher, oft da am wenigſten. Und jedenfalls fehlt allem der 
Zauber des Unberuͤhrten; hier weiß ich, ich atme eine reine Luft. 
Sieh doch, wie das plaͤtſchert; bei uns iſt alles truͤbe Lache.“ 

Thereſe ſprach noch weiter in dieſer Richtung und verſtieg 
ſich dabei bis zu hoher Anerkennung der Tante. „Sophie hat 
uns nicht zuviel geſchrieben, eine Frau, in der alles Fruͤhere 
bis auf den letzten Reſt getilgt iſt. Es iſt nicht jedem beſchieden, 
dies von ſich ſagen zu koͤnnen. Wenn ich da an Mama denke ...“ 

„Du ſollteſt nichts gegen Mama ſagen. Mama iſt gut und 
mußte viel tragen und hat es. Das kann auch nicht jeder.“ 

Erſt beim Tee ſahen ſich alle wieder. Manon ſprach uͤber 


109 


die Säfte, über einzelne Vorkommniſſe, zuletzt auch über die 
Predigt. Der Geiftliche hatte viel von Auferſtehung geſprochen 
und die Tante richtete die Frage an Sophie, ob die Auferſtehung 
nicht auch durch einen Hergang aus dem Alten Teſtament dar⸗ 
geſtellt werden koͤnne. Sie wuͤrde ſich freuen, zu hoͤren, daß das 
moͤglich ſei. 

„Ja,“ ſagte Sophie, „das Alte Teſtament hat einen Her⸗ 
gang, von dem man annimmt, daß er die Auferſtehung be⸗ 

deute.“ 

„Und welcher iſt das?“ 

„Es iſt das der Moment, wo der große Walfiſch den von 
ihm verſchlungenen Propheten Jonas wieder auswirft. Wie 
man zugeſtehen muß, ſehr ſinnreich. Ich fuͤhle mich der Aufgabe 
aber nicht gewachſen.“ 

„Gott ſei Dank,“ ſagte Manon in einem ploͤtzlichen Anfall 
von Übermut. 

„Sage das nicht, Kind,“ bemerkte die Tante. „Dir erſcheint 
es komiſch; aber was Jahrhunderte mit Ernſt und Achtung 
angeſchaut haben, darin ſeh ich immer etwas, was man reſpek⸗ 
tieren muß.“ 

Manon erroͤtete und erhob ſich dann und kuͤßte der Tante 
die Hand. 


Man trennte ſich fruͤh, aber doch mit der Zuſicherung, am 
andern Tage ſpaͤteſtens um ſieben beim Fruͤhſtuͤck ſein zu 
wollen. Es gab noch allerhand zu beſprechen. Da kam man 
denn auch uͤberein, daß Sophie, die nun ſchon ſo lange in halber 
Einſamkeit gelebt habe, wieder mit nach Berlin zuruͤckkehren 
ſolle, aber nur auf kurze Zeit. Sophie, ſo aͤußerte ſich die Tante, 
ſei ſo gut und ſo klug und ſo beſcheiden, daß ihre Naͤhe ihr ein 
Beduͤrfnis geworden ſei; ſie muͤſſe ſich freilich in der großen 
Stadt erholen, aber je eher ſie zuruͤckkehre, je lieber ſei es ihr. 
Es wurde ſeitens der Tante feſtgeſetzt, daß ſie Mitte November 


110 


3 A 


wieder in Adamsdorf eintreffen ſolle; mit dem Malen wuͤrde 

es dann in den dunkeln Nebeltagen wohl vorbei ſein, aber das 
ſchade nichts, und wenn Sophie neben ihr ſitze und mit ihr ins 
Feuer ſaͤhe und des lieben Toten gedenke, ſo ſei das noch beſſer 
als das beſte Bild. Als ſie das ſagte, reichte ſie Sophie die 
Hand, und alle waren gluͤcklich, daß ein ſo herzliches Verhaͤltnis 
zwiſchen den beiden beſtehe. Selbſt Thereſe freute ſich; ihr 
Familiengefuͤhl war ſtaͤrker als ihre perſoͤnliche Eitelkeit, und 
ſie ſah in dem Ganzen einen Sieg des Poggenpuhlſchen, das 
doch auch in Sophie lebte, wenn auch anders als bei den andern 
und ganz beſonders bei ihr. Sie hatte das Liebe, Freundliche, 
Demuͤtige, das der gute Onkel ja auch gehabt. 

Nach dieſen Abmachungen zogen ſich die jungen Maͤdchen 
zuruͤck, um dem Pfarrer und ſeiner jungen Frau, die fuͤr eine 
Schoͤnheit galt und es auch war, einen Beſuch zu machen, 
und nur die beiden alten Damen, die den Namen Poggenpuhl 
trugen und doch keine Poggenpuhls waren, blieben in der 
Veranda zuruͤck. Der Diener wollte den Fruͤhſtuͤckstiſch ab⸗ 
raͤumen. „Laß noch, Joſeph,“ ſagte die Generalin, und als 
ſie wieder allein waren, ſahen beide auf das Gartenrondell und 
dann, uͤber eine von Efeu uͤberwachſene Mauer fort, auf die 
Daͤcher der Dorfſtraße, zwiſchen denen der Kirchturm mit 
ſeinem gruͤnen Kupferdach aufragte. Die Gedanken beider 
gingen denſelben Weg, ſie dachten an den, der nun da druͤben 
in der ſtillen Gruft lag. 

Eine Weile verging, ohne daß ein Wort geſprochen worden 
waͤre, dann nahm die Generalin der Majorin Hand und ſagte: 
„Liebe Frau Majorin, ich muß nun noch etwas richtigſtellen 
zwiſchen uns. Etwas Geſchaͤftliches. Und ich denke, Sie werden 
mir zuſtimmen in dem, was ich vorzuſchlagen habe.“ 

„Das werde ich gewiß. Ich darf das ſagen, ohne daß ich 
weiß, um was es ſich handelt. Ich habe zu ſehr erfahren, wie 
guͤtig Sie ſind.“ 


111 


„Nun denn ohne Umſchweife. Sie wiſſen durch Sophie, 
die mir dieſe Ausplauderei nachtraͤglich gebeichtet, wie die 
Beſitzverhaͤltniſſe liegen. Adamsdorf verbleibt mir bei meinen 
Lebzeiten, dann faͤllt es an die Familie meines erſten Mannes 
zuruͤck. Mein eingebrachtes Vermoͤgen ging verloren. Auch 
davon werden Sie wiſſen. Aber dieſen Vermoͤgensverluſt war 
ich doch imſtande ſpaͤter wieder zu begleichen, wenigſtens einiger⸗ 
maßen. Poggenpuhl beſtritt ſeine kleinen Liebhabereien von 
ſeiner Penſion, unſer Haushalt wurde ſparſam gefuͤhrt, und 
ſo hab ich mich in der gluͤcklichen Lage geſehen, ſchlechter Ernten 
unerachtet, ein beſcheidenes Privatvermoͤgen aufs neue ſammeln 
zu koͤnnen. Daruͤber habe ich freie Beſtimmung, und ehe Sie 
Adamsdorf verlaſſen, ſollen Sie hören, wie ich darüber ver; 
fuͤgt habe. Die Summe ſelbſt betraͤgt bis zur Stunde nicht 
mehr als etwa ſiebzehntauſend Taler — ich rechne noch nach 
Talern —, von denen ich zwoͤlftauſend Taler in fuͤnfprozen⸗ 
tigen Papieren bei meinem Bankier in Breslau deponiert 
habe. Sie werden davon, vom erſten Oktober an, die viertel⸗ 
jährlichen Zinſen empfangen, fo daß ſich Ihre Jahreseinnahmen 
um etwa ſechshundert Taler verbeſſern werden. Das Kapital 
iſt unkuͤndbar. Nur im Falle ſich eine Ihrer Toͤchter verheiraten 
ſollte, wird ihr ihr Anteil ausgezahlt. Wenn ſich alle drei ver⸗ 
heiraten, wuͤrde fuͤr Sie, meine gnaͤdige Frau, nur ein Geringes 
uͤbrigbleiben, aber Ihnen verbliebe dann die ganze ſtaatliche 
Penſion, und ich weiß von vielen Jahren her, wie anſpruchslos 
Sie Ihr Leben einzurichten wiſſen.“ 

Die Majorin war ſo geruͤhrt, daß ſie ſtumm daſaß und vor 
ſich hinblickte, waͤhrend die Generalin fortfuhr: „Dann ſind 
da freilich noch die Soͤhne, und die ſollen nicht vergeſſen ſein. 
Aber das iſt eine Privatſache, die das andre nicht beruͤhrt; 
ſie werden ſich mit kleinen einmaligen Geſchenken ihrer Tante 
begnuͤgen muͤſſen. Ich habe vor, an Wendelin, der ein guter 
Wirt iſt und den Wert des Geldes kennt, tauſend Taler zu 


112 


nnn. 


ſchicken, an Leo fuͤnfhundert. Leo wird fih davon einen guten 
Tag machen; er iſt ein Leichtfuß, woran ich aber keine mora⸗ 
liſchen Betrachtungen knuͤpfe, denn auch die Leichtfuͤße ſind mir 
ſympathiſch, vorausgeſetzt, daß Anſtand und gute Geſinnung 
in dem leichten Leben nicht untergehen. Fuͤr meine teure Sophie 
behalte ich mir noch Sonderentſchluͤſſe vor. Das war es, 
meine liebe Frau Majorin, was ich Ihnen vor Ihrer Abreiſe 
noch mitteilen wollte.“ 

Die Sonne ſchimmerte gedaͤmpften Lichts durch die noch 
dicht in Laub ſtehenden Baͤume; auf das Rondell und die Beete 
aber, die ſich vor der Veranda aus dehnten, fiel ihr voller Schein, 
und die noch hie und da bluͤhenden Balſaminen und Verbenen 
leuchteten auf in einem helleren Weiß und Rot. Von dem 
Gutshof her ſtiegen Tauben auf und flogen hoch uͤber den 
Garten hin, auf den Kirchturm zu, den ſie umſchwaͤrmten, 
ehe ſie ſich auf den kupfernen Helm und den Firſt des Daches 
niederließen. 

Die Majorin wollte der Generalin die Hand kuͤſſen, aber 
dieſe umarmte ſie und kuͤßte ſie auf die Stirn. 

„Ich bin gluͤcklicher als Sie,“ ſagte die Generalin. 

„Das ſind Sie, gnaͤdige Frau. Gluͤcklich machen iſt das 
hoͤchſte Gluck. Es war mir nicht beſchieden. Aber auch dankbar 
empfangen koͤnnen iſt ein Gluͤck.“ 


Fuͤnfzehntes Kapitel 


An dem Tage, an dem die Poggenpuhls zuruͤckerwartet 
wurden, war nicht bloß Friederike, ſondern auch die Portier⸗ 
familie in einer gewiſſen Aufregung. Es hing dies, ſoweit die 
Nebelungs in Betracht kamen, mit dem zufaͤlligen Umſtande 
zuſammen, daß infolge Verreiſtſeins eines in der zweiten 
Etage wohnenden freikonſervativen Geheimrats die fuͤr dieſen 


V8 113 


Bd > 1 


beſtimmten Zeitungen unten in der Portierwohnung abgegeben 
und von dem ebenſo neugierigen wie gern faulenzenden Nebe⸗ 
lung (feine Frau mußte ſich dafür quälen) je nach Laune durch⸗ 
ſtudiert oder auch bloß uͤberflogen wurden. Unter dieſen Zei⸗ 
tungen war auch die „Poſt“, in der in der heutigen Morgen⸗ 
nummer des Hinſcheidens des Generalmajors von Poggen⸗ 
puhl kurz Erwaͤhnung geſchehen war, unter gleichzeitiger An⸗ 
fuͤgung der Worte: „Siehe auch die Todesanzeigen.“ Auf 
dieſe ſtuͤrzte ſich nun unſer Nebelung ſofort, und als er 
die ſchwarz umraͤnderte Anzeige gefunden und mit einem ge⸗ 
wiſſen Grinſen aufmerkſam geleſen hatte, ſchob er das Blatt 
ſeiner vierzehnjaͤhrigen, mit ihren zwei Bruͤdern gerade beim 
Nachmittagskaffee ſitzenden Tochter Agnes zu und ſagte: 
„Da, Agnes, lies mal; das da, wo die dicken ſchwarzen Striche 
ſind.“ Und Agnes, die nicht bloß bleichſuͤchtig, ſondern wegen 
ihrer Figur und ihrer Vorliebe fuͤr die „Jungfrau von Orleans“ 
auch fuͤrs Theater beſtimmt war, las, waͤhrend alles auf⸗ 
horchte: 

Heute ſtarb, 67 Jahre alt, auf Schloß Adamsdorf in Schleſien 
unſer teurer Gatte, Schwager und Oheim, der Generalmajor a. D. 
Eberhard Pogge von Poggenpuhl, 

Ritter des Eiſernen Kreuzes r. Klaſſe wie des Ordens Albrechts des 
Baͤren. Dies zeigen ſtatt jeder beſonderen Meldung an die tief betruͤb⸗ 
ten Hinterbliebenen a 
Joſephine Pogge von Poggenpuhl, geb. Bienengraͤber, verwitwete 
Freiin von Leyſewitz, als Gattin. 
Albertine Pogge von Poggenpuhl, geb. Puͤtter, verwitwete 
Majorin, als Schwaͤgerin. 
Wendelin Pogge von Poggenpuhl, Premierleutnant im 
Grenadier⸗Regiment von Trzebiatowski, 


als 

Leo Pogge von Poggenpuhl, Sekondleutnant im Gre⸗ Neff 
* ’ en 

nadier⸗Regiment von Trzebiatowski, . 
Thereſe Pogge von Poggenpuhl, Richten 


Sophie Pogge von Poggenpuhl, 
Manon Pogge von Poggenpuhl. 


114 


Agnes, deren etwas kaͤſeweißes Geſicht bei dem Vortrag 
all dieſer Namen — nur den polniſchen Regimentsnamen 
brachte ſie nicht recht zuſtande — ganz rot geworden war, 
legte das Blatt aus der Hand, waͤhrend der Alte mit breitem 
Behagen ſagte: „Na fo was von Poggenz ich hör es ordent⸗ 
lich quaken,“ — ein Witz, der von dem johlenden Beifall 
ſeiner beiden Jungens (echter Nebelungs) ſofort begleitet 
wurde. Die Tochter aber, die ſich von ihrem dramatiſchen 
Vortrag eine ganz andere Wirkung verſprochen hatte, ſtand 
auf und ſagte, waͤhrend ſie hinausging, zu der etwas ſeit⸗ 
abſitzenden Mutter: „Ich weiß nicht, Vater iſt heute wieder ſo 
ordinaͤr,“ — eine Bemerkung, die die kraͤnkliche, immer ver⸗ 
aͤrgerte Frau durch mehrmaliges Kopfnicken beſtaͤtigte. Nebe⸗ 
lung ſelbſt aber rief der in der Tuͤr eben verſchwindenden 
Tochter nach: „Sei nich ſo frech, Kroͤte; — noch biſt du nich 
dabei.“ 


In gewiſſem Sinne hatte Agnes ihrem Vater unrecht 
getan. In der Tiefe ſeiner Seele fuͤhlte ſich Nebelung gar 
nicht ſo unberuͤhrt von dem allen; er hatte ſich vielmehr, als 
echter Berliner, nur den durch die glaͤnzende Namensauf⸗ 
zaͤhlung empfangenen Eindruck wegſchwadronieren wollen. 
Andererſeits freilich war er aufrichtig unwirſch, daß ihm das 
„pauvre Volk da oben“ mit einmal als etwas Beſonderes 
aufgezwungen werden ſollte. Das ſei doch alles bloß zum 
Lachen, der reine Unſinn. Aber wie immer auch, waͤhrend er 
ſich noch dagegen ſtraͤubte, war er doch auch ſchon wieder bereit, 
gute Miene zum boͤſen Spiele zu machen, und die Gelegenheit 
dazu bot ſich bald. 

Es mochte halb fuͤnf ſein (die Jungens waren eben aus 
der Schule nach Hauſe gekommen), als die Streitſzene zwiſchen 
Vater und Tochter geſpielt hatte, und keine Stunde mehr, 
ſo kam auch ſchon eine Droſchke mit Reiſekoffer die Groß⸗ 


8 115 


goͤrſchenſtraße herauf. Das ganze Haus wartete. Wie Friede 
rike, ſo hatten ſich auch die Nebelungs unten aufgepflanzt, 
allerdings in ſehr verſchiedenen Stellungen und Beſchaͤftigun⸗ 
gen; die beiden Jungens lehnten ſich an die Hauswand, halb 
neugierig, halb bummelig, weil ſie dem „freien deutſchen Mann“ 
in ihnen nichts vergeben wollten; Nebelung ſelbſt aber, eine 
Art Fes auf dem Kopfe, patrouillierte das Trottoir auf und 
ab, waͤhrend Agnes, wie wenn es ſich um ihr Auftreten etwa 
als Mondecar oder irgend ſonſt ein ſpaniſches Hoffraͤulein 
gehandelt haͤtte, ſchlank und aufrecht in der offen ſtehenden 
Haustuͤre ſtand. Als die Frau Majorin an ihr voruͤberging, 
machte ſie einen gut einſtudierten Hofknicks, der ſich geſteigert 
wiederholte, als gleich danach Thereſe kam. War dieſe doch 
die einzige der Familie, die noch unentwegt den langen Trauer⸗ 
ſchleier trug, was ihr, ſamt ihrer funebren Haltung, auch ſchon 


unterwegs allerlei Huldigungen eingetragen hatte. Man hatte 


ſie fuͤr eine junge Offizierswitwe gehalten, deren Mann in 
einem ſchleſiſchen Bade geſtorben ſei. 

Hart neben dem Buͤrgerſteige hielt noch immer die Droſchke, 
mit deren Kutſcher, einem ziemlich verſchmitzt dreinſchauenden 
Manne, Manon und Sophie wegen Heraufſchaffung des 
Koffers parlamentierten; „er koͤnne nicht von dem Pferde weg, 
er kaͤme ſonſt in Strafe,“ ſo hieß es ſeinerſeits immer wieder. 
In dieſem Verlegenheitsmoment aber trat der ſonſt ſo zuge⸗ 
knoͤpfte Nebelung an die beiden jungen Damen heran und er⸗ 
Härte ſich unter gefälliger Lüftung feines Fes bereit, den 
großen Koffer in die Wohnung hinaufzutragen. „Ach, Herr 
Nebelung ...“ ſagte Sophie. Dieſer aber hatte ſchon Hand 
angelegt, wuchtete den Koffer ziemlich geſchickt auf ſeine Schulter 
und ließ ſich auch nicht irre machen, als ihm der in ſeiner Diplo⸗ 
matie verungluͤckte Droſchkenkutſcher ſpoͤttiſch nachrief: „Na, 
ſchaden Sie ſich man nich.“ | 

Es hatte damit aber gute Wege, denn der Koffer, fo groß 


116 


— 


er war, war nicht ſchwer, und Nebelung fehlen kaum außer 
Atem, als er oben ankam. Friederike nahm ihm den Koffer 
ab, und im ſelben Augenblick ſagte Sophie: „Bitte, Herr 
Nebelung ... Ich danke Ihnen.“ Unten aber, in feine Portier⸗ 
loge zuruͤckgekehrt, warf Nebelung ein blankes Markſtuͤck auf 
den Tiſch und ſagte: „Da, Mutter, das muß in die Sparbuͤchſe. 
Pogge von Poggenpuhl ... Und noch dazu von Sophiechen .. 
Jungferngeld; das heckt.“ 

Agnes, die nur die Schlußworte gehoͤrt hatte, drehte ſich 
veraͤchtlich um. 


An der Tuͤreinfaſſung oben hing ein halber Papierbogen 
mit „Willkommen“ von Friederikens eigener Hand. Aus 
Schreibunſicherheit oder vielleicht auch aus Erſparnis hatten 
die Buchſtaben alle keinen rechten Tintenkorpus, ſondern bez 
ſtanden bloß aus zwei nebeneinander herlaufenden Linien. 
In der Blumenſchale vor dem Bilde des Sohrſchen befanden 
ſich rote und weiße Marktaſtern. Einige davon waren fuͤr den 
Hochkircher beſtimmt geweſen, und zwar zum Einſtecken hinter 
den Rahmen; aber Friederike hatte wieder Abſtand davon 
genommen mit der Bemerkung: „Den kenn ich; wenn man ihn 
anruͤhrt, faͤllt er.“ 

„Na, leben tuſt du ja noch,“ ſagte die Majorin, als ihr 
Friederike dienſtbefliſſen den Mantel abnahm. „Haſt du auch 
nicht zu ſehr gefpart? Das mußt du nicht. Und immer bloß 
Nachguß; dabei kannſt du nicht gedeihen.“ 

„Ach, ich gedeihe ſchon, gnaͤdige Frau.“ 

„Na, wenn es nur wahr iſt. Aber nun bringe uns Kaffee. 
Die Taſſen ſtehen ja ſchon. Ein bißchen ausgefroren bin ich 
doch; die eine Dame riß immer alles auf.“ 

„Ja, das tut man jetzt, Mama,“ ſagte Thereſe. 

„Ich weiß, man tut es jetzt. Und es mag auch gut ſein, 
aber nicht für jeden. Wer Rheumatismus hat...“ 


117 


Sophie hatte ſich's inzwiſchen auch bequem gemacht und 
warf ſich mit einem gewiſſen Behagen in die Sofaecke, erſt 
das Zimmer und dann all die alten Kleinigkeiten muſternd, 
die umherſtanden und lagen und die fie hundertmal in Handen 
gehabt hatte. 

„Komm, Mama, du mußt dich hier neben mich ſetzen oder 
ich ruͤcke weiter hin, denn dies iſt ja deine Ecke. Gott, wenn ich 
mich hier ſo umſehe. Eigentlich iſt es doch ganz huͤbſch bei euch.“ 

„Du koͤnnteſt ſagen bei uns,“ ſagte Thereſe. 

„Gewiß, gewiß. Ich gehoͤre ja zu euch und werde immer 
zu euch gehoͤren. Aber die lange Zeit. Dreiviertel Jahr oder 
doch beinah. Und dann ſoll ich ja auch wieder zuruͤck.“ 

„Und willſt auch? Und willſt es auch gern?“ 

„Natuͤrlich. Es iſt ja abgemacht. Und wenn es auch nicht 
abgemacht waͤre, ich bin gern in Adamsdorf und gern bei der 
Tante.“ 

„Wer waͤr es nicht,“ ſagte Thereſe. „Der Park und die 
Gruft, darin nun der General, unſer Onkel, ruht. Dahin zieht 
es wohl jeden. Und dieſe Frau, der ich viel abbitten muß, 
ich hielt ſie fuͤr befangen in Buͤrgerlichkeit, aber ſie hat ganz 
die Formen der vornehmen Welt. Es iſt ſchade, daß ſich dieſer 
Umwandlungsprozeß ſo ſelten vollzieht.“ 

Sophie und Manon warfen der Schweſter Blicke zu mit 
der offenbaren Abſicht, ſie von dem heiklen Thema abzubringen. 
Aber ſo gut gemeint dies war, ſo war es doch nicht noͤtig, weil 
die Mama nichts von Bitterkeit dabei empfand. Sie laͤchelte 
nur wehmuͤtig vor ſich hin mit jener ſtillen Überlegenheit, die 
das Leben und das Bewußtſein gibt, die Kaͤmpfe des Lebens 
ehrlich durchgefochten zu haben. „Ach, meine liebe vornehme 
Tochter,“ ſagte ſie, „was du da wieder ſprichſt.“ 

„Ich habe dich nicht kraͤnken wollen, Mama.“ 

„Weiß ich. Und es kraͤnkt mich auch nicht. Ich hatte auch 
mal mein Selbſtgefuͤhl und meinen Stolz, aber all das hat 


118 


— 


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= das Leben zerrieben und mich mürbe gemacht... Das mit 


der Tante, ja, da haſt du recht, das iſt eine vorzuͤgliche Frau 
und, wenn du's ſo haben willſt, auch eine adlige Frau. Das 
hab ich immer gewußt, und ſeit dieſen Tagen weiß ich es noch 
beſſer. Aber das alles — und es iſt hart, daß ich das meiner 
eigenen Tochter immer wieder verſichern muß, waͤhrend ſie's 
doch wiſſen koͤnnte, auch ohne meine Verſicherung — aber das 
alles haͤtte das Leben auch aus mir machen koͤnnen. Es hat 
es nur nicht gewollt. In einem Schloſſe zu Hauſe zu ſein und 
Hunderte begluͤcken und dann durch Entziehung von Gluͤck 
auch mal wieder ſtrafen zu koͤnnen, das alles iſt eine andre 
Lebensſchule, wie wenn man nach Herrn Nebelungs Augen 
ſehen und ſich um ſeine Gunſt bewerben muß. Ich habe nur 
ſorgen und entbehren gelernt. Das iſt meine Schule ge⸗ 
weſen. Viel Vornehmes iſt dabei nicht herausgekommen, nur 
Demut. Aber Gott verzeih es mir, wenn ich etwas Unrechtes 
damit ſage, die Demut, wenn ſie recht und echt iſt, iſt viel⸗ 
leicht auch eine Eigenſchaft, die ſich unter dem Adel ſehen 
laſſen kann.“ 

Sophie glitt leiſe von dem Sofa nieder auf ihre Knie und 
bedeckte die Haͤnde der alten Frau mit Traͤnen und Kuͤſſen. 
„Das kannſt du nicht verantworten, Thereſe,“ ſagte Manon 
und trat ans Fenſter. 

Thereſe ſelbſt aber ließ ihr Auge ruhig uͤber die uͤber der 
Sofalehne haͤngende „Ahnengalerie“ hingleiten, und ihr 
Auge ſchien ſagen zu wollen: „Ihr ſeid Zeugen, daß ich nicht 
mehr geſagt, als ich ſagen durfte.“ Dann aber kam ihr 
ein zweites, beſſeres Gefuͤhl, und ſie lieh ihm auch Worte: 
„Verzeih, Mama,“ ſagte ſie. „Es kann ſein, daß ich unrecht 
habe.“ 


Es lag nicht im Charakter der Familie, den Verſtim⸗ 
mungen uͤber eine derartige Szene Dauer zu geben. Die 


119 


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* 


Mutter hatte Schwereres tragen gelernt und war jeden Augen⸗ 
blick zur Verzeihung und Nachgiebigkeit geneigt, waͤhrend die 
im weſentlichen in ihren Anſchauungen verharrende, trotzdem 
aber nicht eigentlich eigenſinnige Thereſe das Beduͤrfnis hatte, 
wieder einzulenken, wozu ein Geſpraͤch mit Manon das beſte 
Mittel bot. Sie nahm daher dieſe bei der Hand, fuͤhrte ſie von 
ihrem Fenſterplatz her an den Kaffeetiſch zuruͤck und ſagte, 
waͤhrend ſie ſie neben ſich auf eine Fußbank niederzog: „Es 
muß nun doch vieles anders werden mit uns und auch mit dir, 
Manon. Du biſt, mein lieber Schelm, am weiteſten ab vom 
rechten Wege. Wie denkſt du nun eigentlich hinſichtlich deiner 
Zukunft?“ 

„Zukunft? — Ach, du meinſt heiraten?“ 

„Ja, das vielleicht auch. Aber zunaͤchſt meine ich hinſichtlich 
deines Umgangs, deines geſellſchaftlichen Verkehrs. Wie 
denkſt du daruͤber?“ 

„Nun, gerade ſo wie fruͤher. Mein Verkehr bleibt wie 
it. i 

„Das follteft du doch überlegen.” 

„Überlegen? Ich bitte dich .. Ich möchte wohl das Geſicht 
des alten Bartenſtein ſehen, wenn ich mich, angeſichts meiner 
zweihundert Taler Zinſen, ploͤtzlich auf meinen alten Adel 
beſoͤnne. Wenn es mehr waͤre, verzieh er mir's vielleicht. 
ber 

„Alſo alles beim alten?“ 

„Ja. Und nun gar heiraten! So dumme Gedanken 
duͤrfen wir doch nicht haben; wir bleiben eben arme Maͤdchen. 
Aber Mama wird beſſer verpflegt werden, und Leo braucht 
nicht nach dem Aquator. Denn ich denke mir, ſeine Schulden 
werden nun wohl bezahlt werden koͤnnen, ohne Blumenthals 
und ſelbſt ohne Flora. Flora ſelbſt aber bleibt meine Freundin. 
Das iſt das, was ich haben will. Und ſo leben wir gluͤcklich 
und zufrieden weiter, bis Wendelin und Leo etwas Ordentliches 


120 


geworden find und wir wieder ein paar andere Größen haben 
als den Sohrſchen und den Hochkircher.“ 

„Du vergißt einen dritten, deinen Vater,“ ſagte die Majorin, 
in der ſich bei diefer Übergehung zum erſtenmal das Poggen⸗ 
puhlſche regte. 

„Ja, meinen Vater, den hatt ich vergeſſen. Sonderbar, 
Vaͤter werden faſt immer vergeſſen. Ich werde mit Flora 
daruͤber ſprechen. Die ſagte auch mal ſo was.“ 


5 
1 


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1 
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Erſtes Kapitel 


In Front des ſchon ſeit Kurfürft Georg Wilhelm von der 
Familie von Brieſt bewohnten Herrenhauſes zu Hohen⸗Crem⸗ 
men fiel heller Sonnenſchein auf die mittagsſtille Dorfſtraße, 
während nach der Park- und Gartenſeite hin ein rechtwinklig 
angebauter Seitenfluͤgel einen breiten Schatten erſt auf einen 
weiß und gruͤn quadrierten Flieſengang und dann uͤber 
dieſen hinaus auf ein großes, in ſeiner Mitte mit einer Sonnen⸗ 
uhr und an ſeinem Rande mit Canna indica und Rhabarber⸗ 
ſtauden beſetztes Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, 
in Richtung und Lage genau dem Seitenfluͤgel entſprechend, 
lief eine ganz in kleinblaͤttrigem Efeu ſtehende, nur an einer 
Stelle von einer kleinen, weiß geſtrichenen Eiſentuͤr unter⸗ 
brochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen⸗Cremmener 
Schindelturm mit ſeinem blitzenden, weil neuerdings erſt wieder 
vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel 
und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten 
umſchließendes Hufeiſen, an deſſen offener Seite man eines 
Teiches mit Waſſerſteg und angeketteltem Boot und dicht 
daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes 
Brett zu Haͤupten und Fuͤßen an je zwei Stricken hing — 
die Pfoſten der Balkenlage ſchon etwas ſchief ſtehend. Zwiſchen 
Teich und Rondell aber und die Schaukel halb verſteckend 
ſtanden ein paar maͤchtige alte Platanen. 5 ; 


125 


Auch die Front des Herrenhauſes — eine mit Aloekübeln 
und ein paar Gartenſtuͤhlen beſetzte Rampe — gewaͤhrte bei 
bewoͤlktem Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei 
Zerſtreuung bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die 
Sonne niederbrannte, wurde die Gartenſeite ganz entſchieden 
bevorzugt, beſonders von Frau und Tochter des Hauſes, die 
denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden 
Flieſengange ſaßen, in ihrem Ruͤcken ein paar offene, von 
wildem Wein umrankte Fenſter, neben ſich eine vorſpringende 
kleine Treppe, deren vier Steinſtufen vom Garten aus in das 
Hochparterre des Seitenfluͤgels hinauffuͤhrten. Beide, Mutter 
und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herſtellung 
eines aus Einzelquadraten zuſammenzuſetzenden Altarteppichs 
galt; ungezaͤhlte Wollſtraͤhnen und Seidendocken lagen auf 
einem großen, runden Tiſch bunt durcheinander, dazwiſchen, 
noch vom Lunch her, ein paar Deſſertteller und eine mit großen, 
ſchoͤnen Stachelbeeren gefuͤllte Majolikaſchale. Raſch und ſicher 
ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber waͤhrend die 
Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den 
Rufnamen Effi fuͤhrte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und 
erhob ſich, um unter allerlei kunſtgerechten Beugungen und 
Streckungen den ganzen Kurſus der Heil⸗ und Zimmergymna⸗ 
ſtik durchzumachen. Es war erſichtlich, daß ſie ſich dieſen ab⸗ 
ſichtlich ein wenig ins Komiſche gezogenen Ubungen mit ganz 
beſonderer Liebe hingab, und wenn ſie dann ſo daſtand und, 
langſam die Arme hebend, die Handflaͤchen hoch uͤber dem 
Kopf zuſammenlegte, ſo ſah auch wohl die Mama von ihrer 
Handarbeit auf, aber immer nur fluͤchtig und verſtohlen, 
weil ſie nicht zeigen wollte, wie entzuͤckend ſie ihr eigenes Kind 
finde, zu welcher Regung muͤtterlichen Stolzes ſie vollberechtigt 
war. Effi trug ein blau und weiß geſtreiftes, halb kittelartiges 
Leinwandkleid, dem erſt ein feſt zuſammengezogener, bronze⸗ 
farbener Lederguͤrtel die Taille gab; der Hals war frei, und uͤber 


126 


Schulter und Nacken fiel ein breiter Matroſenkragen. In 
allem, was fie tat, paarte ſich Übermut und Grazie, während 
ihre lachenden braunen Augen eine große, natuͤrliche Klug⸗ 
heit und viel Lebensluſt und Herzensguͤte verrieten. Man 
nannte ſie die „Kleine“, was ſie ſich nur gefallen laſſen 
mußte, weil die ſchoͤne, ſchlanke Mama noch um eine Hand⸗ 
breit hoͤher war.⸗ 

Ce'ben hatte ſich Effi wieder erhoben, um abwechſelnd nach 
links und rechts ihre turneriſchen Drehungen zu machen, als 
die von ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr 
zurief: „Effi, eigentlich haͤtteſt du doch wohl Kunſtreiterin 
werden muͤſſen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. 
Ich glaube beinah, daß du ſo was moͤchteſt.“ 

„Vielleicht, Mama. Aber wenn es ſo waͤre, wer waͤre 
ſchuld? Von wem hab ich es? Doch nur von dir. Oder 
meinſt du, von Papa? Da mußt du nun ſelber lachen. Und 
dann, warum ſteckſt du mich in dieſen Hänger, in dieſen Jungens⸗ 
kittel? Mitunter denk ich, ich komme noch wieder in kurze 
Kleider. Und wenn ich die erſt wieder habe, dann Enir ich auch 
wieder wie ein Backfiſch, und wenn dann die Rathenower 
heruͤber kommen, ſetze ich mich auf Oberſt Goetzes Schoß und 
reite hopp, hopp. Warum auch nicht? Drei Viertel iſt er 
Onkel und nur ein Viertel Courmacher. Du biſt ſchuld. Warum 
kriege ich keine Staatskleider? Warum machſt du keine Dame 
aus mir?“ 

„Moͤchteſt du's?“ 

„Nein.“ Und dabei lief ſie auf die Mama zu und umarmte 
ſie ſtuͤrmiſch und kuͤßte ſie. 

„Nicht ſo wild, Effi, nicht ſo leidenſchaftlich. Ich beun⸗ 
ruhige mich immer, wenn ich dich fo ſehe ...“ Und die Mama 
ſchien ernſtlich willens, in Außerung ihrer Sorgen und Angſte 
fortzufahren. Aber ſie kam nicht weit damit, weil in eben dieſem 
Augenblicke drei junge Maͤdchen aus der kleinen, in der Kirch⸗ 


127 


hofsmauer angebrachten Eiſentuͤr in den Garten eintraten 
und einen Kiesweg entlang auf das Rondell und die Sonnen⸗ 
uhr zuſchritten. Alle drei gruͤßten mit ihren Sonnenſchirmen 
zu Effi heruͤber und eilten dann auf Frau von Brieſt zu, um 
dieſer die Hand zu kuͤſſen. Dieſe tat raſch ein paar Fragen und 
lud dann die Maͤdchen ein, ihnen oder doch wenigſtens Effi 
auf eine halbe Stunde Geſellſchaft zu leiſten. „Ich habe ohnehin 
noch zu tun, und junges Volk iſt am liebſten unter ſich. Gehabt 
euch wohl.“ Und dabei ſtieg ſie die vom Garten in den Seiten⸗ 
fluͤgel fuͤhrende Steintreppe hinauf. 

Und da war nun die Jugend wirklich allein. 

Zwei der jungen Maͤdchen — kleine, rundliche Perſoͤnchen, 
zu deren krauſem, rotblondem Haar ihre Sommerſproſſen 
und ihre gute Laune ganz vorzüglich paßten — waren Töchter 
des auf Hanſa, Skandinavien und Fritz Reuter eingeſchworenen 
Kantors Jahnke, der denn auch, unter Anlehnung an ſeinen 
mecklenburgiſchen Landsmann und Lieblingsdichter und nach 
dem Vorbilde von Mining und Lining, ſeinen eigenen Zwil⸗ 
lingen die Namen Bertha und Hertha gegeben hatte. Die 
dritte junge Dame war Hulda Niemeyer, Paſtor Niemeyers 
einziges Kind; ſie war damenhafter als die beiden anderen, 
dafür aber langweilig und eingebildet, eine lymphatiſche Blon⸗ 
dine, mit etwas vorſpringenden, bloͤden Augen, die trotzdem 
beſtaͤndig nach was zu ſuchen ſchienen, weshalb denn auch 
Klitzing von den Huſaren geſagt hatte: „Sieht ſie nicht aus, 
als erwarte ſie jeden Augenblick den Engel Gabriel?“ Effi 
fand, daß der etwas kritiſche Klitzing nur zu ſehr recht habe, 
vermied es aber trotzdem, einen Unterſchied zwiſchen den drei 
Freundinnen zu machen. Am wenigſten war ihr in dieſem 
Augenblicke danach zu Sinn, und waͤhrend ſie die Arme auf 
den Tiſch ſtemmte, ſagte ſie: „Dieſe langweilige Stickerei. 
Gott ſei Dank, daß ihr da ſeid.“ 

„Aber deine Mama haben wir vertrieben,“ ſagte Hulda. 


128 


„Nicht doch. Wie ſie euch ſchon ſagte, fie wäre doch ges 
gangen; ſie erwartet naͤmlich Beſuch, einen alten Freund aus 
ihren Maͤdchentagen her, von dem ich euch nachher erzaͤhlen 
muß, eine Liebesgeſchichte mit Held und Heldin, und zuletzt 
mit Entſagung. Ihr werdet Augen machen und euch wundern. 
Übrigens habe ich Mamas alten Freund ſchon drüben in 
Schwantikow geſehen; er iſt Landrat, gute Figur und ſehr 
maͤnnlich.“ 

„Das iſt die Hauptſache,“ ſagte Hertha. 

„Freilich iſt das die Hauptſache, ‚Weiber weiblich, Männer 
männlich“ — das iſt, wie ihr wißt, einer von Papas Lieblings; 
ſaͤtzen. Und nun helft mir erſt Ordnung ſchaffen auf dem Tiſch 
hier, ſonſt gibt es wieder eine Strafpredigt.“ 

Im Nu waren die Docken in den Korb gepackt, und als alle 
wieder ſaßen, ſagte Hulda: „Nun aber, Effi, nun iſt es Zeit, 
nun die Liebesgeſchichte mit Entſagung. Oder iſt es nicht ſo 
ſchlimm?“ N 

„Eine Geſchichte mit Entſagung iſt nie ſchlimm. Aber 
ehe Hertha nicht von den Stachelbeeren genommen, eh kann 
ich nicht anfangen — ſie laͤßt ja kein Auge davon. Übrigens 
nimm ſo viel du willſt, wir koͤnnen ja hinterher neue 
pflüden; nur wirf die Schalen weit weg oder noch beſſer, lege 
ſie hier auf die Zeitungsbeilage, wir machen dann eine Tuͤte 
daraus und ſchaffen alles beiſeite. Mama kann es nicht 
leiden, wenn die Schluſen ſo uͤberall umherliegen, und ſagt 
immer, man koͤnne dabei ausgleiten und ein Bein brechen.“ 

„Glaub ich nicht,“ ſagte Hertha, waͤhrend ſie den Stachel⸗ 
beeren fleißig zuſprach. 

„Ich auch nicht,“ beſtaͤtigte Effi. „Denkt doch mal nach, 
ich falle jeden Tag wenigſtens zwei⸗, dreimal, und noch iſt mir 
nichts gebrochen. Was ein richtiges Bein iſt, das bricht nicht 
ſo leicht, meines gewiß nicht und deines auch nicht, Hertha. 
Was meinſt du, Hulda?“ 


IV g 129 


e 


„Man ſoll ſein Schickſal nicht verſuchen; Hochmut kommt 
vor dem Fall.“ 

„Immer Gouvernante; du biſt doch die geborene alte 
Jungfer.“ 

„Und hoffe mich doch noch zu verheiraten. Und vielleicht 
eher als du.“ 

„Meinetwegen. Denkſt du, daß ich darauf warte? Das 
fehlte noch. Übrigens, ich kriege ſchon einen, und vielleicht bald. 
Da iſt mir nicht bange. Neulich erſt hat mir der kleine Venti⸗ 
vegni von druͤben geſagt: „Fraͤulein Effi, was gilt die Wette, 
wir ſind hier noch in dieſem Jahre zu Polterabend und 
Hochzeit.“ 

„Und was ſagteſt du da?“ 

„Wohl moͤglich, ſagt ich, wohl moͤglich; Hulda iſt die aͤlteſte 
und kann ſich jeden Tag verheiraten. Aber er wollte davon 
nichts wiſſen und ſagte: ‚Nein, bei einer anderen jungen Dame, 
die gerade fo bruͤnett iſt, wie Fraͤulein Hulda blond ift.‘ Und 
dabei ſah er mich ganz ernſthaft an... Aber ich komme vom 
Hundertſten aufs Tauſendſte und vergeſſe die Geſchichte.“ 

„Ja, du brichſt immer wieder ab; am Ende willſt du nicht.“ 

„O, ich will ſchon, aber freilich, ich breche immer wieder 
ab, weil es alles ein bißchen ſonderbar iſt, ja, beinah roman⸗ 
tiſe „u * 

„Aber du ſagteſt doch, er ſei Landrat.“ 

„Allerdings, Landrat. Und er heißt Geert von Innſtetten, 
Baron von Innſtetten.“ 
Alle drei lachten. 


„Warum lacht ihr?“ ſagte Effi pikiert. „Was ſoll das 


heißen?“ 

„Ach, Effi, wir wollen dich ja nicht beleidigen, und auch 
den Baron nicht. Innſtetten ſagteſt du? Und Geert? So heißt 
doch hier kein Menſch. Freilich, die adeligen Namen haben oft ſo 
was Komiſches.“ 


130 


N oe 

„Ja, meine Liebe, das haben fie. Dafür find es eben Ade⸗ 
lige. Die duͤrfen ſich das goͤnnen, und je weiter zuruͤck, ich meine 
der Zeit nach, deſto mehr dürfen fie ſich's gönnen. Aber davon 
verſteht ihr nichts, was ihr mir nicht uͤbelnehmen duͤrft. Wir 
bleiben doch gute Freunde. Geert von Innſtetten alſo und 
Baron. Er iſt gerade ſo alt wie Mama, auf den Tag.“ 

„Und wie alt iſt denn eigentlich deine Mama?“ 

„Achtunddreißig.“ 

„Ein ſchoͤnes Alter.“ 

„Iſt es auch, namentlich wenn man noch ſo ausſieht wie 
die Mama. Sie iſt doch eigentlich eine ſchoͤne Frau, findet ihr 
nicht auch? Und wie ſie alles ſo weg hat, immer ſo ſicher und 
dabei ſo fein und nie unpaſſend wie Papa. Wenn ich ein junger 
Leutnant waͤre, ſo wuͤrd ich mich in die Mama verlieben.“ 

„Aber Effi, wie kannſt du nur ſo was ſagen,“ ſagte Hulda. 
„Das iſt ja gegen das vierte Gebot.“ 

„Unſinn. Wie kann das gegen das vierte Gebot ſein? 
Ich glaube, Mama wuͤrde ſich freuen, wenn ſie wuͤßte, daß ich ſo 
was geſagt habe.“ 

„Kann ſchon ſein,“ unterbrach hierauf Hertha. „Aber nun 
endlich die Geſchichte.“ 

„Nun, gib dich zufrieden, ich fange ſchon an... Alſo 
Baron Innſtetten! Als er noch keine Zwanzig war, ſtand er 
druͤben bei den Rathenowern und verkehrte viel auf den 
Guͤtern hier herum, und am liebſten war er in Schwantikow 
drüben bei meinem Großvater Belling. Natürlich war es nicht 
des Großvaters wegen, daß er fo oft drüben war, und wenn 
die Mama davon erzählt, fo kann jeder leicht ſehen, um wen es 
eigentlich war. Und ich glaube, es war auch gegenſeitig.“ 

„Und wie kam es nachher?“ 

„Nun, es kam, wie's kommen mußte, wie's immer kommt. 
Er war ja noch viel zu jung, und als mein Papa ſich einfand, 
der ſchon Ritterſchaftsrat war und Hohen⸗CEremmen hatte, 


9* 131 


da war kein langes Beſinnen mehr, und fie nahm ihn und 
wurde Frau von Brieſt ... Und das andere, was ſonſt noch 
kam, nun, das wißt ihr ... das andere bin ich.“ 

„Ja, das andere biſt du, Effi,“ ſagte Bertha. „Gott ſei 
Dank; wir hätten dich nicht, wenn es anders gekommen wäre. 
Und nun ſage, was tat Innſtetten, was wurde aus ihm? 
Das Leben hat er ſich nicht genommen, ſonſt koͤnntet 12 ihn 
heute nicht erwarten.“ 

„Nein, das Leben hat er ſich nicht genommen. Aber ein 
bißchen war es doch ſo was.“ 

„Hat er einen Verſuch gemacht?“ 

„Auch das nicht. Aber er mochte doch nicht laͤnger hier in 
der Naͤhe bleiben, und das ganze Soldatenleben uͤberhaupt 
muß ihm damals wie verleidet geweſen ſein. Es war ja auch 
Friedenszeit. Kurz und gut, er nahm den Abſchied und fing 
an, Juriſterei zu ſtudieren, wie Papa ſagt, mit einem ‚wahren 


Biereifer'; nur als der ſiebziger Krieg kam, trat er wieder ein, 


aber bei den Perlebergern ſtatt bei ſeinem alten Regiment, und hat 
auch das Kreuz. Natuͤrlich, denn er iſt ſehr ſchneidig. Und gleich 
nach dem Kriege ſaß er wieder bei ſeinen Akten und es heißt, Bis⸗ 
marck halte große Stuͤcke von ihm und auch der Kaiſer, und ſo 
kam es denn, daß er Landrat wurde, Landrat im Keſſiner Kreiſe.“ 

„Was iſt Keſſin? Ich kenne hier kein Keſſin.“ 

„Nein, hier in unſerer Gegend liegt es nicht; es liegt eine 
huͤbſche Strecke von hier fort in Pommern, in Hinterpommern 
ſogar, was aber nichts ſagen will, weil es ein Badeort iſt 
(alles da herum iſt Badeort), und die Ferienreiſe, die Baron 
Innſtetten jetzt macht, iſt eigentlich eine Vetternreiſe oder doch 
etwas Ahnliches. Er will hier alte Freundſchaft und Ver⸗ 
wandtſchaft wiederſehen.“ 

„Hat er denn hier Verwandte?“ 

„Ja und nein, wie man's nehmen will. Innſtettens gibt 
es hier nicht, gibt es, glaub ich, uͤberhaupt nicht mehr. Aber er 


132 


hat hier entfernte Vettern von der Mutter Seite her, und vor 
allem hat er wohl Schwantikow und das Bellingſche Haus 
wiederſehen wollen, an das ihn ſo viel Erinnerungen knuͤpfen. 
Da war er denn vorgeſtern druͤben, und heute will er hier in 
Hohen⸗Cremmen ſein.“ 

„Und was ſagt dein Vater dazu?“ 

„Gar nichts. Der iſt nicht ſo. Und dann kennt er ja doch die 
Mama. Er neckt ſie bloß.“ 

In dieſem Augenblick ſchlug es Mittag, und ehe es noch 
ausgeſchlagen, erſchien Wilke, das alte Brieſtſche Haus⸗ und 
Familienfaktotum, um an Fraͤulein Effi zu beſtellen: „Die 
gnaͤdige Frau ließe bitten, daß das gnaͤdige Fräulein zu rechter 
Zeit auch Toilette mache; gleich nach eins wuͤrde der Herr 
Baron wohl vorfahren.“ Und waͤhrend Wilke dies noch ver⸗ 
meldete, begann er auch ſchon auf dem Arbeitstiſch der Damen 
abzuraͤumen und griff dabei zunaͤchſt nach dem Zeitungsblatt, 
auf dem die Stachelbeerſchalen lagen. 

„Nein, Wilke, nicht ſo; das mit den Schluſen, das iſt unſere 
Sache ... Hertha, du mußt nun die Tate machen und einen 
Stein hinein tun, daß alles beſſer verfinfen kann. Und dann 
wollen wir in einem langen Trauerzug aufbrechen und die 
Tuͤte auf offener See begraben.“ 

Wilke ſchmunzelte. „Is doch ein Daus, unſer Fraͤulein,“ 
ſo etwa gingen ſeine Gedanken. Effi aber, waͤhrend ſie die Tuͤte 
mitten auf die raſch zuſammengeraffte Tiſchdecke legte, ſagte: 
„Nun faſſen wir alle vier an, jeder an einem Zipfel und ſingen 
was Trauriges.“ 

„Ja, das ſagſt du wohl, Effi. Aber was ſollen wir denn 
ſingen?“ 

„Irgend was; es iſt ganz gleich, es muß nur einen Reim 
auf ‚u‘ haben; ‚u‘ iſt immer Trauervokal. Alſo fingen wir: 


Flut, Flut 
Mach alles wieder gut ...“ 


133 


Und während Effi dieſe Litanei feierlich anſtimmte, festen ſich 
alle vier auf den Steg hin in Bewegung, ſtiegen in das dort 
angekettelte Boot und ließen von dieſem aus die mit einem 
Kieſel beſchwerte Tuͤte langſam in den Teich niedergleiten. 

„Hertha, nun iſt deine Schuld verſenkt,“ ſagte Effi, „wobei 
mir uͤbrigens einfaͤllt, ſo vom Boot aus ſollen fruͤher auch 
arme ungluͤckliche Frauen verſenkt worden ſein, natuͤrlich wegen 
Untreue.“ a 

„Aber doch nicht hier.“ 

„Nein, nicht hier,“ lachte Effi, „hier kommt ſo was nicht vor. 
Aber in Konſtantinopel, und du mußt ja, wie mir eben einfällt, 
auch davon wiſſen, ſo gut wie ich, du biſt ja mit dabei geweſen, 
als uns Kandidat Holzapfel in der Geographieſtunde davon 
erzählte,” 

„Ja,“ ſagte Hulda, „der erzählte immer fo was. Aber fo 
was vergißt man doch wieder.“ 

„Ich nicht. Ich behalte ſo was.“ 


Zweites Kapitel 


Sie ſprachen noch eine Weile ſo weiter, wobei ſie ſich ihrer 
gemeinſchaftlichen Schulſtunden und einer ganzen Reihe Holz⸗ 
apfelſcher Unpaſſendheiten mit Empoͤrung und Behagen er⸗ 
innerten. Ja, man konnte ſich nicht genug tun damit, bis 
Hulda mit einem Male fagte: „Nun aber iſt es höchfte Zeit, 
Effi; du ſiehſt ja aus, ja, wie ſag ich nur, du ſiehſt ja aus, 
wie wenn du vom Kirſchenpfluͤcken kaͤmſt, alles zerknittert und 
zerknautſcht; das Leinenzeug macht immer ſo viele Falten, 
und der große, weiße Klappkragen, ... ja, wahrhaftig, jetzt 
hab ich es, du ſiehſt aus wie ein Schiffsjunge.“ 

„Midſhipman, wenn ich bitten darf. Etwas muß ich doch 
von meinem Adel haben. Übrigens Midſhipman oder Schiffe; 


134 


ä 


junge, Papa hat mir erſt neulich wieder einen Maſtbaum ver⸗ 

ſprochen, hier dicht neben der Schaukel, mit Ragen und einer 
Strickleiter. Wahrhaftig, das ſollte mir gefallen, und den 
Wimpel oben ſelbſt anzumachen, das ließ ich mir nicht nehmen. 
Und du, Hulda, du kämſt dann von der anderen Seite her 
herauf, und oben in der Luft wollten wir Hurra rufen und uns 
einen Kuß geben. Alle Wetter, das ſollte ſchmecken.“ 

„Alle Wetter, ... wie das nun wieder klingt... Du 
ſprichſt wirklich wie ein Midſhipman. Ich werde mich aber 
huͤten, dir nachzuklettern, ich bin nicht ſo waghalſig. Jahnke 
hat ganz recht, wenn er immer ſagt, du haͤtteſt zuviel von dem 
Bellingſchen in dir, von deiner Mama her. Ich bin bloß ein 
Paſtorskind.“ 

„Ach, geh mir. Stille Waſſer ſind tief. Weißt du noch, 
wie du damals, als Vetter Brieſt als Kadett hier war, aber 
doch ſchon groß genug, wie du damals auf dem Scheunendach 
entlang rutſchteſt. Und warum? Nun, ich will es nicht ver⸗ 
raten. Aber kommt, wir wollen uns ſchaukeln, auf jeder Seite 
zwei; reißen wird es ja wohl nicht, oder wenn ihr nicht Luſt 
habt, denn ihr macht wieder lange Geſichter, dann wollen wir 
Anſchlag ſpielen. Eine Viertelſtunde hab ich noch. Ich mag 
noch nicht hineingehen, und alles bloß, um einem Landrat 

guten Tag zu ſagen, noch dazu einem Landrat aus Hinter⸗ 

pommern. Altlich iſt er auch, er koͤnnte ja beinah mein Vater 
ſein, und wenn er wirklich in einer Seeſtadt wohnt, Keſſin ſoll 
ja ſo was ſein, nun, da muß ich ihm in dieſem Matroſen⸗ 
koſtuͤm eigentlich am beſten gefallen und muß ihm beinah 
wie eine große Aufmerkſamkeit vorkommen. Fuͤrſten, wenn ſie 
wen empfangen, ſoviel weiß ich von meinem Papa her, legen 
auch immer die Uniform aus der Gegend des anderen an. 
Alſo nur nicht aͤngſtlich, ... raſch, raſch, 1 fliege aus, und 
neben der Bank hier iſt frei.“ 

Hulda wollte noch ein paar Einſchraͤnkungen machen, aber 


135 


Effi war ſchon den naͤchſten Kiesweg hinauf, links hin, rechts 
hin, bis ſie mit einem Male verſchwunden war. „Effi, das 
gilt nicht; wo biſt du? Wir ſpielen nicht Verſteck, wir ſpielen 
Anſchlag,“ und unter dieſen und aͤhnlichen Vorwuͤrfen eilten 
die Freundinnen ihr nach, weit hinter das Rondell und die 
beiden ſeitwaͤrts ſtehenden Platanen hinaus, bis die Ver⸗ 
ſchwundene mit einem Male aus ihrem Verſtecke hervorbrach 
und muͤhelos, weil ſie ſchon im Ruͤcken ihrer Verfolger war, 
mit „eins, zwei, drei“ den Freiplatz neben der Bank erreichte. 

„Wo warſt du?“ 

„Hinter den Rhabarberſtauden; die haben fo große Blätter, 
noch größer als ein Feigenblatt ...“ 

„Pfui 

„Nein, pfui fuͤr euch, weil ihr verſpielt habt. Hulda, mit 
ihren großen Augen, ſah wieder nichts, immer ungeſchickt.“ 
Und dabei flog Effi von neuem uͤber das Rondell hin, auf den 
Teich zu, vielleicht weil ſie vorhatte, ſich erſt hinter einer dort 
aufwachſenden dichten Haſelnußhecke zu verſtecken, um dann, 
von dieſer aus, mit einem weiten Umweg um Kirchhof und 
Fronthaus, wieder bis an den Seitenfluͤgel und ſeinen Frei⸗ 
platz zu kommen. Alles war gut berechnet; aber freilich, ehe 
ſie noch halb um den Teich herum war, hoͤrte ſie ſchon vom 
Hauſe her ihren Namen rufen und ſah, waͤhrend ſie ſich um⸗ 
wandte, die Mama, die, von der Steintreppe her, mit ihrem 
Taſchentuche winkte. Noch einen Augenblick, und Effi ſtand 
vor ihr. 

„Nun biſt du doch noch in deinem Kittel, und der Beſuch 
iſt da. Nie haͤltſt du Zeit.“ 

„Ich halte ſchon Zeit, aber der Beſuch hat nicht Zeit ge⸗ 
halten. Es iſt noch nicht eins; noch lange nicht,“ und ſich nach 
den Zwillingen hin umwendend (Hulda war noch weiter zuruͤck), 
rief ſie dieſen zu: „Spielt nur weiter; ich bin gleich wieder da.“ 


136 


Schon im naͤchſten Augenblick trat Effi mit der Mama in 
den großen Gartenſaal, der faſt den ganzen Raum des Seiten⸗ 
fluͤgels fuͤllte. 

„Mama, du darfſt mich nicht ſchelten. Es iſt wirklich erſt 
halb. Warum kommt er ſo fruͤh? Kavaliere kommen nicht 
zu ſpaͤt, aber noch weniger zu fruͤh.“ 

Frau von Brieſt war in ſichtlicher Verlegenheit; Effi aber 
ſchmiegte ſich liebkoſend an ſie und ſagte: „Verzeih, ich will 
mich nun eilen; du weißt, ich kann auch raſch ſein, und in fuͤnf 
Minuten iſt Aſchenpuddel in eine Prinzeſſin verwandelt. So 
lange kann er warten oder mit dem Papa plaudern.“ 

Und der Mama zunickend, wollte ſie leichten Fußes eine 
kleine eiſerne Stiege hinauf, die aus dem Saal in den Ober⸗ 
ſtock hinauffuͤhrte. Frau von Brieſt aber, die unter Umſtaͤnden 
auch unkonventionell ſein konnte, hielt ploͤtzlich die ſchon fort⸗ 
eilende Effi zuruͤck, warf einen Blick auf das jugendlich reizende 
Geſchoͤpf, das, noch erhitzt von der Aufregung des Spiels, 
wie ein Bild friſcheſten Lebens vor ihr ſtand, und ſagte beinahe 
vertraulich: „Es iſt am Ende das beſte, du bleibſt wie du biſt. 
Ja, bleibe ſo. Du ſiehſt gerade ſehr gut aus. Und wenn es 
auch nicht waͤre, du ſiehſt ſo unvorbereitet aus, ſo gar nicht 
zurechtgemacht, und darauf kommt es in dieſem Augenblicke 
an. Ich muß dir nämlich ſagen, meine ſuͤße Effi, ...“ und fie 
nahm Re Kindes beide Hände, ... „ich muß dir Bi 
fagen .. 

„Aber Mama, was haſt du nur? Mir wird ja ganz angſt 
und bange.“ 

„ . . Ich muß die nämlich ſagen, Effi, daß Baron Inn⸗ 
ſtetten eben um deine Hand angehalten hat.“ 

„Um meine Hand angehalten? Und im Ernſt?“ 

„Es iſt keine Sache, um einen Scherz daraus zu machen. 
Du haſt ihn vorgeſtern geſehen, und ich glaube, er hat dir auch 
gut gefallen. Er iſt freilich älter als du, was alles in allem ein 


137 


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Gluͤck iſt, dazu ein Mann von Charakter, von Stellung und 
guten Sitten, und wenn du nicht nein ſagſt, was ich von 
meiner klugen Effi kaum denken kann, ſo ſtehſt du mit zwanzig 
Jahren da, wo andere mit vierzig ſtehen. Du wirſt deine Mama 
weit überholen.” 

Effi ſchwieg und ſuchte nach einer Antwort. Aber ehe ſie 
dieſe finden konnte, hörte ſie ſchon des Vaters Stimme von dem 
angrenzenden, noch im Fronthauſe gelegenen Hinterzimmer 
her, und gleich danach uͤberſchritt Ritterſchaftsrat von Brieſt, 
ein wohlkonſervierter Fuͤnfziger von ausgeſprochener Bon⸗ 
homie, die Gartenſalonſchwelle, — mit ihm Baron Inn⸗ 
ſtetten, ſchlank, bruͤnett und von militaͤriſcher Haltung. 

Effi, als ſie ſeiner anſichtig wurde, kam in ein nervoͤſes 
Zittern; aber nicht auf lange, denn im ſelben Augenblicke 
faſt, wo ſich Innſtetten unter freundlicher Verneigung ihr 
naͤherte, wurden an dem mittleren der weit offen ſtehenden 
und von wildem Wein halb uͤberwachſenen Fenſter die rot⸗ 
blonden Koͤpfe der Zwillinge ſichtbar, und Hertha, die Aus⸗ 
gelaſſenſte, rief in den Saal hinein: „Effi, komm.“ 

Dann duckte ſie ſich, und beide Schweſtern ſprangen von 
der Banklehne, darauf ſie geſtanden, wieder in den Garten 
hinab, und man hoͤrte nur noch ihr leiſes Kichern und Lachen. 


Orittes Kapitel 


Noch an demſelben Tage hatte ſich Baron Innſtetten 
mit Effi Brieſt verlobt. Der joviale Brautvater, der ſich nicht 
leicht in ſeiner Feierlichkeitsrolle zurechtfand, hatte bei dem 
Verlobungsmahl, das folgte, das junge Paar leben laſſen, 
was auf Frau von Brieſt, die dabei der nun um kaum achtzehn 
Jahre zuruͤckliegenden Zeit gedenken mochte, nicht ohne herz⸗ 
beweglichen Eindruck geblieben war. Aber nicht auf lange; 


138 


fie hatte es nicht fein fönnen, nun war es ſtatt ihrer die Tochter 
— alles in allem ebenſogut oder vielleicht noch beſſer. Denn 
mit Brieſt ließ ſich leben, trotzdem er ein wenig proſaiſch war 
und dann und wann einen kleinen frivolen Zug hatte. Gegen 
Ende der Tafel, das Eis wurde ſchon herumgereicht, nahm der 
alte Ritterſchaftsrat noch einmal das Wort, um in einer zweiten 
Anſprache das allgemeine Familien⸗Du zu proponieren. Er 
umarmte dabei Innſtetten und gab ihm einen Kuß auf die 
linke Backe. Hiermit war aber die Sache fuͤr ihn noch nicht 
abgeſchloſſen, vielmehr fuhr er fort, außer dem „Du“ zugleich 
intimere Namen und Titel fuͤr den Hausverkehr zu empfehlen, 
eine Art Gemuͤtlichkeitsrangliſte aufzuſtellen, natuͤrlich unter 
Wahrung berechtigter, weil wohlerworbener Eigentuͤmlich⸗ 
keiten. Fuͤr ſeine Frau, ſo hieß es, wuͤrde der Fortbeſtand von 
„Mama“ (denn es gaͤbe auch junge Mamas) wohl das beſte 
ſein, waͤhrend er fuͤr ſeine Perſon, unter Verzicht auf den Ehren⸗ 
titel „Papa“, das einfache Brieſt entſchieden bevorzugen muͤſſe, 
ſchon weil es ſo huͤbſch kurz ſei. Und was nun die Kinder an⸗ 
gehe — bei welchem Wort er ſich, Aug in Aug mit dem nur 
etwa um ein Dutzend Jahre juͤngeren Innſtetten, einen Ruck 
geben mußte —, nun, fo ſei Effi eben Effi und Geert Geert. 
Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem 
ſchlank aufgeſchoſſenen Stamm, und Effi ſei dann alſo der Efeu, 
der ſich darumzuranken habe. Das Brautpaar ſah ſich bei 
dieſen Worten etwas verlegen an, Effi zugleich mit einem Aus⸗ 
druck kindlicher Heiterkeit, Frau von Brieſt aber ſagte: „Brieſt, 
ſprich was du willſt und formuliere deine Toaſte nach Gefallen, 
nur poetiſche Bilder, wenn ich dich bitten darf, laß beiſeite, 
das liegt jenſeits deiner Sphaͤre.“ Zurechtweiſende Worte, 
die bei Brieſt mehr Zuſtimmung als Ablehnung gefunden 
hatten. „Es iſt moͤglich, daß du recht haſt, Luiſe.“ 

Gleich nach Aufhebung der Tafel beurlaubte ſich Effi, um 
einen Beſuch druͤben bei Paſtors zu machen. Unterwegs ſagte 


139 


fie ſich: „Ich glaube, Hulda wird fich aͤrgern. Nun bin ich ihr | 


doch zuvorgekommen — fie war immer zu eitel und eingebildet.“ 
Aber Effi traf es mit ihrer Erwartung nicht ganz; Hulda, 
durchaus Haltung bewahrend, benahm ſich ſehr gut und uͤber⸗ 
ließ die Bezeugung von Unmut und Arger ihrer Mutter, der 
Frau Paſtorin, die denn auch ſehr ſonderbare Bemerkungen 
machte. „Ja, ja, fo geht es. Natürlich. Wenn's die Mutter 
nicht ſein konnte, muß es die Tochter ſein. Das kennt man. 
Alte Familien halten immer zuſammen, und wo was is, 
kommt was dazu.“ Der alte Niemeyer kam in arge Verlegen⸗ 
heit über dieſe fortgeſetzten ſpitzen Redensarten ohne Bildung 
und Anſtand und beklagte mal wieder, eine Wirtſchafterin ge⸗ 
heiratet zu haben. 

Von Paſtors ging Effi natuͤrlich auch zu Kantor Jahnkes; 
die Zwillinge hatten ſchon nach ihr ausgeſchaut und empfingen 
ſie im Vorgarten. 

„Nun, Effi,“ ſagte Hertha, waͤhrend alle drei zwiſchen den 
rechts und links bluͤhenden Studentenblumen auf⸗ und ab⸗ 
ſchritten, „nun, Effi, wie iſt dir eigentlich.“ 

„Wie mir iſt? O, ganz gut. Wir nennen uns auch ſchon 
du und bei Vornamen. Er heißt naͤmlich Geert, was ich euch, 

wie mir einfaͤllt, auch ſchon geſagt habe.“ 
V Ja, das haft du. Mir iſt aber doch fo bange dabei. Iſt es 
denn auch der Richtige?“ 

„Gewiß iſt es der Richtige. Das verſtehſt du nicht, Hertha. 
Jeder iſt der Richtige. Natürlich muß er von Adel fein und eine 
Stellung haben und gut ausſehen.“ 

„Gott, Effi, wie du nur ſprichſt. Sonſt ſprachſt du doch 
ganz anders.“ 

„Ja, ſonſt.“ 

„Und biſt du auch ſchon ganz gluͤcklich?“ 

„Wenn man zwei Stunden verlobt iſt, iſt man immer 
ganz gluͤcklich. Wenigſtens denk ich es mir ſo.“ 


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„Und iſt es dir denn gar nicht, ja, wie ſag ich nur, ein bißchen 
genant?“ 

„Ja, ein bißchen genant iſt es mir, aber doch nicht ſehr. 
Und ich denke, ich werde daruͤber weg kommen.“ 

Nach dieſem, im Pfarr⸗ und Kantorhauſe gemachten Be⸗ 
ſuche, der keine halbe Stunde gedauert hatte, war Effi wieder 
nach druͤben zuruͤckgekehrt, wo man auf der Gartenveranda 
eben den Kaffee nehmen wollte. Schwiegervater und Schwieger⸗ 
fohn gingen auf dem Kies wege zwiſchen den zwei Platanen auf 
und ab. Brieſt ſprach von dem Schwierigen einer landraͤtlichen 
Stellung; ſie ſei ihm verſchiedentlich angetragen worden, 
aber er habe jedesmal gedankt. „So nach meinem eigenen 
Willen ſchalten und walten zu koͤnnen iſt mir immer das 
Liebſte geweſen, jedenfalls lieber — pardon, Innſtetten — 
als fo die Blicke beftändig nach oben richten zu muͤſſen. Man hat 
dann bloß immer Sinn und Merk fuͤr hohe und hoͤchſte Vor⸗ 
geſetzte. Das iſt nichts für mich. Hier leb ich fo frei weg und 
freue mich uͤber jedes gruͤne Blatt und uͤber den wilden Wein, 
der da druͤben in die Fenſter waͤchſt.“ 

Er ſprach noch mehr dergleichen, allerhand Antibeamtliches, 
und entſchuldigte ſich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen, ver⸗ 
ſchiedentlich wiederkehrenden „pardon, Innſtetten“. Dieſer nickte 
mechaniſch zuſtimmend, war aber eigentlich wenig bei der Sache, 
ſah vielmehr, wie gebannt, immer aufs neue nach dem druͤben am 
Fenſter rankenden wilden Wein hinuͤber, von dem Brieſt eben 
geſprochen, und waͤhrend er dem nachhing, war es ihm, als 
ſaͤh er wieder die rotblonden Maͤdchenkoͤpfe zwiſchen den Wein⸗ 
ranken und hoͤre dabei den uͤbermuͤtigen Zuruf: „Effi, komm.“ 
Er glaubte nicht an Zeichen und Ahnliches, im Gegenteil, 
wies alles Aberglaͤubiſche weit zuruͤck. Aber er konnte trotzdem 
von den zwei Worten nicht los, und waͤhrend Brieſt immer 
weiter perorierte, war es ihm beſtaͤndig, als waͤre der kleine 
Hergang doch mehr als ein bloßer Zufall geweſen. 


141 


Innſtetten, der nur einen kurzen Urlaub genommen, war 
ſchon am folgenden Tage wieder abgereiſt, nachdem er ver; 
ſprochen, jeden Tag ſchreiben zu wollen. „Ja, das mußt du,“ 
hatte Effi geſagt, ein Wort, das ihr von Herzen kam, da ſie ſeit 
Jahren nichts Schoͤneres kannte als beiſpielsweiſe den Emp⸗ 
fang vieler Geburtstagsbriefe. Jeder mußte ihr zu dieſem 
Tage ſchreiben. In den Brief eingeſtreute Wendungen, etwa 
wie „Gertrud und Klara ſenden dir mit mir ihre herzlichſten 
Gluͤckwuͤnſche“, waren verpoͤnt; Gertrud und Klara, wenn ſie 
Freundinnen ſein wollten, hatten dafuͤr zu ſorgen, daß ein 
Brief mit ſelbſtaͤndiger Marke dalaͤge, womoͤglich — denn ihr 
Geburtstag fiel noch in die Reiſezeit — mit einer fremden, 
aus der Schweiz oder Karlsbad. 

Innſtetten, wie verſprochen, ſchrieb wirklich jeden Tag; 
was aber den Empfang ſeiner Briefe ganz beſonders angenehm 
machte, war der Umſtand, daß er allwoͤchentlich nur einmal 
einen ganz kleinen Antwortbrief erwartete. Den erhielt er denn 
auch, voll reizend nichtigen und ihn jedesmal entzuͤckenden In⸗ 
halts. Was es von ernſteren Dingen zu beſprechen gab, das 
verhandelte Frau von Brieſt mit ihrem Schwiegerſohne: Feſt⸗ 
ſetzungen wegen der Hochzeit, Ausſtattungs⸗ und Wirtſchafts⸗ 
einrichtungsfragen. Innſtetten, ſchon an die drei Jahre im 
Amt, war in ſeinem Keſſiner Hauſe nicht glaͤnzend, aber doch 
ſehr ſtandesgemaͤß eingerichtet, und es empfahl ſich, in der 
Korreſpondenz mit ihm ein Bild von allem, was da war, zu 
gewinnen, um nichts Unnuͤtzes anzuſchaffen. Schließlich, als 
Frau von Brieſt uͤber all dieſe Dinge genugſam unterrichtet 
war, wurde ſeitens Mutter und Tochter eine Reiſe nach Ber⸗ 
lin beſchloſſen, um, wie Brieſt ſich ausdruͤckte, den „Trouſſeau“ 
fuͤr Prinzeſſin Effi zuſammenzukaufen. Effi freute ſich ſehr x 
auf den Aufenthalt in Berlin, um fo mehr, als der Vater darein N 
gewilligt hatte, im Hotel du Nord Wohnung zu nehmen. „Was 2 
es koſte, könne ja von der Ausſtattung abgezogen werden; a 


142 


Innſtetten habe ohnehin alles.“ Effi — ganz im Gegenſatze zu 
der ſolche „Mesquinerien“ ein fuͤr allemal ſich verbittenden 
Mama — hatte dem Vater, ohne jede Sorge darum, ob er's 
ſcherz⸗ oder ernſthaft gemeint hatte, freudig zugeſtimmt und 
beſchaͤftigte ſich in ihren Gedanken viel, viel mehr mit dem Ein⸗ 
druck, den ſie beide, Mutter und Tochter, bei ihrem Erſcheinen 
an der Table d' hote machen würden, als mit Spinn und Mencke, 
Goſchenhofer und aͤhnlichen Firmen, die vorlaͤufig notiert 
worden waren. Und dieſen ihren heiteren Phantaſien ent⸗ 
ſprach denn auch ihre Haltung, als die große Berliner Woche 
nun wirklich da war. Vetter Brieſt vom Alexanderregiment, 
ein ungemein ausgelaſſener, junger Leutnant, der die „Fliegen⸗ 
den Blaͤtter“ hielt und uͤber die beſten Witze Buch fuͤhrte, ſtellte 
ſich den Damen fuͤr jede dienſtfreie Stunde zur Verfuͤgung, 
und ſo ſaßen ſie denn mit ihm bei Kranzler am Eckfenſter oder 
zu ſtatthafter Zeit auch wohl im Cafe Bauer und fuhren nach⸗ 
mittags in den Zoologiſchen Garten, um da die Giraffen zu 
ſehen, von denen Vetter Brieſt, der uͤbrigens Dagobert hieß, 
mit Vorliebe behauptete: „Sie ſaͤhen aus wie adlige alte Jung⸗ 
fern.“ Jeder Tag verlief programmaͤßig, und am dritten oder 
vierten Tage gingen ſie, wie vorgeſchrieben, in die National⸗ 
galerie, weil Vetter Dagobert ſeiner Couſine die „Inſel der Se⸗ 
ligen“ zeigen wollte. „Fraͤulein Couſine ſtehe zwar auf dem 
Punkte, ſich zu verheiraten, es ſei aber doch vielleicht gut, die 
„Inſel der Seligen ſchon vorher kennen gelernt zu haben.“ 
Die Tante gab ihm einen Schlag mit dem Faͤcher, begleitete 
dieſen Schlag aber mit einem ſo gnaͤdigen Blick, daß er keine 
Veranlaſſung hatte, den Ton zu aͤndern. Es waren himm⸗ 
liſche Tage fuͤr alle drei, nicht zum wenigſten fuͤr den Vetter, 
der ſo wundervoll zu chaperonieren und kleine Differenzen im⸗ 
mer raſch auszugleichen verſtand. An ſolchen Meinungs⸗ 
verſchiedenheiten zwiſchen Mutter und Tochter war nun, 
wie das ſo geht, all die Zeit uͤber kein Mangel, aber ſie traten 


143 


gluͤcklicherweiſe nie bei den zu machenden Einfäufen hervor. 
Ob man von einer Sache ſechs oder drei Dutzend erſtand, Effi 
war mit allem gleichmaͤßig einverſtanden, und wenn dann auf 
dem Heimwege von dem Preiſe der eben eingekauften Gegen⸗ 
ſtaͤnde geſprochen wurde, fo verwechſelte fie regelmäßig die Zahlen. 
Frau von Brieſt, ſonſt ſo kritiſch, auch ihrem eigenen ge⸗ 
liebten Kinde gegenuͤber, nahm dies anſcheinend mangelnde 
Intereſſe nicht nur von der leichten Seite, ſondern erkannte 
ſogar einen Vorzug darin. „Alle dieſe Dinge,“ ſo ſagte ſie ſich, 
„bedeuten Effi nicht viel. Effi iſt anſpruchslos; fie lebt in ihren 
Vorſtellungen und Traͤumen, und wenn die Prinzeſſin Friedrich 
Karl voruͤberfaͤhrt und ſie von ihrem Wagen aus freundlich gruͤßt, 
ſo gilt ihr das mehr als eine ganze Truhe voll Weißzeug.“ 

Das alles war auch richtig, aber doch nur halb. An dem 
Beſitze mehr oder weniger alltaͤglicher Dinge lag Effi nicht viel, 
aber wenn fie mit der Mama die Linden hinauf⸗ und hinunter; 
ging und nach Muſterung der ſchoͤnſten Schaufenſter in den 
Demuthſchen Laden eintrat, um fuͤr die gleich nach der Hochzeit 
geplante italieniſche Reiſe allerlei Einkäufe zu machen, fo zeigte 
ſich ihr wahrer Charakter. Nur das Eleganteſte gefiel ihr, 
und wenn ſie das Beſte nicht haben konnte, ſo verzichtete ſie 
auf das Zweitbeſte, weil ihr dies Zweite nun nichts mehr 
bedeutete. Ja, ſie konnte verzichten, darin hatte die Mama 
recht, und in dieſem Verzichtenkoͤnnen lag etwas von Anſpruchs⸗ 
loſigkeit; wenn es aber ausnahmsweiſe mal wirklich etwas zu 


beſitzen galt, ſo mußte dies immer was ganz Apartes ſein. 


Und darin war ſie anſpruchsvoll. 


Viertes Kapitel 


Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre 


Ruͤckreiſe nach Hohen⸗Cremmen antraten. Es waren glüdliche a a 


144 


Tage geweſen, vor allem auch darin, daß man nicht unter un, 
bequemer und beinahe unſtandesgemaͤßer Verwandtſchaft gelitten 
hatte. „Fuͤr Tante Thereſe,“ ſo hatte Effi gleich nach der An⸗ 
kunft geſagt, „muͤſſen wir diesmal inkognito bleiben. Es geht 
nicht, daß ſie hier ins Hotel kommt. Entweder Hotel du Nord 
oder Tante Thereſe; beides zuſammen paßt nicht.“ Die Mama 
hatte ſich ſchließlich einverſtanden damit erklaͤrt, ja, dem Lieb⸗ 
linge zur Beſiegelung des Einverſtaͤndniſſes einen Kuß auf die 
Stirn gegeben. 

Mit Vetter Dagobert war das natuͤrlich etwas ganz an⸗ 
deres geweſen, der hatte nicht bloß den Gardepli, der hatte 
vor allem auch mit Hilfe jener eigentuͤmlich guten Laune, wie 
ſie bei den Alexanderoffizieren beinahe traditionell geworden, 
ſowohl Mutter wie Tochter von Anfang an anzuregen und 
aufzuheitern gewußt, und dieſe gute Stimmung dauerte bis 
zuletzt. „Dagobert,“ ſo hieß es noch beim Abſchied, „du kommſt 
alſo zu meinem Polterabend, und natuͤrlich mit Cortege. Denn 
nach den Auffuͤhrungen (aber kommt mir nicht mit Dienſt⸗ 
mann oder Mauſefallenhaͤndler) iſt Ball. Und du mußt be⸗ 
denken, mein erſter großer Ball iſt vielleicht auch mein letzter. 
Unter ſechs Kameraden — natürlich beſte Taͤnzer — wird 
gar nicht angenommen. Und mit dem Fruͤhzug koͤnnt ihr wie⸗ 
der zuruͤck.“ Der Vetter verſprach alles, und fo trennte man ſich. 

Gegen Mittag trafen beide Damen an ihrer havellaͤndiſchen 
Bahnſtation ein, mitten im Luch, und fuhren in einer halben 
Stunde nach Hohen⸗Cremmen hinuͤber. Brieſt war ſehr froh, 
Frau und Tochter wieder zu Hauſe zu haben, und ſtellte Fragen 
uͤber Fragen, deren Beantwortung er meiſt nicht abwartete. 
Statt deſſen erging er ſich in Mitteilung deſſen, was er in⸗ 
zwiſchen erlebt. „Ihr habt mir da vorhin von der National⸗ 
galerie geſprochen und von der ‚„Inſel der Seligen — nun, wir 
haben hier, waͤhrend ihr fort wart, auch ſo was gehabt: unſer 
Inſpektor Pink und die Gaͤrtnersfrau. Natuͤrlich habe ich Pink 


IV 10 145 


entlaffen muͤſſen, übrigens ungern. Es iſt ſehr fatal, daß | 
ſolche Geſchichten faſt immer in die Erntezeit fallen. Und Pink | 
war fonft ein ungewöhnlich tuͤchtiger Mann, hier leider am un⸗ | 
rechten Fleck. Aber laſſen wir das; Wilke wird ſchon unruhig.“ 

Bei Tiſche hörte Brieſt beſſer zu; das gute Einvernehmen 
mit dem Vetter, von dem ihm viel erzaͤhlt wurde, hatte ſeinen 
Beifall, weniger das Verhalten gegen Tante Thereſe. Man 
ſah aber deutlich, daß er inmitten ſeiner Mißbilligung ſich 
eigentlich daruͤber freute; denn ein kleiner Schabernack ent⸗ 
ſprach ganz ſeinem Geſchmack, und Tante Thereſe war wirklich 
eine laͤcherliche Figur. Er hob ſein Glas und ſtieß mit Frau 
und Tochter an. Auch als nach Tiſch einzelne der huͤbſcheſten 
Einkaͤufe vor ihm ausgepackt und ſeiner Beurteilung unter⸗ 
breitet wurden, verriet er viel Intereſſe, das ſelbſt noch an⸗ 
hielt oder wenigſtens nicht ganz hinſtarb, als er die Rechnung 
uͤberflog. „Etwas teuer, oder ſagen wir lieber ſehr teuer; in⸗ 
deſſen es tut nichts. Es hat alles ſoviel Chic, ich moͤchte ſagen 
ſoviel Animierendes, daß ich deutlich fühle, wenn du mir ſolchen 
Koffer und ſolche Reiſedecke zu Weihnachten ſchenkſt, ſo ſind wir 
zu Oſtern auch in Rom und machen nach achtzehn Jahren un⸗ 
ſere Hochzeitsreiſe. Was meinſt du, Luiſe? Wollen wir nach⸗ 
ererzieren? Spät kommt ihr, doch ihr kommt.“ 

Frau von Brieſt machte eine Handbewegung, wie wenn 
ſie ſagen wollte: „Unverbeſſerlich“, und uͤberließ ihn im uͤbrigen 
ſeiner eigenen Beſchaͤmung, die aber nicht groß war. 


Ende Auguſt war da, der Hochzeitstag (3. Oktober) ruͤckte 
naͤher, und ſowohl im Herrenhauſe wie in der Pfarre und 
Schule war man unausgeſetzt bei den Vorbereitungen zum 
Polterabend. Jahnke, getreu feiner Fritz Reuter⸗Paſſion, 
hatte ſich's als etwas beſonders „Sinniges“ ausgedacht, 
Bertha und Hertha als Lining und Mining auftreten zu laſſen, 
natuͤrlich plattdeutſch, waͤhrend Hulda das Kaͤthchen von Heil⸗ 


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bronn in der Holunderbaumfjene darſtellen follte, Leutnant 
Engelbrecht von den Huſaren als Wetter vom Strahl. Niemeyer, 
der ſich den Vater der Idee nennen durfte, hatte keinen Augen⸗ 
blick geſaͤumt, auch die verſchaͤmte Nutzanwendung auf Inn⸗ 
ſtetten und Effi hinzuzudichten. Er ſelbſt war mit ſeiner Arbeit 
zufrieden und hoͤrte, gleich nach der Leſeprobe, von allen Be⸗ 
teiligten viel Freundliches daruͤber, freilich mit Ausnahme 
ſeines Patronatsherrn und alten Freundes Brieſt, der, als er 
die Miſchung von Kleiſt und Niemeyer mit angehoͤrt hatte, 
lebhaft proteſtierte, wenn auch keineswegs aus literariſchen 
Gruͤnden. „Hoher Herr und immer wieder Hoher Herr — was 
ſoll das? Das leitet in die Irre, das verſchiebt alles. Innſtetten, 
unbeſtritten, iſt ein famoſes Menſchenexemplar, Mann von 
Charakter und Schneid, aber die Brieſts — verzeih den Bero⸗ 
linismus, Luiſe —, die Brieſts ſind ſchließlich auch nicht von 
ſchlechten Eltern. Wir ſind doch nun mal eine hiſtoriſche Fa⸗ 
milie, laß mich hinzufuͤgen Gott ſei Dank, und die Inn⸗ 
ſtettens ſind es nicht; die Innſtettens ſind bloß alt, meinet⸗ 
wegen Uradel, aber was heißt Uradel? Ich will nicht, daß eine 
Brieſt oder doch wenigſtens eine Polterabendfigur, in der 
jeder das Widerſpiel unſerer Effi erkennen muß — ich will nicht, 
daß eine Brieſt mittelbar oder unmittelbar in einem fort von 
„Hoher Herr“ ſpricht. Da muͤßte denn doch Innſtetten wenig⸗ 
ſtens ein verkappter Hohenzoller ſein, es gibt ja dergleichen. 
Das iſt er aber nicht, und ſo kann ich nur wiederholen, es ver⸗ 
ſchiebt die Situation.“ 

Und wirklich, Brieſt hielt mit beſonderer Zaͤhigkeit eine 
ganze Zeitlang an dieſer Anſchauung feſt. Erſt nach der zweiten 
Probe, wo das „Kaͤthchen“, ſchon halb im Koſtuͤm, ein ſehr eng 
anliegendes Sammetmieder trug, ließ er ſich — der es auch 
ſonſt nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ — zu der 
Bemerkung hinreißen, „das Kaͤthchen liege ſehr gut da“, welche 
Wendung einer Waffenſtreckung ziemlich gleich kam oder doch 


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zu ſolcher hinuͤberleitete. Daß alle dieſe Dinge vor Effi geheim⸗ 


gehalten wurden, braucht nicht erſt geſagt zu werden. Bei mehr 
Neugier auf ſeiten dieſer letzteren waͤre das nun freilich ganz 
unmoglich geweſen, aber Effi hatte fo wenig Verlangen, in die 
Vorbereitungen und geplanten Überraſchungen einzudringen, 
daß ſie der Mama mit allem Nachdruck erklaͤrte, „ſie koͤnne es 
abwarten,“ und wenn dieſe dann zweifelte, ſo ſchloß Effi mit der 
wiederholten Verſicherung: Es waͤre wirklich ſo: die Mama 
koͤnne es glauben. Und warum auch nicht? Es ſei ja doch 
alles nur Theaterauffuͤhrung und huͤbſcher und poetiſcher als 
„Aſchenbroͤdel,“ das ſie noch am letzten Abend in Berlin ge⸗ 
ſehen haͤtte, huͤbſcher und poetiſcher koͤnne es ja doch nicht ſein. 
Da haͤtte ſie wirklich ſelber mitſpielen moͤgen, wenn auch nur, 
um dem laͤcherlichen Penſionslehrer einen Kreideſtrich auf den 
Ruͤcken zu machen. „Und wie reizend im letzten Akt, Aſchen⸗ 
broͤdels Erwachen als Prinzeſſin' oder doch wenigſtens als 
Gräfin; wirklich, es war ganz wie ein Märchen.“ In dieſer 
Weiſe ſprach fie oft, war meiſt ausgelaſſener als vordem und 
aͤrgerte ſich bloß uͤber das beſtaͤndige Tuſcheln und Geheimtun 
der Freundinnen. „Ich wollte, ſie haͤtten ſich weniger wichtig 
und waͤren mehr fuͤr mich da. Nachher bleiben ſie doch bloß 
ſtecken, und ich muß mich um ſie aͤngſtigen und mich chen 
daß es meine Freundinnen ſind.“ 

So gingen Effis Spottreden, und es war ganz unverkenn⸗ 
bar, daß ſie ſich um Polterabend und Hochzeit nicht allzuſehr 
kuͤmmerte. Frau von Brieſt hatte ſo ihre Gedanken daruͤber, 
aber zu Sorgen kam es nicht, weil ſich Effi, was doch ein gutes 
Zeichen war, ziemlich viel mit ihrer Zukunft beſchaͤftigte und 
ſich, phantaſiereich wie ſie war, viertelſtundenlang in Schilde⸗ 
rungen ihres Keſſiner Lebens erging, Schilderungen, in denen 
ſich nebenher und ſehr zur Erheiterung der Mama eine merk⸗ 
wuͤrdige Vorſtellung von Hinterpommern ausſprach oder viel⸗ 
leicht auch, mit kluger Berechnung, ausſprechen ſollte. Sie 


148 


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gefiel ſich naͤmlich darin, Keſſin als einen halbſibiriſchen Ort 

aufzufaſſen, wo Eis und Schnee nie recht aufhoͤrten. 

N „Heute hat Goſchenhofer das letzte geſchickt,“ ſagte Frau 

von Brieſt, als ſie wie gewoͤhnlich in Front des Seitenfluͤgels 
mit Effi am Arbeitstiſche ſaß, auf dem die Leinen⸗ und Waͤſche⸗ 
vorraͤte beſtaͤndig wuchſen, waͤhrend der Zeitungen, die bloß 
Platz wegnahmen, immer weniger wurden. „Ich hoffe, du 
haſt nun alles, Efft. Wenn du aber noch kleine Wuͤnſche hegſt, 
ſo mußt du ſie jetzt ausſprechen, womoͤglich in dieſer Stunde 
noch. Papa hat den Raps vorteilhaft verkauft und iſt unge⸗ 
woͤhnlich guter Laune.“ 

„Ungewoͤhnlich? Er iſt immer in guter Laune.“ 

„In ungewoͤhnlich guter Laune,“ wiederholte die Mama. 
„Und die muß benutzt werden. Sprich alſo. Mehrmals, als 
wir noch in Berlin waren, war es mir, als ob du doch nach dem 
einen oder anderen noch ein ganz beſonderes Verlangen ge⸗ 
habt haͤtteſt.“ 

„Ja, liebe Mama, was ſoll ich da ſagen. Eigentlich habe ich 
ja alles, was man braucht, ich meine, was man hier braucht. 
Aber da mir's nun mal beſtimmt iſt, ſo hoch noͤrdlich zu kom⸗ 
men . . ich bemerke, daß ich nichts dagegen habe, im Gegen⸗ 
teil, ich freue mich darauf, auf die Nordlichter und auf den 
helleren Glanz der Sterne .., da mir's nun mal fo beſtimmt 

iſt, ſo haͤtte ich wohl gern einen Pelz gehabt.“ 

„Aber Effi, Kind, das iſt doch alles bloß leere Torheit. 
Du kommſt ja nicht nach Petersburg oder nach Archangel.“ 

„Nein; aber ich bin doch auf dem Wege dahin ...“ 

„Gewiß, Kind. Auf dem Wege dahin biſt du; aber was 
heißt das? Wenn du von hier nach Nauen faͤhrſt, biſt du auch 
auf dem Wege nach Rußland. Im uͤbrigen, wenn du's wuͤnſchſt, 

ſo ſollſt du einen Pelz haben. Nur das laß mich im voraus ſagen, 
ich rate dir davon ab. Ein Pelz iſt fuͤr aͤltere Perſonen, ſelbſt 
deine alte Mama iſt noch zu jung dafuͤr, und wenn du mit 


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deinen ſiebzehn Jahren in Nerz oder Marder auftrittſt, fo glauben 
die Keſſiner, es ſei eine Maskerade.“ 


Das war am 2. September, daß ſie ſo ſprachen, ein Ge⸗ 
ſpraͤch, das ſich wohl fortgeſetzt hatte, wenn nicht gerade Sedan⸗ 
tag geweſen waͤre. So aber wurden ſie durch Trommel⸗ und 
Pfeifenklang unterbrochen, und Effi, die ſchon vorher von dem 
beabſichtigten Aufzuge gehoͤrt, aber es wieder vergeſſen hatte, 
ſtuͤrzte mit einem Male von dem gemeinſchaftlichen Arbeits⸗ 
tiſche fort und an Rondell und Teich voruͤber auf einen 
kleinen, an die Kirchhofsmauer angebauten Balkon zu, zu 
dem ſechs Stufen, nicht viel breiter als Leiterſproſſen, hinauf⸗ 
fuͤhrten. Im Nu war ſie oben, und richtig, da kam auch ſchon 
die ganze Schuljugend heran, Jahnke gravitaͤtiſch am rechten 
Fluͤgel, waͤhrend ein kleiner Tambourmajor, weit voran, 
an der Spitze des Zuges marſchierte, mit einem Geſichtsaus⸗ 
druck, als ob ihm oblaͤge, die Schlacht bei Sedan noch einmal zu 
ſchlagen. Effi winkte mit dem Taſchentuch, und der Begruͤßte 
verſaͤumte nicht, mit ſeinem blanken Kugelſtock zu ſalutieren. 


Eine Woche ſpaͤter ſaßen Mutter und Tochter wieder am 
alten Fleck, auch wieder mit ihrer Arbeit beſchaͤftigt. Es war 
ein wunderſchoͤner Tag; der in einem zierlichen Beet um die 
Sonnenuhr herumſtehende Heliotrop bluͤhte noch, und die leiſe 
Briſe, die ging, trug den Duft davon zu ihnen heruͤber. 

„Ach, wie wohl ich mich fuͤhle,“ ſagte Effi, „ſo wohl und ſo 
gluͤcklich; ich kann mir den Himmel nicht ſchoͤner denken. Und 
am Ende, wer weiß, ob ſie im Himmel ſo wundervollen Helio⸗ 
trop haben.“ 

„Aber Effi, ſo darfſt du nicht ſprechen; das haſt du von 
deinem Vater, dem nichts heilig iſt, und der neulich ſogar ſagte: 
Niemeyer ſaͤhe aus wie Lot. Unerhoͤrt. Und was ſoll es nur 
heißen? Erſtlich weiß er nicht, wie Lot ausgeſehen hat, und 


150 


zweitens iſt es eine grenzenloſe Nüdfichtslofigkeit gegen Hulda. 
Ein Gluͤck, daß Niemeyer nur die einzige Tochter hat, dadurch 
faͤllt es eigentlich in ſich zuſammen. In einem freilich hat er 
nur zu ſehr recht gehabt, in all und jedem, was er uͤber, Lots 
Frau“, unfere gute Frau Paſtorin, ſagte, die uns denn auch 
wirklich wieder mit ihrer Torheit und Anmaßung den ganzen 
Sedantag ruinierte. Wobei mir uͤbrigens einfaͤllt, daß wir, 
als Jahnke mit der Schule vorbeikam, in unſerem Geſpraͤche 
unterbrochen wurden — wenigſtens kann ich mir nicht denken, 
daß der Pelz, von dem du damals ſprachſt, dein einziger Wunſch 
geweſen ſein ſollte. Laß mich alſo wiſſen, Schatz, was du noch 
weiter auf dem Herzen haſt?“ 

„Nichts, Mama.“ 

„Wirklich nichts?“ 

„Nein, wirklich nichts; ganz im Ernſte ... Wenn es aber 
doch am Ende was fein ſollte ...“ 

n 

„. . . So müßt es ein japanifcher Bettſchirm fein, ſchwarz 
und goldene Vögel darauf, alle mit einem langen Kranich⸗ 
ſchnabel ... Und dann vielleicht auch noch eine Ampel für 
unſer Schlafzimmer, mit rotem Schein.“ . 

Frau von Brieſt ſchwieg. 

„Nun ſiehſt du, Mama, du ſchweigſt und ſiehſt aus, als ob 
ich etwas beſonders Unpaſſendes geſagt haͤtte.“ 

„Nein, Effi, nichts Unpaſſendes. Und vor deiner Mutter 
nun ſchon gewiß nicht. Denn ich kenne dich ja. Du biſt eine 
phantaſtiſche kleine Perſon, malſt dir mit Vorliebe Zukunfts⸗ 
bilder aus, und je farbenreicher ſie ſind, deſto ſchoͤner und be⸗ 
gehrlicher erſcheinen ſie dir. Ich ſah das ſo recht, als wir die 
Reiſeſachen kauften. Und nun denkſt du dir's ganz wundervoll, 
einen Bettſchirm mit allerhand fabelhaftem Getier zu haben, 
alles im Halblicht einer roten Ampel. Es kommt dir vor wie 
ein Maͤrchen, und du moͤchteſt eine Prinzeſſin fein.“ 


151 


Effi nahm die Hand der Mama und kuͤßte = „Ja, N 0 
ſo bin ich.“ \ 

„Ja, fo biſt du. Ich weiß es wohl. Aber meine liebe Effi, 
wir muͤſſen vorſichtig im Leben ſein, und zumal wir Frauen. 
Und wenn du nun nach Keſſin kommſt, einem kleinen Ort, wo 
nachts kaum eine Laterne brennt, ſo lacht man uͤber dergleichen. 
Und wenn man bloß lachte. Die, die dir ungewogen ſind, und 
ſolche gibt es immer, ſprechen von ſchlechter Erziehung, und 
manche ſagen auch wohl noch Schlimmeres.“ 

„Alſo nichts Japaniſches und auch keine Ampel. Aber ich 
bekenne dir, ich hatte es mir ſo ſchoͤn und poetiſch gedacht, 
alles in einem roten Schimmer zu ſehen.“ 

Frau von Brieſt war bewegt. Sie ſtand auf und kuͤßte 
Effi. „Du biſt ein Kind. Schoͤn und poetiſch. Das ſind ſo 
Vorſtellungen. Die Wirklichkeit iſt anders, und oft iſt es gut, 
daß es ſtatt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt.“ 

Effi ſchien antworten zu wollen, aber in dieſem Augen⸗ 
blicke kam Wilke und brachte Briefe. Der eine war aus Keſſin 
von Innſtetten. „Ach, von Geert,“ ſagte Effi, und waͤhrend 
ſie den Brief beiſeite ſteckte, fuhr ſie in ruhigem Tone fort: 
„Aber das wirft du doch geſtatten, daß ich den Flügel ſchraͤg in 
die Stube ſtelle. Daran liegt mir mehr als an einem Kamin, 
den mir Geert verſprochen hat. Und das Bild von dir, das 
ſtell ich dann auf eine Staffelei; ganz ohne dich kann ich nicht 
ſein. Ach, wie werd ich mich nach euch ſehnen, vielleicht auf der 
Reiſe ſchon und dann in Keſſin ganz gewiß. Es ſoll ja keine 
Garniſon haben, nicht einmal einen Stabsarzt, und ein Glück, 
daß es wenigſtens ein Badeort iſt. Vetter Brieſt, und daran 
will ich mich aufrichten, deſſen Mutter und Schweſter immer nach 
Warnemuͤnde gehen — nun, ich ſehe doch wirklich nicht ein, 
warum der die lieben Verwandten nicht auch einmal nach Keſſin 
hin dirigieren ſollte. Dirigieren, das klingt ohnehin ſo nach 
Generalſtab, worauf er, glaub ich, ambiert. Und dann kommt 


152 


5 


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er natürlich mit und wohnt bei uns. Übrigens haben die Keſ⸗ 
ſiner, wie mir neulich erſt wer erzaͤhlt hat, ein ziemlich großes 
Dampfſchiff, das zweimal die Woche nach Schweden hinuͤber⸗ 


flaͤhrt. Und auf dem Schiffe iſt dann Ball (fie haben da natuͤr⸗ 
lich auch Muſik), und er tanzt ſehr gut...“ 


„Wer?“ 

„Nun, Dagobert.“ 

„Ich dachte, du meinteſt Innſtetten. Aber jedenfalls iſt 
es an der Zeit, endlich zu wiſſen, was er ſchreibt ... Du haft 
ja den Brief noch in der Taſche.“ 

„Richtig. Den haͤtt ich faſt vergeſſen.“ Und ſie oͤffnete den 
Brief und uͤberflog ihn. 

„Nun, Effi, kein Wort? Du ſtrahlſt nicht und lachſt nicht 
einmal. Und er ſchreibt doch immer ſo heiter und unterhaltlich 
und gar nicht vaͤterlich weiſe.“ 

„Das wuͤrd ich mir auch verbitten. Er hat ſein Alter, und 
ich habe meine Jugend. Und ich wuͤrde ihm mit den Fingern 
drohen und ihm ſagen: „Geert, uͤberlege, was beſſer iſt'.“ 

„Und dann wuͤrde er dir antworten: „Was du haft, Effi, das 
iſt das Beſſere“. Denn er iſt nicht nur ein Mann der feinſten 
Formen, er iſt auch gerecht und verſtaͤndig und weiß recht gut, 
was Jugend bedeutet. Er ſagt ſich das immer und ſtimmt ſich 
auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe ſo bleibt, ſo 
werdet ihr eine Muſterehe fuͤhren.“ 

„Ja, das glaube ich auch, Mama. Aber kannſt du dir vor⸗ 
ſtellen, und ich ſchaͤme mich faſt, es zu ſagen, ich bin nicht ſo 
ſehr fuͤr das, was man eine Muſterehe nennt.“ 

„Das ſieht dir aͤhnlich. Und nun ſage mir, wofuͤr biſt du 
denn eigentlich?“ 

„Ich bin .. nun, ich bin für gleich und gleich und natuͤr⸗ 
lich auch für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit 
und Liebe nicht fein koͤnnen, weil Liebe, wie Papa ſagt, doch 
nur ein Papperlapapp iſt (was ich aber nicht glaube), nun, dann 


153 


bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vor⸗ 
nehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd kommt, auf Elch⸗ 
wild oder Auerhahn, oder wo der alte Kaiſer vorfaͤhrt und fuͤr 
jede Dame, auch für die jungen, ein gnaͤdiges Wort hat. Und 
wenn wir dann in Berlin ſind, dann bin ich fuͤr Hofball und 
Galaoper, immer dicht neben der großen Mittelloge.“ 

„Sagſt du das ſo bloß aus Übermut und Laune?“ 

„Nein, Mama, das iſt mein voͤlliger Ernſt. Liebe kommt 
zuerſt, aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann 
kommt Zerſtreuung — ja, Zerſtreuung, immer was Neues, 
immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aus⸗ 
halten kann, iſt Langeweile.“ 

„Wie biſt du da nur mit uns fertig geworden?“ 

„Ach, Mama, wie du nur ſo was ſagen kannſt. Freilich, 
wenn im Winter die liebe Verwandtſchaft vorgefahren kommt 
und ſechs Stunden bleibt oder wohl auch noch laͤnger, und 
Tante Gundel und Tante Olga mich muſtern und mich naſe⸗ 
weis finden — und Tante Gundel hat es mir auch mal geſagt 
— ja, da macht ſich's mitunter nicht ſehr huͤbſch, das muß ich 
zugeben. Aber ſonſt bin ich hier immer gluͤcklich geweſen, ſo 
gluͤcklich ...“ 

Und waͤhrend ſie das ſagte, warf ſie ſich heftig weinend vor 
der Mama auf die Knie und kuͤßte ihre beiden Haͤnde. 

„Steh auf, Effi. Das ſind ſo Stimmungen, die uͤber einen 
kommen, wenn man ſo jung iſt wie du und vor der Hochzeit 
ſteht und vor dem Ungewiſſen. Aber nun lies mir den Brief 
vor, wenn er nicht was ganz Beſonderes enthaͤlt oder vielleicht 
Geheimniſſe.“ 

„Geheimniſſe,“ lachte Effi und ſprang in plotzlich veränderter 
Stimmung wieder auf. „Geheimniſſe! Ja, er nimmt immer 
einen Anlauf, aber das meiſte koͤnnt ich auf dem Schulzenamt 
anſchlagen laſſen, da, wo immer die landraͤtlichen Verord⸗ 
nungen ſtehen. Nun, Geert iſt ja auch Landrat.“ 


154 


f 


„Lies, lies.“ 

„Liebe Effi! ... So fängt es nämlich immer an, und 
manchmal nennt er mich auch feine „kleine Eva.“ 

„Lies, lieg... Diü ſollſt ja leſen.“ 

„Alſo: Liebe Effi! Je naͤher wir unſerem Hochzeitstage 
kommen, je ſparſamer werden Deine Briefe. Wenn die Poſt 
kommt, ſuche ich immer zuerſt nach Deiner Handſchrift, aber 
wie Du weißt (und ich hab es ja auch nicht anders gewollt) 
in der Regel vergeblich. Im Hauſe ſind jetzt die Handwerker, 
die die Zimmer, freilich nur wenige, fuͤr Dein Kommen her⸗ 
richten ſollen. Das beſte wird wohl erſt geſchehen, wenn wir 
auf der Reiſe ſind. Tapezierer Madelung, der alles liefert, 
iſt ein Original, von dem ich Dir mit naͤchſtem erzaͤhle, vor 
allem aber, wie gluͤcklich ich bin uͤber Dich, uͤber meine ſuͤße, 
kleine Effi. Mir brennt hier der Boden unter den Fuͤßen, und 
dabei wird es in unſerer guten Stadt immer ſtiller und ein⸗ 
ſamer. Der letzte Badegaſt iſt geſtern abgereiſt; er badete zuletzt 
bei neun Grad, und die Badewaͤrter waren immer froh, wenn er 
wieder heil heraus war. Denn ſie fuͤrchteten einen Schlag⸗ 
anfall, was dann das Bad in Mißkredit bringt, als ob die 
Wellen hier ſchlimmer waͤren als wo anders. Ich juble, wenn 
ich denke, daß ich in vier Wochen ſchon mit Dir von der Piaz⸗ 
zetta aus nach dem Lido fahre oder nach Murano hin, wo ſie 
Glasperlen machen und ſchoͤnen Schmuck. Und der ſchoͤnſte ſei 
fuͤr Dich. Viele Gruͤße den Eltern und den zaͤrtlichſten Kuß Dir 
von Deinem Geert.“ 

Efſi faltete den Brief wieder zuſammen, um ihn in das 
Kuvert zu ſtecken. 


„Das iſt ein ſehr huͤbſcher Brief,“ ſagte Frau von Brieſt, 


„und daß er in allem das richtige Maß haͤlt, das iſt ein Vor⸗ 
zug mehr.“ 

„Ja, das rechte Maß, das haͤlt er.“ 

„Meine liebe Effi, laß mich eine Frage tun; wuͤnſchteſt du, 


155 


daß der Brief nicht das richtige Maß hielte, wuͤnſchteſt du, 
daß er zaͤrtlicher waͤre, vielleicht uͤberſchwenglich zaͤrtlich?“ 

„Nein, nein, Mama. Wahr und wahrhaftig nicht, das 
wuͤnſche ich nicht. Da iſt es doch beſſer ſo.“ 

„Da iſt es doch beſſer ſo. Wie das nun wieder klingt. Du 
biſt ſo ſonderbar. Und daß du vorhin weinteſt. Haſt du 
was auf deinem Herzen? Noch iſt es Zeit. Liebſt du Geert 
nicht?“ 8 

„Warum ſoll ich ihn nicht lieben? Ich liebe Hulda, und ich 
liebe Bertha, und ich liebe Hertha. Und ich liebe auch den alten 
Niemeyer. Und daß ich euch liebe, davon ſpreche ich gar nicht 
erſt. Ich liebe alle, die's gut mit mir meinen und guͤtig gegen 
mich find und mich verwöhnen. Und Geert wird mich auch 
wohl verwoͤhnen. Natuͤrlich auf ſeine Art. Er will mir ja 
ſchon Schmuck ſchenken in Venedig. Er hat keine Ahnung da⸗ 
von, daß ich mir nichts aus Schmuck mache. Ich klettere lieber 
und ich ſchaukle mich lieber, und am liebſten immer in der Furcht, 
daß es irgendwo reißen oder brechen und ich niederſtuͤrzen 
koͤnnte. Den Kopf wird es ja nicht gleich koſten.“ 

„Und liebſt du vielleicht auch deinen Vetter Brieſt?“ 

„Ja, ſehr. Der erheitert mich immer.“ 

„Und haͤtteſt du Vetter Brieſt heiraten moͤgen?“ 

„Heiraten? Um Gottes willen nicht. Er iſt ja noch ein halber 
Junge. Geert iſt ein Mann, ein ſchoͤner Mann, ein Mann, 
mit dem ich Staat machen kann und aus dem was wird in der 
Welt. Wo denkſt du hin, Mama.“ 

„Nun, das iſt recht, Effi, das freut mich. Aber du haſt 
noch was auf der Seele.“ 

„Vielleicht.“ 

„Nun, ſprich.“ 

„Sieh, Mama, daß er aͤlter iſt als ich, das ſchadet nichts, 
das iſt vielleicht recht gut: er iſt ja doch nicht alt und iſt geſund 
und friſch und ſo ſoldatiſch und ſo ſchneidig. Und ich koͤnnte 


156 


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* Nb 
* 7 


beinah ſagen, ich waͤre ganz und gar fuͤr ihn, wenn er nur 
ja, wenn er nur ein bißchen anders waͤre.“ 

„Wie denn, Effi?“ 

„Ja, wie. Nun, du darfſt mich nicht auslachen. Es iſt etwas, 
was ich erſt ganz vor kurzem aufgehorcht habe, druͤben im Paſtor⸗ 
hauſe. Wir ſprachen da von Innſtetten, und mit einem Male 
zog der alte Niemeyer ſeine Stirn in Falten, aber in Reſpekts⸗ 
und Bewunderungsfalten, und ſagte: „Ja, der Baron! Das 
iſt ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien.“ 

„Das iſt er auch, Effi.“ 

„Gewiß. Und ich glaube, Niemeyer ſagte nachher ſogar, 
er ſei auch ein Mann von Grundſaͤtzen. Und das iſt, glaub 
ich, noch etwas mehr. Ach, und ich ... ich habe keine. Sieh, 
Mama, da liegt etwas, was mich quaͤlt und aͤngſtigt. Er iſt 
fo lieb und gut gegen mich und fo nachſichtig, aber ... ich 
fuͤrchte mich vor ihm.“ 


Fuͤnftes Kapitel 


Die Hohen⸗Cremmer Feſttage lagen zuruͤck; alles war ab⸗ 
zereiſt, auch das junge Paar, noch am Abend des Hochzeits⸗ 
tages. 

Der Polterabend hatte jeden zufriedengeſtellt, beſonders die 
Mitſpielenden, und Hulda war dabei das Entzuͤcken aller jungen 
Offiziere geweſen, ſowohl der Rathenower Huſaren wie der 
etwas kritiſcher geſtimmten Kameraden vom Alexander⸗ 
Regiment. Ja, alles war gut und glatt verlaufen, faſt uͤber Er⸗ 
warten. Nur Bertha und Hertha hatten ſo heftig geſchluchzt, 
daß Jahnkes plattdeutſche Verſe ſo gut wie verloren gegangen 

waren. Aber auch das hatte wenig geſchadet. Einige feine 
Kenner waren ſogar der Meinung geweſen, „das ſei das Wahre; 
Steckenbleiben und Schluchzen und Unverſtaͤndlichkeit — in 


157 


dieſem Zeichen (und nun gar, wenn es fo huͤbſche rotblonde 


Krauskoͤpfe wären) werde immer am entſchiedenſten geſiegt.“ 


Eines ganz beſonderen Triumphes hatte ſich Vetter Brieſt 
in ſeiner ſelbſtgedichteten Rolle ruͤhmen duͤrfen. Er war als 
Demuthſcher Kommis erſchienen, der in Erfahrung gebracht, 
die junge Braut habe vor, gleich nach der Hochzeit nach Italien 
zu reiſen, weshalb er einen Reiſekoffer abliefern wolle. Dieſer 
Koffer entpuppte ſich natuͤrlich als eine Rieſenbonbonniere 
von Hoͤvel. Bis um drei Uhr war getanzt worden, bei welcher 
Gelegenheit der ſich mehr und mehr in eine hoͤchſte Cham⸗ 
pagnerſtimmung hineinredende alte Brieſt allerlei Bemer⸗ 
kungen uͤber den an manchen Hoͤfen immer noch uͤblichen 
Fackeltanz und die merkwuͤrdige Sitte des Strumpfband⸗ 
Austanzens gemacht hatte, Bemerkungen, die nicht abſchließen 
wollten und, ſich immer mehr ſteigernd, am Ende ſo weit 
gingen, daß ihnen durchaus ein Riegel vorgeſchoben werden 
mußte. „Nimm dich zuſammen, Brieſt,“ war ihm in ziemlich 
ernſtem Tone von ſeiner Frau zugefluͤſtert worden; „du ſtehſt 
hier nicht, um Zweideutigkeiten zu ſagen, ſondern um die Hon⸗ 
neurs des Hauſes zu machen. Wir haben eben eine Hochzeit 


und nicht eine Jagdpartie.“ Worauf Brieſt geantwortet, „er 


ſaͤhe darin keinen ſo großen Unterſchied; uͤbrigens ſei er gluͤcklich.“ 

Auch der Hochzeitstag ſelbſt war gut verlaufen. Niemeyer 
hatte vorzuͤglich geſprochen, und einer der alten Berliner Herren, 
der halb und halb zur Hofgeſellſchaft gehoͤrte, hatte ſich auf dem 
Ruͤckwege von der Kirche zum Hochzeitshauſe dahin geäußert, 
es ſei doch merkwuͤrdig, wie reich geſaͤt in einem Staate wie 
der unſrige die Talente ſeien. „Ich ſehe darin einen Triumph 
unſerer Schulen und vielleicht mehr noch unſerer Philoſophie. 
Wenn ich bedenke, dieſer Niemeyer, ein alter Dorfpaſtor, der 
anfangs ausſah wie ein Hoſpitalit ... ja, Freund, ſagen Sie 
ſelbſt, hat er nicht geſprochen wie ein Hofprediger? Dieſer Takt 


und dieſe Kunſt der Antitheſe, ganz wie Koͤgel, und an Ge⸗ 


158 


2 


fuͤhl ihm noch uͤber. Koͤgel iſt zu kalt. Freilich ein Mann in ſeiner 
Stellung muß kalt ſein. Woran ſcheitert man denn im Leben 
uͤberhaupt? Immer nur an der Warme.“ Der noch unver⸗ 
heiratete, aber wohl eben deshalb zum vierten Male in einem 
„Verhaͤltnis“ ſtehende Wuͤrdentraͤger, an den ſich dieſe Worte 
gerichtet hatten, ſtimmte ſelbſtverſtaͤndlich zu. „Nur zu wahr, 
lieber Freund,“ ſagte er. „Zuviel Waͤrme! ... ganz vorzuͤglich 
. .. Übrigens muß ich Ihnen nachher eine Geſchichte erzählen.“ 


Der Tag nach der Hochzeit war ein heller Oktobertag. Die 
Morgenſonne blinkte; trotzdem war es ſchon herbſtlich friſch, 
und Brieſt, der eben gemeinſchaftlich mit ſeiner Frau das Fruͤh⸗ 
ſtuͤck genommen, erhob ſich von feinem Platz und ſtellte ſich, 
beide Haͤnde auf dem Ruͤcken, gegen das mehr und mehr ver⸗ 
glimmende Kaminfeuer. Frau von Brieſt, eine Handarbeit in 
Haͤnden, ruͤckte gleichfalls naͤher an den Kamin und ſagte zu 
Wilke, der gerade eintrat, um den Fruͤhſtuͤckstiſch abzuraͤumen: 
„Und nun, Wilke, wenn Sie drin im Saal, aber das geht vor, 
alles in Ordnung haben, dann ſorgen Sie, daß die Torten nach 
drüben kommen, die Nußtorte zu Paſtors und die Schuͤſſel mit 
kleinen Kuchen zu Jahnkes. Und nehmen Sie ſich mit den 
Glaͤſern in acht. Ich meine die duͤnn geſchliffenen.“ 

Brieſt war ſchon bei der dritten Zigarette, ſah ſehr wohl 
aus und erklaͤrte, „nichts bekomme einem ſo gut wie eine Hoch⸗ 
zeit, natuͤrlich die eigene ausgenommen.“ 

„Ich weiß nicht, Brieſt, wie du zu ſolcher Bemerkung kommſt. 
Mir war ganz neu, daß du darunter gelitten haben willſt. Ich 
wuͤßte auch nicht warum.“ 

„Luiſe, du biſt eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts 
übel, auch nicht einmal fo was. Im uͤbrigen, was wollen wir 
von uns ſprechen, die wir nicht einmal eine Hochzeitsreiſe ge⸗ 
macht haben. Dein Vater war dagegen. Aber Effi macht nun 
eine Hochzeitsreiſe. Beneidenswert. Mit dem Zehnuhrzug 


159 


F 


ab. Sie muͤſſen jetzt ſchon bei Regensburg fein, und ich nehme 
an, daß er ihr — ſelbſtverſtaͤndlich ohne auszuſteigen — die 
Hauptkunſtſchaͤtze der Walhalla herzaͤhlt. Innſtetten iſt ein vor⸗ 
zuͤglicher Kerl, aber er hat fo was von einem Kunſtfex, und 


Effi, Gott, unſere arme Effi, iſt ein Naturkind. Ich fuͤrchte, daß 


er ſie mit ſeinem Kunſtenthuſiasmus etwas quaͤlen wird.“ 

„Jeder quält feine Frau. Und Kunſtenthuſiasmus iſt noch 
lange nicht das Schlimmſte.“ 

„Nein, gewiß nicht; jedenfalls wollen wir daruͤber nicht 
ſtreiten; es iſt ein weites Feld. Und dann ſind auch die Menſchen 
ſo verſchieden. Du, nun ja, du haͤtteſt dazu getaugt. Überhaupt 
haͤtteſt du beſſer zu Innſtetten gepaßt als Effi. Schade, nun 
iſt es zu ſpaͤt.“ 

„Überaus galant, abgeſehen davon, daß es nicht paßt. 
Unter allen Umſtaͤnden aber; was geweſen iſt, iſt geweſen. 
Jetzt iſt er mein Schwiegerſohn, und es kann zu nichts fuͤhren, 
immer auf Jugendlichkeiten zuruͤckzuweiſen.“ 


„Ich habe dich nur in eine animierte Stimmung bringen 


wollen.“ 


„Sehr guͤtig. Übrigens nicht Bi Ich bin in animierter 


Stimmung.“ 
„Und auch in guter?“ 


„Ich kann es faſt ſagen. Aber du darfſt ſie nicht verderben. 


Nun, was haſt du noch? Ich ſehe, daß du was auf dem Herzen 
haſt.“ 


„Gefiel dir Effi? Gefiel dir die ganze Geſchichte? Sie war 
fo ſonderbar, halb wie ein Kind, und dann wieder ſehr ſelbſt⸗ 


bewußt und durchaus nicht ſo beſcheiden, wie ſie's ſolchem 


Manne gegenuͤber ſein muͤßte. Das kann doch nur ſo zuſammen⸗ 3 
haͤngen, daß ſie noch nicht recht weiß, was ſie an ihm hat. Oder 
iſt es einfach, daß ſie ihn nicht recht liebt? Das waͤre ſchlimm. 


Denn bei all ſeinen Vorzuͤgen, er iſt nicht der Mann, ſich dieſe 
Liebe mit leichter Manier zu gewinnen.“ 


160 


Frau von Brieſt ſchwieg und zählte die Stiche auf dem 
Kanevas. Endlich ſagte fie: „Was du da ſagſt, Brieſt, iſt das 
Geeſcheiteſte, was ich ſeit drei Tagen von dir gehört habe, deine 
Rede bei Tiſch mit eingerechnet. Ich habe auch ſo meine Be⸗ 
denken gehabt. Aber ich glaube, wir koͤnnen uns beruhigen.“ 

„Hat ſie dir ihr Herz ausgeſchuͤttet?“ 

„So moͤcht ich es nicht nennen. Sie hat wohl das Be⸗ 
duͤrfnis zu ſprechen, aber ſie hat nicht das Beduͤrfnis, ſich ſo 
recht von Herzen auszuſprechen, und macht vieles in ſich ſelber 
ab; ſie iſt mitteilſam und verſchloſſen zugleich, beinah verſteckt; 
uͤberhaupt ein ganz eigenes Gemiſch.“ 

„Ich bin ganz deiner Meinung. Aber wenn ſie dir nichts 
geſagt hat, woher weißt du's?“ 

„Ich ſagte nur, ſie habe mir nicht ihr Herz ausgeſchuͤttet. 
Solche Generalbeichte, ſo alles von der Seele herunter, das 
liegt nicht in ihr. Es fuhr alles ſo bloß ruckweis und ploͤtzlich 
aus ihr heraus, und dann war es wieder voruͤber. Aber gerade 
weil es ſo ungewollt und wie von ungefaͤhr aus ihrer Seele 
kam, deshalb war es mir ſo wichtig.“ 

„Und wann war es denn und bei welcher Gelegenheit?“ 

„Es werden jetzt gerade drei Wochen ſein, und wir ſaßen 
im Garten, mit allerhand Ausſtattungsdingen, großen und 
kleinen, beſchaͤftigt, als Wilke einen Brief von Innſtetten brachte. 
Sie ſteckte ihn zu ſich, und ich mußte ſie eine Viertelſtunde ſpaͤter 
erſt erinnern, daß ſie ja einen Brief habe. Dann las ſie ihn, 
aber verzog kaum eine Miene. Ich bekenne dir, daß mir bang 
ums Herz dabei wurde, ſo bang, daß ich gern eine Gewißheit 

haben wollte, ſoviel, wie man in dieſen Dingen haben kann.“ 

„Sehr wahr, ſehr wahr.“ 

„Was meinſt du damit?“ 5 

„Nun, ich meine nur... Aber das iſt ja ganz gleich. Sprich 
nur weiter; ich bin ganz Ohr.“ 

„Ich fragte alſo rund heraus, wie's ſtuͤnde, und weil ich bei 


WVı 161 


ihrem eigenen Charakter einen feierlichen Ton vermeiden und 
alles ſo leicht wie moͤglich, ja beinah ſcherzhaft nehmen wollte, 
ſo warf ich die Frage hin, ob ſie vielleicht den Vetter Brieſt, der 
ihr in Berlin ſehr ſtark den Hof gemacht hatte, ob ſie den viel⸗ 
leicht lieber heiraten würde...” 

„Und?“ 

„Da haͤtteſt du ſie ſehen ſollen. Ihre naͤchſte Antwort 
war ein ſchnippiſches Lachen. Der Vetter ſei doch eigentlich nur 
ein großer Kadett in Leutnantsuniform. Und einen Kadetten 
koͤnne ſie nicht einmal lieben, geſchweige heiraten. Und dann 


ſprach ſie von Innſtetten, der ihr mit einem Male der Traͤger 


aller maͤnnlichen Tugenden war.“ 

„Und wie erklaͤrſt du dir das?“ 

„Ganz einfach. So geweckt und temperamentvoll und bei⸗ 
nahe leidenfchaftlich fie iſt, oder vielleicht auch weil fie es iſt, fie 
gehoͤrt nicht zu denen, die ſo recht eigentlich auf Liebe geſtellt 
ſind, wenigſtens nicht auf das, was den Namen ehrlich verdient. 
Sie redet zwar davon, ſogar mit Nachdruck und einem ge⸗ 
wiſſen Überzeugungston, aber doch nur, weil fie irgendwo ge; 
leſen hat, Liebe ſei nun mal das Hoͤchſte, das Schoͤnſte, das 
Herrlichſte. Vielleicht hat ſie's auch bloß von der ſentimentalen 
Perſon, der Hulda, gehört und ſpricht es ihr nach. Aber fie 
empfindet nicht viel dabei. Wohl moͤglich, daß es alles mal 
kommt, Gott verhuͤte es, aber noch iſt es nicht da.“ 

„Und was iſt da? Was hat ſie?“ 

„Sie hat nach meinem und auch nach ihrem eigenen Zeug⸗ 
nis zweierlei: Vergnügungsſucht und Ehrgeiz.“ 

„Nun, das kann pa paſſieren. Da bin ich beruhigt.“ 

„Ich nicht. Innſtetten iſt ein Karrieremacher — vom Streber 
will ich nicht ſprechen, das iſt er auch nicht, dazu iſt er zu wirklich 
vornehm — alſo Karrieremacher, und das wird Effis Ehrgeiz 
befriedigen.“ 

„Nun alſo. Das iſt doch gut.“ 


162 


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„Ja, das iſt gut! Aber es iſt erſt die Hälfte, Ihr Ehrgeiz 


wird befriedigt werden, aber ob auch ihr Hang nach Spiel und 
Abenteuer? Ich bezweifle. Für die ſtuͤndliche kleine Zerſtreuung 


und Anregung, fuͤr alles, was die Langeweile bekaͤmpft, dieſe 
Todfeindin einer geiſtreichen kleinen Perſon, dafuͤr wird Inn⸗ 
ſtetten ſehr ſchlecht ſorgen. Er wird ſie nicht in einer geiſtigen 
Ode laſſen, dazu iſt er zu klug und zu weltmaͤnniſch, aber er 
wird ſie auch nicht ſonderlich amuͤſieren. Und was das Schlimmſte 
iſt, er wird ſich nicht einmal recht mit der Frage beſchaͤftigen, wie 
das wohl anzufangen ſei. Das wird eine Weile ſo gehen, ohne 
viel Schaden anzurichten, aber zuletzt wird ſie's merken, und 
dann wird es ſie beleidigen. Und dann weiß ich nicht, was ge⸗ 
ſchieht. Denn ſo weich und nachgiebig ſie iſt, ſie hat auch was 
Rabiates und laͤßt es auf alles ankommen.“ 

In dieſem Augenblicke trat Wilke vom Saal her ein und 
meldete, daß er alles nachgezaͤhlt und alles vollzaͤhlig gefunden 
habe; nur von den feinen Weinglaͤſern ſei eins zerbrochen, aber 
ſchon geſtern, als das Hoch ausgebracht wurde — Fraͤulein 
Hulda habe mit Leutnant Nienkerken zu ſcharf angeſtoßen. 

„Verſteht ſich, von alter Zeit her immer im Schlaf, und 
unterm Holunderbaum iſt es natuͤrlich nicht beſſer geworden. 
Eine alberne Perſon, und ich begreife Nienkerken nicht.“ 

„Ich begreife ihn vollkommen.“ 

„Er kann ſie doch nicht heiraten.“ 

„Nein.“ 

„Alſo zu was?“ 

„Ein weites Feld, Luiſe.“ 2 

Dies war am Tage nach der Hochzeit. Drei Tage ſpaͤter 
kam eine kleine gekritzelte Karte aus Muͤnchen, die Namen alle 
nur mit zwei Buchſtaben angedeutet. „Liebe Mama! Heute 
vormittag die Pinakothek beſucht. Geert wollte auch noch 
nach dem andern hinüber, das ich hier nicht nenne, weil ich 


118 163 


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wegen der Rechtſchreibung in Zweifel bin, und fragen mag ich 
ihn nicht. Er iſt uͤbrigens engelsgut gegen mich und erklaͤrt 
mir alles. Überhaupt alles ſehr ſchoͤn, aber anſtrengend. In 
Italien wird es wohl nachlaſſen und beſſer werden. Wir wohnen 
in den „Vier Jahreszeiten“, was Geert veranlaßte, mir zu ſagen, 
‚draußen ſei Herbſt, aber er habe in mir den Frühling‘. Ich 
finde es ſehr ſinnig. Er iſt uͤberhaupt ſehr aufmerkſam. Freilich 
ich muß es auch ſein, namentlich wenn er was ſagt oder er⸗ 
klaͤrt. Er weiß uͤbrigens alles ſo gut, daß er nicht einmal nach⸗ 
zuſchlagen braucht. Mit Entzuͤcken ſpricht er von Euch, nament⸗ 
lich von Mama. Hulda findet er etwas zierig; aber der alte Nie⸗ 
meyer hat es ihm ganz angetan. Tauſend Gruͤße von Eurer 
ganz berauſchten, aber auch etwas muͤden Effi.” 

Solche Karten trafen nun taͤglich ein, aus Innsbruck, aus 
Verona, aus Vicenza, aus Padua, eine jede fing an: „Wir 
haben heute vormittag die hieſige berühmte Galerie beſucht,“ oder 
wenn es nicht die Galerie war, ſo war es eine Arena oder irgend⸗ 
eine Kirche „Santa Maria“ mit einem Zunamen. Aus Padua 
kam, zugleich mit der Karte, noch ein wirklicher Brief. „Geſtern 
waren wir in Vicenza. Vicenza muß man ſehen wegen des Palla⸗ 
dio; Geert ſagte mir, daß in ihm alles Moderne wurzele. Natuͤrlich 
nur in bezug auf Baukunſt. Hier in Padua (wo wir heute fruͤh an⸗ 
kamen) ſprach er im Hotelwagen etliche Male vor ſich hin:, Er liegt 
in Padua begraben‘, und war uͤberraſcht, als er von mir vernahm, 
daß ich dieſe Worte noch nie gehoͤrt haͤtte. Schließlich aber ſagte 
er, es ſei eigentlich ganz gut und ein Vorzug, daß ich nichts davon 
wüßte. Er ift uberhaupt ſehr gerecht. Und vor allem iſt er engels⸗ 
gut gegen mich und gar nicht uͤberheblich und auch gar nicht alt. Ich 
habe noch immer das Ziehen in den Fuͤßen, und das Nachſchlagen 
und das lange Stehen vor den Bildern ſtrengt mich an. Aber es 
muß ja ſein. Ich freue mich ſehr auf Venedig. Da bleiben wir fuͤnf 
Tage, ja vielleicht eine ganze Woche. Geert hat mir ſchon von den 
Tauben auf dem Markusplatze vorgeſchwaͤrmt, und daß man ſich 


— 


— aha ns 


— 


164 


da Tüten mit Erbſen kauft und dann die ſchoͤnen Tiere damit 
fluͤttert. Es ſoll Bilder geben, die das darſtellen, ſchoͤne blonde 
Maͤdchen, ‚ein Typus wie Hulda“, ſagte er. Wobei mir denn 
auch die Jahnkeſchen Maͤdchen einfallen. Ach, ich gaͤbe was 
drum, wenn ich mit ihnen auf unſerem Hof auf einer Wagen⸗ 


2 deichſel ſitzen und unſere Tauben füttern könnte. Die Pfauen⸗ 


taube mit dem ſtarken Kropf duͤrft ihr aber nicht ſchlachten, 
die will ich noch wiederſehen. Ach, es iſt ſo ſchoͤn hier. Es ſoll 
auch das Schoͤnſte ſein. Eure gluͤckliche, aber etwas muͤde Effi.“ 

Frau von Brieſt, als ſie den Brief vorgeleſen hatte, ſagte: 
„Das arme Kind. Sie hat Sehnſucht.“ 

„Ja,“ ſagte Brieſt, „ſie hat Sehnſucht. Dieſe verwuͤnſchte 
Reiſerei..“ 

„Warum ſagſt du das jetzt? Du haͤtteſt es ja hindern 
koͤnnen. Aber das iſt ſo deine Art, hinterher den Weiſen zu 
ſpielen. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen iſt, decken 
die Ratsherren den Brunnen zu.“ 

„Ach, Luiſe, komme mir doch nicht mit ſolchen Geſchichten. 
Effi iſt unſer Kind, aber ſeit dem 3. Oktober iſt ſie Baronin 
Innſtetten. Und wenn ihr Mann, unſer Herr Schwieger⸗ 
ſohn, eine Hochzeitsreiſe machen und bei der Gelegenheit jede 
Galerie neu katalogiſieren will, ſo kann ich ihn daran nicht hin⸗ 
dern. Das iſt eben das, was man ſich verheiraten nennt.“ 

„Alſo jetzt gibſt du das zu. Mir gegenuͤber haſt du's immer be⸗ 
ſtritten, immer beſtritten, daß die Frau in einer Zwangslage ſei.“ 

„Ja, Luiſe, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das iſt wirk⸗ 
lich ein zu weites Feld.“ 


Sechſtes Kapitel 


Er Mitte November — ſie waren bis Capri und Sorrent ge⸗ 
kommen — lief Innſtettens Urlaub ab, und es entſprach ſeinem 


165 


Charakter und feinen Gewohnheiten, genau Zeit und Stunde 
zu halten. Am 14. fruͤh traf er denn auch mit dem Kurier⸗ 
zuge in Berlin ein, wo Vetter Brieſt ihn und die Couſine be⸗ 
gruͤßte und vorſchlug, die zwei bis zum Abgange des Stettiner 
Zuges noch zur Verfuͤgung bleibenden Stunden zum Beſuche 
des St. Privat⸗Panoramas zu benutzen und dieſem Panorama⸗ 
beſuch ein kleines Gabelfruͤhſtuͤck folgen zu laſſen. Beides 
wurde dankbar akzeptiert. Um Mittag war man wieder auf dem 
Bahnhof und nahm hier, nachdem, wie herkoͤmmlich, die gluͤck⸗ 
licherweiſe nie ernſt gemeinte Aufforderung, „doch auch mal 
heruͤberzukommen,“ ebenſo von Effi wie von Innſtetten aus⸗ 
geſprochen worden war, unter herzlichem Haͤndeſchuͤtteln Ab⸗ 
ſchied voneinander. Noch als der Zug ſich ſchon in Bewegung 
ſetzte, gruͤßte Effi vom Coupe aus. Dann machte fie ſich's bes 
quem und ſchloß die Augen; nur von Zeit zu Zeit richtete fie 
ſich wieder auf und reichte Innſtetten die Hand. 

Es war eine angenehme Fahrt, und puͤnktlich erreichte der 
Zug den Bahnhof Klein⸗Tantow, von dem aus eine Chauſſee 
nach dem noch zwei Meilen entfernten Keſſin hinuͤberfuͤhrte. 
Bei Sommerzeit, namentlich waͤhrend der Bademonate, be⸗ 
nutzte man ſtatt der Chauſſee lieber den Waſſerweg und fuhr 
auf einem alten Raddampfer das Fluͤßchen Keſſine, dem 
Keſſin ſelbſt feinen Namen verdankte, hinunter; am 1x. DO 
tober aber ſtellte der „Phoͤnix“, von dem ſeit lange vergeblich 
gewuͤnſcht wurde, daß er in einer paſſagierfreien Stunde ſich 
ſeines Namens entſinnen und verbrennen moͤge, regelmaͤßig 
ſeine Fahrten ein, weshalb denn auch Innſtetten bereits von 
Stettin aus an ſeinen Kutſcher Kruſe telegraphiert hatte: „Fuͤnf 
Uhr Bahnhof Klein⸗Tantow. Bei gutem Wetter offener 
Wagen.“ 

Und nun war gutes Wetter, und Kruſe hielt in offenem 
Gefährt am Bahnhof und begrüßte die Ankommenden mit dem 
vorſchriftsmaͤßigen Anſtand eines herrſchaftlichen Kutſchers. 


166 


„Nun, Kruſe, alles in Ordnung?“ 

„Zu Befehl, Herr Landrat.“ 

„Dann, Effi, bitte, ſteig ein.“ Und waͤhrend Effi dem nach⸗ 
‚am und einer von den Bahnhofsleuten einen kleinen Hand⸗ 
koffer vorn beim Kutſcher unterbrachte, gab Innſtetten Wei⸗ 
ſung, den Reſt des Gepaͤcks mit dem Omnibus nachzuſchicken. 
Gleich danach nahm auch er ſeinen Platz, bat, ſich populaͤr 
machend, einen der Umſtehenden um Feuer und rief Kruſe zu: 
„Nun vorwaͤrts, Kruſe.“ Und uͤber die Schienen weg, die 
vielgleiſig an der Übergangsſtelle lagen, ging es in Schraͤg⸗ 
linie den Bahndamm hinunter und gleich danach an einem 
ſchon an der Chauſſee gelegenen Gaſthauſe voruͤber, das den 
Namen „Zum Fuͤrſten Bismarck“ fuͤhrte. Denn an eben dieſer 
Stelle gabelte der Weg und zweigte, wie rechts nach Keſſin, 
ſo links nach Varzin hin ab. Vor dem Gaſthofe ſtand ein 
mittelgroßer breitſchultriger Mann in Pelz und Pelzmuͤtze, 
welch letztere er, als der Herr Landrat voruͤberfuhr, mit vieler 
Würde vom Haupte nahm. „Wer war denn das?“ ſagte Effi, 
die durch alles, was ſie ſah, aufs hoͤchſte intereſſiert und ſchon 
deshalb bei beſter Laune war. „Er ſah ja aus wie ein Staroſt, 
wobei ich freilich bekennen muß, nie einen Staroſten geſehen zu 
haben.“ ö 

„Was auch nicht ſchadet, Effi. Du haſt es trotzdem ſehr 
gut getroffen. Er ſieht wirklich aus wie ein Staroſt und iſt 
auch ſo was. Er iſt naͤmlich ein halber Pole, heißt Golchowski, 
und wenn wir hier Wahl haben oder eine Jagd, dann iſt er 
oben auf. Eigentlich ein ganz unſicherer Paſſagier, dem ich 
nicht über den Weg traue und der wohl viel auf dem Gewiſſen 
hat. Er ſpielt ſich aber auf den Loyalen hin aus, und wenn 
die Varziner Herrſchaften hier voruͤberkommen, möcht er ſich 
am liebſten vor den Wagen werfen. Ich weiß, daß er dem 
Fuͤrſten auch widerlich iſt. Aber was hilft's? Wir duͤrfen es 
nicht mit ihm verderben, weil wir ihn brauchen. Er hat hier 


167 


. 


die ganze Gegend in der Taſche und verſteht die Wahlmache 


wie kein anderer, gilt auch fuͤr wohlhabend. Dabei leiht er auf 
Wucher, was ſonſt die Polen nicht tun; in der Regel das 
Gegenteil.“ 

„Er ſah aber gut aus.“ 

„Ja, gut ausſehen tut er. Gut ausſehen tun die meiſten 
hier. Ein huͤbſcher Schlag Menſchen. Aber das iſt auch das 
Beſte, was man von ihnen ſagen kann. Eure maͤrkiſchen Leute 
ſehen unſcheinbarer aus und verdrießlicher, und in ihrer Hal⸗ 
tung ſind ſie weniger reſpektvoll, eigentlich gar nicht, aber ihr 


Ja iſt Ja und Nein iſt Nein, und man kann ſich auf fie ver 


laſſen. Hier iſt alles unſicher.“ 

„Warum ſagſt du mir das? Ich muß nun doch hier mit ihnen 
leben.“ 

„Du nicht, du wirſt nicht viel von ihnen hoͤren und ſehen. 
Denn Stadt und Land ſind hier ſehr verſchieden, und du wirſt 
nur unſere Staͤdter kennen lernen, unſere guten Keſſiner.“ 

„Unſere guten Keſſiner. Iſt es Spott, oder ſind ſie wirklich 
ſo gut?“ 

„Daß ſie wirklich gut ſind, will ich nicht gerade behaupten, 
aber ſie ſind doch anders als die andern; ja, ſie haben gar 
keine Ahnlichkeit mit der Landbevoͤlkerung hier.“ 

„Und wie kommt das?“ 

„Weil es eben ganz andere Menſchen ſind, ihrer Abſtam⸗ 
mung nach und ihren Beziehungen nach. Was du hier land⸗ 
einwaͤrts findeſt, das ſind ſogenannte Kaſchuben, von denen du 
vielleicht gehört haft, ſlawiſche Leute, die hier ſchon tauſend 
Jahre ſitzen und wahrſcheinlich noch viel langer. Alles aber, 
was hier an der Kuͤſte hin in den kleinen See⸗ und Handels⸗ 
ftädten wohnt, das find von weither Eingewanderte, die ſich 
um das kaſchubiſche Hinterland wenig kuͤmmern, weil ſie wenig 
davon haben und auf etwas ganz anderes angewieſen ſind. 
Worauf ſie angewieſen ſind, das ſind die Gegenden, mit denen 


168 


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ſie Handel treiben, und da fle das mit aller Welt tun und mit 
aller Welt in Verbindung ſtehen, ſo findeſt du zwiſchen ihnen 
auch Menſchen aus aller Welt Ecken und Enden. Auch in un⸗ 
ſerem guten Keſſin, trotzdem es eigentlich nur ein Neſt iſt.“ 

„Aber das iſt ja entzuͤckend, Geert. Du ſprichſt immer von 
Neſt, und nun finde ich, wenn du nicht uͤbertrieben haſt, eine 
ganze neue Welt hier. Allerlei Exotiſches. Nicht wahr, ſo was 

Auhnliches meinteſt du doch?“ 

3 Er nickte. 

„Eine ganz neue Welt, ſag ich, vielleicht einen Neger oder 
einen Tuͤrken, oder vielleicht ſogar einen Chineſen.“ g 

„Auch einen Chineſen. Wie gut du raten kannſt. Es iſt 
moͤglich, daß wir wirklich noch einen haben, aber jedenfalls 
haben wir einen gehabt; jetzt iſt er tot und auf einem kleinen 
eingegitterten Stuͤck Erde begraben, dicht neben dem Kirchhof. 
Wenn du nicht furchtſam biſt, will ich dir bei Gelegenheit mal 
ſein Grab zeigen; es liegt zwiſchen den Duͤnen, bloß Strand⸗ 
hafer drum rum und dann und wann ein paar Immortellen, 
und immer hoͤrt man das Meer. Es iſt ſehr ſchoͤn und ſehr 
ſchauerlich.“ 

„Ja, ſchauerlich, und ich moͤchte wohl mehr davon wiſſen. 
Aber doch lieber nicht, ich habe dann immer gleich Viſionen und 
Traͤume und moͤchte doch nicht, wenn ich dieſe Nacht hoffent⸗ 
lich gut ſchlafe, gleich einen Chineſen an mein Bett treten ſehen.“ 

„Das wird er auch nicht.“ 

„Das wird er auch nicht. Höre, das klingt ja ſonderbar, 
als ob es doch moͤglich waͤre. Du willſt mir Keſſin intereſſant 
machen, aber du gehſt darin ein bißchen weit. Und ſolche fremde 
Leute habt ihr viele in Keſſin?“ 

„Sehr viele. Die ganze Stadt beſteht aus ſolchen Fremden, 
aus Menſchen, deren Eltern oder Großeltern noch ganz wo 
anders ſaßen.“ | 

„Hoͤchſt merkwürdig. Bitte, ſage mir mehr davon. Aber 


169 


nicht wieder was Gruſeliges. Ein Chineſe, find ich, hat immer 
was Gruſeliges.“ 

„Ja, das hat er,“ lachte Geert. „Aber der Reſt iſt, Gott 
ſei Dank, von ganz anderer Art, lauter manierliche Leute, viel; 
leicht ein bißchen zu ſehr Kaufmann, ein bißchen zu ſehr auf 
ihren Vorteil bedacht, und mit Wechſeln von zweifelhaftem 
Wert immer bei der Hand. Ja, man muß ſich vorſehen mit 
ihnen. Aber ſonſt ganz gemuͤtlich. Und damit du ſiehſt, daß ich 
dir nichts vorgemacht habe, will ich dir nur ſo eine kleine Probe 
geben, ſo eine Art Regiſter oder Perſonenverzeichnis.“ 

„Ja, Geert, das tu.“ 

„Da haben wir beiſpiels weiſe keine fuͤnfzig Schritt von uns, und 
unſere Gaͤrten ſtoßen ſogar zuſammen, den Maſchinen⸗ und Bag⸗ 


germeiſter Macpherſon, einen richtigen Schotten und Hochlaͤnder.“ 


„Und traͤgt ſich auch noch ſo?“ 

„Nein, Gott ſei Dank nicht, denn es iſt ein verhutzeltes 
Maͤnnchen, auf das weder ſein Clan noch Walter Scott be⸗ 
ſonders ſtolz ſein wuͤrden. Und dann haben wir in demſelben 
Hauſe, wo dieſer Macpherſon wohnt, auch noch einen alten 
Wundarzt, Beza mit Namen, eigentlich bloß Barbier; der 
ſtammt aus Liſſabon, gerade daher, wo auch der beruͤhmte 


General de Meza herſtammt, — Meza, Beza, du hoͤrſt die 


Landesverwandtſchaft heraus. Und dann haben wir flußauf⸗ 
waͤrts am Bollwerk — das iſt naͤmlich der Kai, wo die Schiffe 
liegen — einen Goldſchmied namens Stedingk, der aus einer 
alten ſchwediſchen Familie ſtammt; ja, ich glaube, es gibt ſogar 
Reichsgrafen, die ſo heißen, und des weiteren, und damit will 
ich dann vorläufig abſchließen, haben wir den guten alten Dok⸗ 
tor Hannemann, der natuͤrlich ein Daͤne iſt und lange in Is⸗ 
land war und ſogar ein kleines Buch geſchrieben hat uͤber den 
letzten Ausbruch des Hekla oder Krabla.“ 

„Das iſt ja aber großartig, Geert. Das iſt ja wie ſechs 
Romane, damit kann man ja gar nicht fertig werden. Es 


170 


klingt erſt ſpießbuͤrgerlich und iſt doch hinterher ganz apart. 
Und dann müßt ihr ja doch auch Menſchen haben, ſchon weil 
es eine Seeſtadt iſt, die nicht bloß Chirurgen oder Barbiere 
ſind oder ſonſt dergleichen. Ihr muͤßt doch auch Kapitaͤne 
haben, irgendeinen fliegenden Holländer oder ...“ 

„Da haſt du ganz recht. Wir haben ſogar einen Kapitaͤn, der 
war Seeraͤuber unter den Schwarzflaggen.“ 

„Kenn ich nicht. Was ſind Schwarzflaggen?“ 

„Das ſind Leute weit dahinten in Tonkin und an der Suͤd⸗ 
fee... Seit er aber wieder unter Menſchen iſt, hat er auch 

wieder die beſten Formen und iſt ganz unterhaltlich.“ 

„Ich wuͤrde mich aber doch vor ihm fuͤrchten.“ 

„Was du nicht noͤtig haſt, zu keiner Zeit und auch dann nicht, 
wenn ich uͤber Land bin oder zum Tee beim Fuͤrſten, denn zu 
allem anderen, was wir haben, haben wir ja Gott ſei Dank 
auch Rollo ...“ 

„Rollo?“ 

„Ja, Rollo. Du denkſt dabei, vorausgeſetzt, daß du bei 
Niemeyer oder Jahnke von dergleichen gehoͤrt haſt, an den 
Normannenherzog, und unſerer hat auch ſo was. Es iſt aber 
bloß ein Neufundlaͤnder, ein wunderſchoͤnes Tier, das mich 
liebt und dich auch lieben wird. Denn Rollo iſt ein Kenner. 
Und ſolange du den um dich haſt, ſolange biſt du ſicher und kann 
nichts an dich heran, kein Lebendiger und kein Toter. Aber ſieh 
mal den Mond da druͤben. Iſt es nicht ſchoͤn?“ 

Effi, die, ſtill in ſich verſunken, jedes Wort halb aͤngſtlich, 
halb begierig eingeſogen hatte, richtete ſich jetzt auf und ſah 
nach rechts hinuͤber, wo der Mond, unter weißem, aber raſch 
hinſchwindendem Gewoͤlk, eben aufgegangen war. Kupfer⸗ 
farben ſtand die große Scheibe hinter einem Erlengehoͤlz und 
warf ihr Licht auf eine breite Waſſerflaͤche, die die Keſſine hier 
bildete. Oder vielleicht war es auch ſchon ein Haff, an dem das 
Meer draußen ſeinen Anteil hatte. 


171 


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Effi war wie benommen. „Ja, du haft recht, Geert, wie 
ſchoͤn; aber es hat zugleich ſo was Unheimliches. In Italien 
habe ich nie ſolchen Eindruck gehabt, auch nicht als wir von 
Meſtre nach Venedig hinuͤberfuhren. Da war auch Waſſer 
und Sumpf und Mondſchein, und ich dachte, die Bruͤcke wuͤrde 
brechen; aber es war nicht ſo geſpenſtig. Woran liegt es nur? 
Iſt es doch das Noͤrdliche?“ 

Innſtetten lachte. „Wir ſind hier fuͤnfzehn Meilen noͤrd⸗ 
licher als in Hohen⸗Cremmen, und eh der erſte Eisbaͤr kommt, 
mußt du noch eine Weile warten. Ich glaube, du biſt nervoͤs 
von der langen Reiſe und dazu das St.⸗Privatpanorama und 
die Geſchichte von dem Chineſen.“ 

„Du haſt mir ja gar keine erzaͤhlt.“ 

„Nein, ich hab ihn nur eben genannt. Aber ein Chineſe 
iſt ſchon an und für ſich eine Geſchichte ...“ 

„Ja,“ lachte ſie. 

„Und jedenfalls haſt du's bald uͤberſtanden. Siehſt du 
da vor dir das kleine Haus mit dem Licht? Es iſt eine Schmiede. 
Da biegt der Weg. Und wenn wir die Biegung gemacht 


haben, Sa ſiehſt du ſchon den Turm von Keſſin in oder richtiger a 


beide ..“ 

„Hat es denn zwei?“ 

„Ja, Keſſin nimmt ſich auf. Es hat jetzt auch eine katho⸗ 
liſche Kirche.“ 


Eine halbe Stunde ſpaͤter hielt der Wagen an der ganz 
am entgegengeſetzten Ende der Stadt gelegenen landraͤtlichen 
Wohnung, einem einfachen, etwas altmodiſchen Fachwerk 
hauſe, das mit ſeiner Front auf die nach den Seebaͤdern hinaus⸗ 
fuͤhrende Hauptſtraße, mit ſeinem Giebel aber auf ein zwiſchen 
der Stadt und den Duͤnen liegendes Waͤldchen, das die „Plan⸗ 
tage“ hieß, herniederblickte. Dies altmodiſche Fachwerkhaus 
war übrigens nur Innſtettens Privatwohnung, nicht das 


172 


* EN 3 u 7 
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- eigentliche Landratsamt, welches letztere, ſchraͤg Wender, 
an der anderen Seite der Straße lag. 

Kruſe hatte nicht noͤtig, durch einen dreimaligen Peitſchen⸗ 
knips die Ankunft zu vermelden; laͤngſt hatte man von Tuͤr und 
Fenſtern aus nach den Herrſchaften ausgeſchaut, und ehe noch 
der Wagen heran war, waren bereits alle Hausinſaſſen auf dem 
die ganze Breite des Buͤrgerſteiges einnehmenden Schwell⸗ 
ſtein verſammelt, vorauf Rollo, der im ſelben Augenblicke, wo 
der Wagen hielt, dieſen zu umkreiſen begann. Innſtetten war 
zunaͤchſt feiner jungen Frau beim Ausſteigen behilflich und 
ging dann, dieſer den Arm reichend, unter freundlichem Gruß 
an der Dienerſchaft voruͤber, die nun dem jungen Paare in den 
mit prächtigen alten Wandſchraͤnken umſtandenen Hausflur 
folgte. Das Hausmaͤdchen, eine huͤbſche, nicht mehr ganz 
jugendliche Perſon, der ihre ſtattliche Fuͤlle faſt ebenſo gut 
kleidete wie das zierliche Muͤtzchen auf dem blonden Haar, war 
der gnaͤdigen Frau beim Ablegen von Muff und Mantel be⸗ 
hilflich und buͤckte ſich eben, um ihr auch die mit Pelz gefuͤtterten 

Gummiſtiefel auszuziehen. Aber ehe ſie noch dazu kommen 
konnte, ſagte Innſtetten: „Es wird das beſte ſein, ich ſtelle 
dir gleich hier unſere geſamte Hausgenoſſenſchaft vor, mit 
Ausnahme der Frau Kruſe, die ſich — ich vermute ſie wieder 
bei ihrem unvermeidlichen ſchwarzen Huhn — nicht gerne 
ſehen laßt.” Alles lächelte. „Aber laſſen wir Frau Kruſe . 
Dies hier iſt mein alter Friedrich, der ſchon mit mir auf der 
Univerſitaͤt war... Nicht wahr, Friedrich, gute Zeiten das 
mals . .. und dies hier iſt Johanna, maͤrkiſche Lands maͤnnin 
von dir, wenn du, was aus Paſewalker Gegend ſtammt, noch 
fuͤr voll gelten laſſen willſt, und dies iſt Chriſtel, der wir mittags 
und abends unſer leibliches Wohl anvertrauen, und die zu 
kochen verſteht, das kann ich dir verſichern. Und dies hier iſt 
Rollo. Nun, Rollo, wie geht's?“ 

Rollo ſchien nur auf dieſe ſpezielle Anſprache gewartet zu 


173 


haben, denn im felben Augenblicke, wo er feinen Namen hörte, 
gab er einen Freudenblaff, richtete ſich auf und legte die Pfoten 
auf ſeines Herrn Schulter. 

„Schon gut, Rollo, ſchon gut. Aber ſieh da, das iſt die 
Frau; ich hab ihr von dir erzaͤhlt und ihr geſagt, daß du ein 
ſchoͤnes Tier ſeieſt und ſie ſchuͤtzen wuͤrdeſt.“ Und nun ließ 
Rollo ab und ſetzte ſich vor Innſtetten nieder, zugleich neu⸗ 
gierig zu der jungen Frau aufblickend. Und als dieſe ihm die 
Hand hinhielt, umſchmeichelte er ſie. 

Effi hatte waͤhrend dieſer Vorſtellungsſzene Zeit gefunden, 
ſich umzuſchauen. Sie war wie gebannt von allem, was ſie ſah, 
und dabei geblendet von der Fuͤlle von Licht. In der vorderen 
Flurhaͤlfte brannten vier, fünf Wandleuchter, die Leuchter ſelbſt 
ſehr primitiv, von bloßem Weißblech, was aber den Glanz und 
die Helle nur noch ſteigerte. Zwei mit roten Schleiern bedeckte 
Aſtrallampen, Hochzeitsgeſchent von Niemeyer, ſtanden auf 
einem zwiſchen zwei Eichenſchraͤnken angebrachten Klapptiſch, 
in Front davon das Teezeug, deſſen Laͤmpchen unter dem 
Keſſel ſchon angezuͤndet war. Aber noch viel, viel anderes und 
zum Teil ſehr Sonderbares kam zu dem allen hinzu. Quer 


uͤber den Flur fort liefen drei, die Flurdecke in ebenſo viele 


Felder teilende Balken; an dem vorderſten hing ein Schiff 
mit vollen Segeln, hohem Hinterdeck und Kanonenluken, 
waͤhrend weiterhin ein rieſiger Fiſch in der Luft zu ſchwimmen 
ſchien. Effi nahm ihren Schirm, den ſie noch in Haͤnden hielt, 
und ſtieß leis an das Ungetuͤm an, ſo daß es ſich in eine lang⸗ 
ſam ſchaukelnde Bewegung ſetzte. 

„Was iſt das, Geert?“ fragte ſie. 

„Das iſt ein Haifiſch.“ 

„Und ganz dahinten das, was ausſieht wie eine große Zi⸗ 
garre vor einem Tabafsladen?“ 


„Das iſt ein junges Krokodil. Aber das kannſt du dir alles 


morgen viel beſſer und genauer anſehen; jetzt komm und laß 


174 


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uns eine Taffe Tee nehmen. Denn trotz aller Plaids und Decken 
wirſt du gefroren haben. Es war zuletzt empfindlich kalt.“ 

Er bot nun Effi den Arm, und waͤhrend ſich die beiden 
Maͤdchen zuruͤckzogen und nur Friedrich und Rollo folgten, 
trat man, nach links hin, in des Hausherrn Wohn; und Ar⸗ 
beitszimmer ein. Effi war hier aͤhnlich uͤberraſcht wie draußen 
im Flur; aber ehe ſie ſich daruͤber aͤußern konnte, ſchlug Inn⸗ 
ſtetten eine Portiere zuruͤck, hinter der ein zweites größeres 
Zimmer, mit Blick auf Hof und Garten, gelegen war. „Das, 
Effi, iſt nun alſo dein. Friedrich und Johanna haben es, ſo gut 
es ging, nach meinen Anordnungen herrichten muͤſſen. Ich 
finde es ganz erträglich und würde mich freuen, wenn es dir 
auch gefiele.“ 

Sie nahm ihren Arm aus dem ſeinigen und hob ſich auf die 
Fußſpitzen, um ihm einen herzlichen Kuß zu geben. 

„Ich armes kleines Ding, wie du mich verwoͤhnſt. Dieſer 
Fluͤgel und dieſer Teppich, ich glaube gar, es iſt ein tuͤrkiſcher, 
und das Baſſin mit den Fiſchchen und dazu der Blumentiſch. 
Verwoͤhnung, wohin ich ſehe.“ 

„Ja, meine liebe Effi, das mußt du dir nun ſchon gefallen 
laſſen, dafür iſt man jung und huͤbſch und liebenswuͤrdig, 
was die Keſſiner wohl auch ſchon erfahren haben werden, Gott 
weiß woher. Denn an dem Blumentiſch wenigſtens bin ich 
unſchuldig. Friedrich, wo kommt der Blumentiſch her?“ 

„Apotheker Gies huͤbler . .. Es liegt auch eine Karte bei.“ 

„Ah, Gies huͤbler, Alonzo Gieshuͤbler,“ ſagte Innſtetten 
und reichte lachend und in beinahe ausgelaſſener Laune die 
Karte mit dem etwas fremdartig klingenden Vornamen zu 
Effi hinuͤber. „Gieshuͤbler, von dem hab ich dir zu erzaͤhlen 
vergeſſen — beilaͤufig, er fuͤhrt auch den Doktortitel, hat's 
aber nicht gern, wenn man ihn dabei nennt, das aͤrgere, ſo 
meint er, die richtigen Doktors bloß, und darin wird er wohl 
recht haben. Nun, ich denke, du wirſt ihn kennen lernen, und 


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zwar bald; er iſt unſere beſte Nummer hier, Schoͤngeiſt und 
Original und vor allem Seele von Menſch, was doch immer 
die Hauptſache bleibt. Aber laſſen wir das alles und ſetzen 
uns und nehmen unſern Tee. Wo ſoll es ſein? Hier bei dir 
oder drin bei mir? Denn eine weitere Wahl gibt es . Eng 
und klein iſt meine Huͤtte.“ 

Sie ſetzte ſich ohne Beſinnen auf ein kleines Eckſofa. „Heute 
bleiben wir hier, heute biſt du bei mir zu Gaſt. Oder lieber ſo: 
den Tee regelmaͤßig bei mir, das Fruͤhſtuͤck bei dir; dann kommt 
jeder zu ſeinem Recht, und ich bin neugierig, wo mir's am 
beſten gefallen wird.“ 

„Das iſt eine Morgen; und Abendfrage.“ 

„Gewiß. Aber wie ſie ſich ſtellt, oder richtiger, wie wir uns 
dazu ſtellen, das iſt es eben.“ 

Und ſie lachte und ſchmiegte ſich an ihn und wollte ihm 
die Hand kuͤſſen. 

„Nein, Effi, um Himmels willen nicht, nicht fo. Mir liegt 
nicht daran, die Reſpektsperſon zu ſein, das bin ich fuͤr die 
Keſſiner. Fuͤr dich bin ih...“ 

„Nun was?“ 

„Ach laß. Ich werde mich huͤten, es zu ſagen.“ 


Siebentes Kapitel 


Es war ſchon heller Tag, als Effi am andern Morgen er⸗ 
wachte. Sie hatte Muͤhe, ſich zurechtzufinden. Wo war ſie? 
Richtig, in Keſſin, im Hauſe des Landrats von Innſtetten, und 
ſie war ſeine Frau, Baronin Innſtetten. Und ſich aufrichtend, 
ſah ſie ſich neugierig um; am Abend vorher war ſie zu muͤde 
geweſen, um alles, was ſie da halb fremdartig, halb altmodiſch 
umgab, genauer in Augenſchein zu nehmen. Zwei Saͤulen 
ſtuͤtzten den Deckenbalken, und grüne Vorhänge ſchloſſen 


176 


den alkovenartigen Schlafraum, in welchem die Betten ſtan⸗ 

den, von dem Reſt des Zimmers ab; nur in der Mitte fehlte 
der Vorhang oder war zuruͤckgeſchlagen, was ihr von ihrem 
Bette aus eine bequeme Orientierung geſtattete. Da, zwiſchen 
den zwei Fenſtern, ſtand der ſchmale, bis hoch hinaufreichende 
Trumeau, waͤhrend rechts daneben, und ſchon an der Flur⸗ 
wand hin, der große ſchwarze Kachelofen aufragte, der noch 
(ſoviel hatte ſie ſchon am Abend vorher bemerkt) nach alter 
Sitte von außen her geheizt wurde. Sie fuͤhlte jetzt, wie ſeine 
Waͤrme heruͤberſtroͤmte. Wie ſchoͤn es doch war, im eigenen 
Hauſe zu ſein; ſoviel Behagen hatte ſie waͤhrend der ganzen 
Reiſe nicht empfunden, nicht einmal in Sorrent. 

Aber wo war Innſtetten? Alles ſtill um ſie her, niemand 
da. Sie hoͤrte nur den Ticktackſchlag einer kleinen Pendule 
und dann und wann einen dumpfen Ton im Ofen, woraus 
ſie ſchloß, daß vom Flur her ein paar neue Scheite nachgeſchoben 
wuͤrden. Allmaͤhlich entſann ſie ſich auch, daß Geert am 
Abend vorher von einer elektriſchen Klingel geſprochen hatte, 
nach der ſie denn auch nicht lange mehr zu ſuchen brauchte; 
dicht neben ihrem Kiſſen war der kleine weiße Elfenbeinknopf, 
auf den ſie nun leiſe druͤckte. 

Gleich danach erſchien Johanna. „Gnaͤdige Frau haben 
befohlen.“ 

„Ach, Johanna, ich glaube, ich habe mich verſchlafen. Es 
muß ſchon ſpaͤt ſein.“ 

„Eben neun.“ 

„Und der Herr .. .“ es wollt ihr nicht gluͤcken, fo ohne wei⸗ 
teres von ihrem „Manne“ zu ſprechen ... „der Herr, er muß 
ſehr leiſe gemacht haben; ich habe nichts gehoͤrt.“ 

„Das hat er gewiß. Und gnaͤdge Frau werden feſt gez 
ſchlafen haben. Nach der langen Reiſe ...“ 

„Ja, das hab ich. Und der Herr, iſt er immer fo früh auf?“ 

„Immer, gnaͤdge Frau. Darin iſt er ſtreng; er kann das 


IV 12 177 


lange Schlafen nicht leiden, und wenn er brüben In fein Zimmer 
tritt, da muß der Ofen warm fein, und der Kaffee darf auch 
nicht auf ſich warten laſſen.“ 

„Da hat er alſo ſchon gefruͤhſtuͤckt?“ 

„O, nicht doch, gnaͤdge Frau ... der gnaͤdge Herr ...“ 

Effi fuͤhlte, daß ſie die Frage nicht haͤtte tun und die Ver⸗ 
mutung, Innſtetten koͤnne nicht auf ſie gewartet haben, lieber 
nicht haͤtte ausſprechen ſollen. Es lag ihr denn auch daran, 
dieſen ihren Fehler ſo gut es ging wieder auszugleichen, und 
als ſie ſich erhoben und vor dem Trumeau Platz genommen 
hatte, nahm ſie das Geſpraͤch wieder auf und ſagte: „Der Herr 
hat uͤbrigens ganz recht. Immer fruͤh auf, das war auch Regel 
in meiner Eltern Hauſe. Wo die Leute den Morgen verſchlafen, 
da gibt es den ganzen Tag keine Ordnung mehr. Aber der 
Herr wird es ſo ſtreng mit mir nicht nehmen; eine ganze Weile 
hab ich dieſe Nacht nicht ſchlafen koͤnnen und habe mich ſogar 
ein wenig geaͤngſtigt.“ 

„Was ich hoͤren muß, gnaͤdge Frau! Was war es denn?“ 

„Es war uͤber mir ein ganz ſonderbarer Ton, nicht laut, 
aber doch ſehr eindringlich. Erſt klang es, wie wenn lange 
Schleppenkleider uͤber die Diele hinſchleiften, und in meiner 
Erregung war es mir ein paarmal, als ob ich kleine weiße 
Atlasſchuhe ſaͤhe. Es war, als tanze man oben, aber ganz 
leiſe.“ 

Johanna, waͤhrend das Geſpraͤch ſo ging, ſah uͤber die 
Schulter der jungen Frau fort in den hohen ſchmalen Spiegel 
hinein, um die Mienen Effis beſſer beobachten zu koͤnnen. Dann 
ſagte ſie: „Ja, das iſt oben im Saal. Fruͤher hoͤrten wir es 
in der Kuͤche auch. Aber jetzt hoͤren wir es nicht mehr; wir 
haben uns daran gewoͤhnt.“ 

„Iſt es denn etwas Beſonderes damit?“ 

„O, Gott bewahre, nicht im geringſten. Eine Weile wußte 
man nicht recht, woher es kaͤme, und der Herr Prediger machte 


. 


178 


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+ . 


ein verlegenes Geſicht, trotzdem Doktor Gies huͤbler immer 
nur daruͤber lachte. Nun aber wiſſen wir, daß es die Gar⸗ 
dinen ſind. Der Saal iſt etwas multrig und ſtockig und des⸗ 
halb ſtehen immer die Fenſter auf, wenn nicht gerade Sturm 
iſt. Und da iſt denn faſt immer ein ſtarker Zug oben und fegt 
die alten, weißen Gardinen, die außerdem viel zu lang ſind, 
über die Dielen hin und her. Das klingt dann ſo wie ſeidne 
Kleider, oder auch wie Atlasſchuhe, wie die gnaͤdge Frau eben 
bemerkten.“ 

„Natuͤrlich iſt es das. Aber ich begreife nur nicht, warum 
dann die Gardinen nicht abgenommen werden. Oder man 
koͤnnte fie ja kurzer machen. Es iſt ein fo ſonderbares Geraͤuſch, 
das einem auf die Nerven faͤllt. Und nun, Johanna, bitte, 
geben Sie mir noch das kleine Tuch und tupfen Sie mir die 
Stirn. Oder nehmen Sie lieber den Rafraichiſſeur aus meiner 
Reiſetaſche ... Ach, das iſt ſchoͤn und erfriſcht mich. Nun werde 
ich hinuͤbergehen. Er iſt doch noch da, oder war er ſchon aus?“ 

„Der gnaͤdge Herr war ſchon aus, ich glaube druͤben auf 
dem Amt. Aber ſeit einer Viertelſtunde iſt er zuruͤck. Ich werde 
Friedrich ſagen, daß er das Fruͤhſtuͤck bringt.“ 

Und damit verließ Johanna das Zimmer, waͤhrend Effi 
noch einen Blick in den Spiegel tat und dann uͤber den Flur 
fort, der bei der Tagesbeleuchtung viel von ſeinem Zauber vom 
Abend vorher eingebüßt hatte, bei Geert eintrat. ä 

Dieſer ſaß an ſeinem Schreibtiſch, einem etwas ſchwer⸗ 
fälligen Zylinderbureau, das er aber, als Erbſtuͤck aus dem 
elterlichen Hauſe, nicht miſſen mochte. Effi ſtand hinter ihm 

und umarmte und kuͤßte ihn, noch eh er ſich von lesen, Platz 
erheben konnte. 

„Schon?“ 

„Schon, ſagſt du. Natuͤrlich um mich zu verſpotten.“ 

Innſtetten ſchuͤttelte den Kopf. „Wie werd ich das?“ Effi 
fand aber ein Gefallen daran, ſich anzuklagen, und wollte 


12% 179 


: 
von den Verſicherungen ihres Mannes, daß fein „ſchon“ ganz f 
aufrichtig gemeint geweſen ſei, nichts hoͤren. „Du mußt noch 
von der Reiſe her wiſſen, daß ich morgens nie habe warten 
laſſen. Im Laufe des Tages, nun ja, da iſt es etwas anderes. 
Es iſt wahr, ich bin nicht ſehr puͤnktlich, aber ich bin keine Lang⸗ 
ſchlaͤferin. Darin, denk ich, haben mich die Eltern gut er⸗ 
zogen.“ 

„Darin? In allem, meine ſuͤße Effi.“ 

„Das ſagſt du ſo, weil wir noch in den Flitterwochen ſind, 
. . aber nein, wir find ja ſchon heraus. Ums Himmels willen, 
Geert, daran habe ich noch gar nicht gedacht, wir ſind ja ſchon 
uͤber ſechs Wochen verheiratet, ſechs Wochen und einen Tag. 
Ja, das iſt etwas anderes; da nehme ich es nicht mehr als 
Schmeichelei, da nehme ich es als Wahrheit.“ 

In dieſem Augenblicke trat Friedrich ein und brachte den 
Kaffee. Der Fruͤhſtuͤckstiſch ſtand in Schraͤglinie vor einem 
kleinen rechtwinkligen Sofa, das gerade die eine Ecke des Wohn⸗ 
zimmers ausfuͤllte. Hier ſetzten fich beide. 

„Der Kaffee iſt ja vorzüglich,” ſagte Effi, während fie zus 
gleich das Zimmer und ſeine Einrichtung muſterte. „Das 
iſt noch Hotelkaffee oder wie der bei Bottegone ... erinnerſt 
du dich noch, in Florenz, mit dem Blick auf den Dom. Davon 
muß ich der Mama ſchreiben, ſolchen Kaffee haben wir in Hohen⸗ 
Cremmen nicht. Überhaupt, Geert, ich ſehe nun erſt, wie vor; 
nehm ich mich verheiratet habe. Bei uns konnte alles nur ſo 
gerade paſſieren.“ 

„Torheit, Effi. Ich habe nie eine beſſere Hausfuͤhrung 
geſehen als bei euch.“ 

„Und dann, wie du wohnſt. Als Papa ſich den neuen Ge⸗ 
wehrſchrank angeſchafft und uͤber ſeinem Schreibtiſch einen 
Buͤffelkopf und dicht darunter den alten Wrangel angebracht 
hatte (er war naͤmlich mal Adjutant bei dem Alten), da dacht 
er Wunder, was er getan; aber wenn ich mich hier umſehe, da⸗ 


180 


neben iſt unfere ganze Hohen⸗Cremmener Herrlichkeit ja bloß 
dürftig und alltäglich. Ich weiß gar nicht, womit ich das alles 
vergleichen ſoll; ſchon geſtern abend, als ich nur ſo fluͤchtig 
daruͤber hinſah, kamen mir allerhand Gedanken.“ 

„Und welche, wenn ich fragen darf?“ 

„Ja, welche. Du darfſt aber nicht druͤber lachen. Ich habe 
mal ein Bilderbuch gehabt, wo ein perſiſcher oder indiſcher Fuͤrſt 
(denn er trug einen Turban) mit untergeſchlagenen Beinen 
auf einem roten Seidenkiſſen ſaß, und in ſeinem Ruͤcken war 
außerdem noch eine große rote Seidenrolle, die links und rechts 
ganz bauſchig zum Vorſchein kam, und die Wand hinter dem 
indiſchen Fuͤrſten ſtarrte von Schwertern und Dolchen und 
Parderfellen und Schilden und langen tuͤrkiſchen Flinten. 
Und ſieh, ganz ſo ſieht es hier bei dir aus, und wenn du noch 
die Beine unterfchlägft, iſt die Ahnlichkeit vollkommen.“ 

„Effi, du biſt ein entzuͤckendes, liebes Geſchoͤpf. Du weißt 
gar nicht, wie ſehr ich's finde und wie gern ich dir in jedem 
Augenblicke zeigen moͤchte, daß ich's finde.“ 

„Nun, dazu iſt ja noch vollauf Zeit; ich bin ja erſt ſiebzehn 
und habe noch nicht vor, zu ſterben.“ 

„Wenigſtens nicht vor mir. Freilich, wenn ich dann ſtuͤrbe, 
naͤhme ich dich am liebſten mit. Ich will dich keinem andern 
laſſen; was meinſt du dazu?“ 

„Das muß ich mir doch noch uͤberlegen. Oder lieber, laſſen 
wir's uͤberhaupt. Ich ſpreche nicht gern von Tod, ich bin fuͤr 
Leben. Und nun ſage mir, wie leben wir hier? Du haſt mir 
unterwegs allerlei Sonderbares von Stadt und Land erzaͤhlt, 
aber wie wir ſelber hier leben werden, davon kein Wort. Daß 
hier alles anders iſt als in Hohen⸗Cremmen und Schwantikow, 
das ſeh ich wohl, aber wir muͤſſen doch in dem ‚guten Keffin‘, 
wie du's immer nennſt, auch etwas wie Umgang und Geſell⸗ 
ſchaft haben koͤnnen. Habt ihr denn Leute von Familie in der 
Stadt?“ 


181 


Ben Br 


„Nein, meine liebe Effi; nach dieſer Seite hin gehſt du 
großen Enttaͤuſchungen entgegen. In der Naͤhe haben wir ein 
paar Adlige, die du kennen lernen wirſt, aber hier in der Stadt 
iſt gar nichts.“ 

„Gar nichts? das kann ich nicht glauben. Ihr ſeid boch bis 
zu dreitauſend Menſchen, und unter dreitauſend Menſchen muß 
es doch außer ſo kleinen Leuten wie Barbier Beza (ſo hieß er 
ja wohl) doch auch noch eine Elite geben, Honoratioren oder 
dergleichen.“ b 

Innſtetten lachte. „Ja, Honoratioren, die gibt es. Aber 
bei Lichte beſehen, iſt es nicht viel damit. Natürlich haben wir 
einen Prediger und einen Amtsrichter und einen Rektor und 
einen Lotſenkommandeur, und von ſolchen beamteten Leuten 
findet ſich ſchließlich wohl ein ganzes Dutzend zuſammen, aber 


die meiſten davon: gute Menſchen und ſchlechte Muſikanten. 


Und was dann noch bleibt, das ſind bloß Konſuln.“ 

„Bloß Konſuln. Ich bitte dich, Geert, wie kannſt du nur 
fagen ‚bloß Konfuln‘. Das iſt doch etwas ſehr Hohes und großes 
und ich moͤcht beinah ſagen Furchtbares. Konſuln, das ſind 
doch die mit dem Rutenbuͤndel, draus, glaub ich, ein Beil 
herausſah.“ 

„Nicht ganz, Effi. Die heißen Liktoren.“ 

„Richtig, die heißen Liktoren. Aber Konſuln iſt doch auch 
etwas ſehr Vornehmes und d Hochgeſetzliches. Brutus war doch 
ein Konſul.“ 

„Ja, Brutus war ein Konſul. Aber unſere ſind ihm nicht 
ſehr aͤhnlich und begnuͤgen ſich damit, mit Zucker und Kaffee 
zu handeln oder eine Kiſte mit Apfelſinen aufzubrechen und 
verkaufen dir dann das Stuͤck pro zehn Pfennige.“ 

„Nicht moͤglich.“ 

„Sogar gewiß. Es ſind kleine, pfiffige Kaufleute, die, wenn 
fremdlaͤndiſche Schiffe hier einlaufen und in irgendeiner Ges 
ſchaͤftsfrage nicht recht aus noch ein wiſſen, die dann mit ihrem 


182 


| 


Mate zur Hand find, und wenn fie dieſen Rat gegeben und irgend, 


einem hollaͤndiſchen oder portugieſiſchen Schiff einen Dienſt 
geleiſtet haben, ſo werden ſie zuletzt zu beglaubigten Vertretern 
ſolcher fremder Staaten, und gerade ſo viele Botſchafter und 
Geſandte, wie wir in Berlin haben, fo viele Konſuln haben wir 
auch in Keſſin, und wenn irgendein Feſttag iſt, und es gibt hier 
viel Feſttage, dann werden alle Wimpel gehißt, und haben wir 
gerad eine grelle Morgenſonne, ſo ſiehſt du an ſolchem Tage 
ganz Europa von unſern Daͤchern flaggen und das Sternen⸗ 
banner und den chineſiſchen Drachen dazu.“ 

„Du biſt in einer ſpoͤttiſchen Laune, Geert, und magſt 
auch wohl recht haben. Aber ich, fuͤr meine kleine Perſon, muß 
dir geſtehen, daß ich dies alles entzuͤckend finde und daß unſere 
havellaͤndiſchen Staͤdte daneben verſchwinden. Wenn ſie da 
Kaiſers Geburtstag feiern, ſo flaggt es immer bloß ſchwarz 
und weiß und allenfalls ein bißchen rot dazwiſchen, aber das 
kann ſich doch nicht vergleichen mit der Welt von Flaggen, von 
der du ſprichſt. Überhaupt, wie ich dir ſchon ſagte, ich finde 
immer wieder und wieder, es hat alles ſo was Fremdlaͤndiſches 
hier, und ich habe noch nichts gehoͤrt und geſehen, was mich 
nicht in eine gewiſſe Verwunderung geſetzt haͤtte, gleich geſtern 
abend das merkwuͤrdige Schiff draußen im Flur und dahinter 
der Haifiſch und das Krokodil und hier dein eigenes Zimmer. 
Alles ſo orientaliſch, und ich muß es wiederholen, alles wie bei 
einem indiſchen Fuͤrſten ...“ 

„Meinetwegen. Ich gratuliere, Fuͤrſtin ...“ 

„Und dann oben der Saal mit ſeinen langen Gardinen, 
die über die Diele hinfegen.“ 

„Aber was weißt du denn von dem Saal, Effi?“ 

„Nichts, als was ich dir eben geſagt habe. Wohl eine 
Stunde lang, als ich in der Nacht aufwachte, war es mir, als 
ob ich Schuhe auf der Erde ſchleifen hoͤrte und als wuͤrde 
getanzt und faſt auch wie Muſik. Aber alles ganz leiſe. Und 


183 


das hab ich dann heute früh an Johanna erzählt, bloß um mich 
zu entſchuldigen, daß ich hinterher ſo lange geſchlafen. Und da 
ſagte ſie mir, daß ſei von den langen Gardinen oben im Saal. 
Ich denke, wir machen kurzen Prozeß damit und ſchneiden die 
Gardinen etwas ab oder ſchließen wenigſtens die Fenſter; es 
wird ohnehin bald ſtuͤrmiſch genug werden. Mitte November 
iſt ja die Zeit.“ 


Innſtetten ſah in einer kleinen Verlegenheit vor ſich hin 


und ſchien ſchwankend, ob er auf all das antworten ſolle. Schließ⸗ 
lich entſchied er ſich für Schweigen. „Du haſt ganz recht, Effi, 
wir wollen die langen Gardinen oben kuͤrzer machen. Aber es 
eilt nicht damit, um ſo weniger, als es nicht ſicher iſt, ob es hilft. 
Es kann auch was anderes ſein, im Rauchfang, oder der Wurm 
im Holz oder ein Iltis. Wir haben naͤmlich hier Iltiſſe. Jeden⸗ 


falls aber, eh wir Anderungen vornehmen, mußt du dich in 


unſerem Hausweſen erſt umſehen, natuͤrlich unter meiner 
Fuͤhrung; in einer Viertelſtunde zwingen wir's. Und dann 
machſt du Toilette, nur ein ganz klein wenig, denn eigentlich 


biſt du ſo am reizendſten — Toilette fuͤr unſeren Freund Gies⸗ 


huͤbler; es iſt jetzt zehn voruͤber, und ich muͤßte mich ſehr in ihm 
irren, wenn er nicht um elf oder doch ſpaͤteſtens um die Mittags⸗ 
ſtunde hier antreten und dir ſeinen Reſpekt devoteſt zu Fuͤßen 
legen ſollte. Das iſt naͤmlich die Sprache, drin er ſich ergeht. 
Übrigens, wie ich dir ſchon ſagte, ein kapitaler Mann, der dein 
Freund werden wird, wenn ich ihn und dich recht kenne.“ 


Achtes Kapitel 


Elf war es längft vorüber; aber Gieshuͤbler hatte ſich noch 


immer nicht ſehen laſſen. „Ich kann nicht laͤnger warten,“ 


hatte Geert geſagt, den der Dienſt abrief. „Wenn Gieshuͤbler 
noch erſcheint, fo ſei moͤglichſt entgegenkommend, dann wird 


184 


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es vorzüglich gehen; er darf nicht verlegen werden; iſt er bes 
fangen, ſo kann er kein Wort finden oder ſagt die ſonderbarſten 
Dinge; weißt du ihn aber in Zutrauen und gute Laune zu 
bringen, dann redet er wie ein Buch. Nun, du wirſt es ſchon 
machen. Erwarte mich nicht vor drei; es gibt druͤben allerlei 
zu tun. Und das mit dem Saal oben wollen wir noch uͤber⸗ 
legen; es wird aber wohl am beſten ſein, wir laſſen es beim 
alten.“ 3 

Damit ging Innſtetten und ließ feine junge Frau allein. 


Diefe ſaß, etwas zurückgelehnt, in einem lauſchigen Winken 


am Fenſter und ſtuͤtzte ſich, waͤhrend ſie hinausſah, mit ihrem 
linken Arm auf ein kleines Seitenbrett, das aus dem Zylinder⸗ 
bureau herausgezogen war. Die Straße war die Hauptver⸗ 
kehrsſtraße nach dem Strande hin, weshalb denn auch in 
Sommerzeit ein reges Leben hier herrſchte, jetzt aber, um Mitte 
November, war alles leer und ſtill, und nur ein paar arme 
Kinder, deren Eltern in etlichen ganz am aͤußerſten Rande der 
„Plantage“ gelegenen Strohdachhaͤuſern wohnten, klappten 
in ihren Holzpantinen an dem Innſtettenſchen Hauſe voruͤber. 
Effi empfand aber nichts von dieſer Einſamkeit, denn ihre 


Phantaſie war noch immer bei den wunderlichen Dingen, die 


ſie, kurz vorher, waͤhrend ihrer Umſchau haltenden Muſterung 
im Haufe geſehen hatte. Dieſe Muſterung hatte mit der Küche 
begonnen, deren Herd eine moderne Konſtruktion aufwies, 
waͤhrend an der Decke hin, und zwar bis in die Maͤdchenſtube 
hinein, ein elektriſcher Draht lief — beides vor kurzem erſt her⸗ 
gerichtet. Effi war erfreut geweſen, als ihr Innſtetten davon 
erzaͤhlt hatte, dann aber waren ſie von der Kuͤche wieder in den 
Flur zuruͤck⸗ und von dieſem in den Hof hinausgetreten, der 
in ſeiner erſten Haͤlfte nicht viel mehr als ein zwiſchen zwei 
Seitenfluͤgeln hinlaufender ziemlich ſchmaler Gang war. In 
dieſen Fluͤgeln war alles untergebracht, was ſonſt noch zu Haus⸗ 
halt und Wirtſchaftsfuͤhrung gehörte, rechts Maͤdchenſtube, 


185 


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9 


Bedientenſtube, Rollkammer, links eine zwiſchen Pferdeſtall 


und Wagenremiſe gelegene, von der Familie Kruſe bewohnte 
Kutſcherwohnung. Über dieſer, in einem Verſchlage, waren die 
Huͤhner einlogiert, und eine Dachklappe uͤber dem Pferdeſtall 
bildete den Aus, und Einſchlupf für d die Tauben. All dies hatte 
Er Effi mit vielem Intereſſe angeſehen, al aber dies Intereſſe 
ſah ſich doch weit überholt, als fie, nach ihrer Ruͤckkehr vom 
Hof ins Vorderhaus, unter Innſtettens Fuͤhrung die nach 


oben fuͤhrende Treppe hinaufgeſtiegen war. Dieſe war ſchief, 


baufaͤllig, dunkel; der Flur dagegen, auf den ſie muͤndete, 
wirkte beinah heiter, weil er viel Licht und einen guten land⸗ 
ſchaftlichen Ausblick hatte: nach der einen Seite hin, uͤber die 
Daͤcher des Stadtrandes und die „Plantage“ fort, auf eine 


hoch auf einer Düne ſtehende hollaͤndiſche Windmühle, nach 
der anderen Seite hin auf die Keſſine, die hier, unmittelbar 


vor ihrer Einmündung, ziemlich breit war und einen ſtatt⸗ 
lichen Eindruck machte. Dieſem Eindruck konnte man ſich un⸗ 


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möglich entziehen, und Effi hatte denn auch nicht geſaͤumt, IR 


ihrer Freude lebhaften Ausdruck zu geben. „Sa, ſehr Thon, 10 3 


ſehr maleriſch,“ hatte Innſtetten, ohne weiter darauf einzu⸗ 
gehen, geantwortet, und dann eine mit ihren Fluͤgeln etwas 
ſchief haͤngende Doppeltür geöffnet, die nach rechts hin in den 
ſogenannten Saal führte, Dieſer lief durch die ganze Etage; 
Vorder- und Hinterfenſter ſtanden auf, und die mehr erwaͤhn⸗ 
ten langen Gardinen bewegten ſich in dem ſtarken Luftzuge hin 
und her. In der Mitte der einen Laͤngswand ſprang ein Ka⸗ 
min vor mit einer großen Steinplatte, waͤhrend an der Wand 
gegenuͤber ein paar blecherne Leuchter hingen, jeder mit zwei 
Lichtoͤffnungen, ganz fo wie unten im Flur, aber alles ſtumpf 


und ungepflegt. Effi war einigermaßen enttaͤuſcht, ſprach es 


auch aus und erklaͤrte, ſtatt des oͤden und aͤrmlichen Saals 
doch lieber die Zimmer an der gegenuͤbergelegenen Flurſeite 
ſehen zu wollen. „Da iſt nun eigentlich vollends nichts,“ hatte 


186 


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22 


Innſtetten geantwortet, aber doch die Tuͤren geoͤffnet. Es 
befanden ſich hier vier einfenſtrige Zimmer, alle gelb getuͤncht 
gerade wie der Saal, und ebenfalls ganz leer. Nur in einem 
ſtanden drei Binſenſtuͤhle, die durchgeſeſſen waren, und an die 
Lehne des einen war ein kleines, nur einen halben Finger langes 
Bildchen geklebt, das einen Chineſen darſtellte, blauer Rock mit 
gelben Pluderhoſen und einen flachen Hut auf dem Kopf. Effi 
ſah es und ſagte: „Was ſoll der Chineſe?“ Innſtetten ſelber 
ſchien von dem Bildchen uͤberraſcht und verſicherte, daß er es 
nicht wiſſe. „Das hat Chriſtel angeklebt oder Johanna. Spie⸗ 
lerei. Du kannſt ſehen, es iſt aus einer Fibel herausgeſchnitten.“ 
Effi fand es auch und war nur verwundert, daß Innſtetten 
alles ſo ernſthaft nahm, als ob es doch etwas ſei. Dann hatte 
ſie noch einmal einen Blick in den Saal getan und ſich dabei 
dahin geaͤußert, wie es doch eigentlich ſchade ſei, daß das alles 
leer ſtehe. „Wir haben unten ja nur drei Zimmer, und wenn 
uns wer beſucht, ſo wiſſen wir nicht aus, noch ein. Meinſt du 
nicht, daß man aus dem Saal zwei huͤbſche Fremdenzimmer 
machen könnte? Das wäre fo was für die Mama; nach hinten 
heraus koͤnnte ſie ſchlafen und haͤtte den Blick auf den Fluß 
und die beiden Molen, und vorn haͤtte ſie die Stadt und die 
hollaͤndiſche Windmuͤhle. In Hohen⸗Cremmen haben wir 
noch immer bloß eine Bockmuͤhle. Nun ſage, was meinſt du da⸗ 
zu? Naͤchſten Mai wird doch die Mama wohl kommen.“ 

Innſtetten war mit allem einverſtanden geweſen und hatte 
nur zum Schluſſe geſagt: „Alles ganz gut. Aber es iſt doch 
am Ende beſſer, wir logieren die Mama druͤben ein, auf dem 
Landratsamt; die ganze erſte Etage ſteht da leer, gerade ſo wie 
hier, und ſie iſt da noch mehr fuͤr ſich.“ 


Das war ſo das Reſultat des erſten Umgangs im Harſe 
geweſen; dann hatte Effi druͤben ihre Toilette gemacht, nicht 
ganz ſo ſchnell wie Innſtetten angenommen, und nun ſaß ſie 


187 


in ihres Gatten Zimmer und beſchaͤftigte fih in ihren Ge⸗ 
dankend abwechſelnd mit dem kleinen Chineſen oben und mit 
Gieshuͤbler, der noch immer nicht kam. Vor einer Viertel⸗ 


ſtunde war freilich ein kleiner, ſchiefſchultriger und faſt ſchon 
ſo gut wie verwachſener Herr in einem kurzen eleganten Pelz⸗ 


rock und einem hohen, ſehr glatt gebuͤrſteten Zylinder an der 
anderen Seite der Straße vorbeigegangen und hatte nach 
ihrem Fenſter hinuͤbergeſehen. Aber das konnte Gies huͤbler 
wohl nicht geweſen ſein! Nein, dieſer ſchiefſchultrige Herr, der 
zugleich etwas ſo Diſtinguiertes hatte, das mußte der Herr 


Gerichtspraͤſident geweſen fein, und fie entſann ſich auch wirk⸗ * 


lich, in einer Geſellſchaft bei Tante Thereſe, mal einen ſolchen 
geſehen zu haben, bis ihr mit einem Male einfiel, daß Keſſin 
bloß einen Amtsrichter habe. 

Waͤhrend ſie dieſen Betrachtungen noch nachhing, wurde 
der Gegenſtand derſelben, der augenſcheinlich erſt eine Morgen⸗ 
oder vielleicht auch eine Ermutigungspromenade um die Plan⸗ 
tage herum gemacht hatte, wieder ſichtbar, und eine Minute 
ſpaͤter erſchien Friedrich, um Apotheker Gieshuͤbler anzu⸗ 
melden. 

„Ich laſſe ſehr bitten. 1 

Der armen jungen Frau ſchlug das Herz, weil es das erſte⸗ 
mal war, daß ſie ſich als Hausfrau und noch dazu als erſte 
Frau der Stadt zu zeigen hatte. 

Friedrich half Gieshuͤbler den Pelzrock ablegen und oͤffnete 
dann wieder die Tuͤr. 


Effi reichte dem verlegen Eintretenden die Hand, die dieſer 
mit einem gewiſſen Ungeſtuͤm kuͤßte. Die junge Frau ſchien 


ſofort einen großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. 

„Mein Mann hat mir bereits geſagt ... Aber ich empfange 
Sie hier in meines Mannes Zimmer .. er iſt drüben auf dem 
Amt und kann jeden Augenblick zurüd fein... Darf ich Sie 
bitten, bei mir eintreten zu wollen?“ 


188 


Gieshuͤbler folgte der voranſchreitenden Effi ins Neben⸗ 
immer, wo dieſe auf einen der Fauteuils wies, waͤhrend fie 
ſich ſelbſt ins Sofa ſetzte. „Daß ich Ihnen ſagen koͤnnte, welche 
Freude Sie mir geſtern durch die ſchoͤnen Blumen und Ihre 
Karte gemacht haben. Ich hoͤrte ſofort auf, mich hier als eine 
Fremde zu fuͤhlen, und als ich dies Innſtetten ausſprach, ſagte 
er mir, wir wuͤrden uͤberhaupt gute Freunde ſein.“ 

„Sagte er ſo? Der gute Herr Landrat. Ja, der Herr Land⸗ 
rat und Sie, meine gnaͤdigſte Frau, da ſind, das bitte ich ſagen 
zu duͤrfen, zwei liebe Menſchen zueinander gekommen. Denn 
wie Ihr Herr Gemahl iſt, das weiß ich, und wie Sie ſind, meine 
gnaͤdigſte Frau, das ſehe ich.“ 

„Wenn Sie nur nicht mit zu l Augen ſehen. 
Ich bin fo ſehr jung. Und Jugend...“ 

„Ach, meine gnaͤdigſte Frau, ſagen Sie nichts gegen die 
Jugend. Die Jugend, auch in ihren Fehlern iſt ſie noch ſchoͤn 
und liebenswuͤrdig, und das Alter, auch in ſeinen Tugenden 
taugt es nicht viel. Perſoͤnlich kann ich in dieſer Frage freilich 
nicht mitſprechen, vom Alter wohl, aber von der Jugend nicht, 
denn ich bin eigentlich nie jung geweſen. Perſonen meines 
Schlages ſind nie jung. Ich darf wohl ſagen, das iſt das trau⸗ 
rigſte von der Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat 
kein Vertrauen zu ſich ſelbſt, man wagt kaum, eine Dame zum 
Tanz aufzufordern, weil man ihr eine Verlegenheit erſparen 
will, und ſo gehen die Jahre hin, und man wird alt, und das 
Leben war arm und leer.“ 

Effi gab ihm die Hand. „Ach, Sie duͤrfen ſo was nicht ſagen. 
Wir Frauen ſind gar nicht ſo ſchlecht.“ 

„O, nein, gewiß nicht ...“ 

„Und wenn ich mir ſo zuruͤckrufe,“ fuhr Effi fort, „was 
ich alles erlebt habe .. viel iſt es nicht, denn ich bin wenig 
herausgekommen und habe faſt immer auf dem Lande gelebt 
... aber wenn ich es mir zuruͤckrufe, fo finde ich doch, daß wir 


189 


immer das lieben, was liebenswert iſt. Und dann ſehe ich doch 


auch gleich, daß Sie anders ſind als andere, dafuͤr haben wir 
Frauen ein ſcharfes Auge. Vielleicht iſt es auch der Name, der 
in Ihrem Falle mitwirkt. Das war immer eine Lieblings⸗ 
behauptung unſeres alten Paſtors Niemeyer; der Name, ſo 
liebte er zu ſagen, beſonders der Taufname, habe was geheimnis⸗ 
voll Beſtimmendes, und Alonzo Gieshuͤbler, ſo mein ich, ſchließt 
eine ganz neue Welt vor einem auf, ja, faſt moͤcht ich ſagen 
dürfen, Alonzo iſt ein romantiſcher Name, ein Prezioſaname.“ 

Gieshuͤbler laͤchelte mit einem ganz ungemeinen Behagen 
und fand den Mut, feinen für feine Verhaͤltniſſe viel zu hohen 
Zylinder, den er bis dahin in der Hand gedreht hatte, beiſeite 
zu ſtellen. „Ja, meine gnaͤdigſte Frau, da treffen Sie's.“ 

„O, ich verſtehe. Ich habe von den Konſuln gehoͤrt, deren 
Keſſin ſo viele haben ſoll, und in dem Hauſe des ſpaniſchen 
Konſuls hat Ihr Herr Vater mutmaßlich die Tochter eines 
ſeemaͤnniſchen Kapitanos kennen gelernt, wie ich annehme 
irgendeine ſchoͤne Andaluſierin. Andaluſierinnen ſind immer 
ſchoͤn.“ 

„Ganz wie Sie vermuten, meine Gnaͤdigſte. Und meine 
Mutter war wirklich eine ſchoͤne Frau, ſo ſchlecht es mir per⸗ 
ſoͤnlich zuſteht, die Beweisfuͤhrung zu uͤbernehmen. Aber als 
Ihr Herr Gemahl vor drei Jahren hierher kam, lebte ſie noch 
und hatte noch ganz die Feueraugen. Er wird es mir beſtaͤtigen. 
Ich perſoͤnlich bin mehr ins Gieshuͤblerſche geſchlagen, Leute von 
wenig Exterieur, aber ſonſt leidlich im Stande. Wir ſitzen hier 
ſchon in der vierten Generation, volle hundert Jahre, und 
wenn es einen Apothekeradel gäbe...“ 8 

„So wuͤrden Sie ihn beanſpruchen duͤrfen. Und ich meiner⸗ 


ſeits nehme ihn für bewieſen an und ſogar fuͤr bewieſen ohne 
jede Einſchraͤnkung. Uns, aus den alten Familien, wird das 


am leichteſten, weil wir, ſo wenigſtens bin ich von meinem 
Vater und auch von meiner Mutter her erzogen, jede gute Ge⸗ 


190 


8 


ſinnung, ſie komme woher ſie wolle, mit Freudigkeit gelten 

laſſen. Ich bin eine geborene Brieſt und ſtamme von dem 

Brieſt ab, der, am Tage vor der Fehrbelliner Schlacht, den 
Überfall von Rathenow ausfuͤhrte, wovon Sie vielleicht ein⸗ 
mal gehört haben..“ 

„O, gewiß, meine Gnaͤdigſte, das iſt ja meine Spezialitaͤt.“ 

„Eine Brieſt alſo. Und mein Vater, da reichen keine hun⸗ 
dert Male, daß er zu mir geſagt hat: Effi (ſo heiße ich naͤmlich), 
Effi, hier ſitzt es, bloß hier, und als Froben das Pferd tauſchte, 
da war er von Adel, und als Luther ſagte ‚hier ſtehe ich‘, da 
war er erſt recht von Adel. Und ich denke, Herr Gieshuͤbler, 
Innſtetten hatte ganz recht, als er mir verſicherte, wir wuͤrden 
gute Freundſchaft halten.“ 

Gieshuͤbler haͤtte nun am liebſten gleich eine Liebeserklaͤrung 
gemacht und gebeten, daß er als Cid oder irgend ſonſt ein 
Campeador fuͤr ſie kaͤmpfen und ſterben koͤnne. Da dies alles 
aber nicht ging und ſein Herz es nicht mehr aushalten konnte, 
ſo ſtand er auf, ſuchte nach ſeinem Hut, den er auch gluͤcklicher⸗ 
weiſe gleich fand, und zog ſich, nach wiederholtem Handkuß, 
raſch zuruͤck, ohne weiter ein Wort geſagt zu haben. 


Neuntes Kapitel 


So war Effis erſter Tag in Keſſin geweſen. Innſtetten 
gab ihr noch eine halbe Woche Zeit, ſich einzurichten und die 
verſchiedenſten Briefe nach Hohen⸗Cremmen zu ſchreiben, an 
die Mama, an Hulda und die Zwillinge; dann aber hatten die 
Stadtbeſuche begonnen, die zum Teil (es regnete gerade ſo, daß 
man ſich dieſe Ungewoͤhnlichkeit ſchon geſtatten konnte), in einer 
geſchloſſenen Kutſche gemacht wurden. Als man damit fertig 
war, kam der Landadel an die Reihe. Das dauerte laͤnger, da 
ſich, bei den meiſt großen Entfernungen, an jedem Tage nur 


191 


IE 


eine Viſite machen ließ. Zuerſt war man bei den Borckes in 
Rothenmoor, dann ging es nach Morgnitz, Dabergotz und 
Kroſchentin, wo man bei den Ahlemanns, den Jatzkows und 
den Graſenabbs den pflichtſchuldigen Beſuch abſtattete. Noch 
ein paar andere folgten, unter denen auch der alte Baron von 
Guͤldenklee auf Papenhagen war. Der Eindruck, den Effi 
empfing, war uͤberall derſelbe: mittelmaͤßige Menſchen, von 
meiſt zweifelhafter Liebenswuͤrdigkeit, die, waͤhrend ſie vor⸗ 
gaben, uͤber Bismarck und die Kronprinzeſſin zu ſprechen, 
eigentlich nur Effis Toilette muſterten, die von einigen als zu 
praͤtentioͤs für eine fo jugendliche Dame, von andern als zu 
wenig dezent fuͤr eine Dame von geſellſchaftlicher Stellung 
befunden wurde. Man merke doch an allem die Berliner 
Schule: Sinn für Außerliches und eine merkwürdige Verlegen; 
heit und Unſicherheit bei Beruͤhrung großer Fragen. In 
Rothenmoor bei den Borckes und dann auch bei den Familien 
in Morgnitz und Dabergotz war ſie fuͤr „rationaliſtiſch ange⸗ 
kraͤnkelt,“ bei den Graſenabbs in Kroſchentin aber rundweg 
fuͤr eine „Atheiſtin“ erklärt worden. Allerdings hatte die alte 
Frau von Graſenabb, eine Suͤddeutſche (geborene Stiefel von 
Stiefelftein), einen ſchwachen Verſuch gemacht, Effi wenig⸗ 
ſtens fuͤr den Deismus zu retten; Sidonie von Graſenabb 


kein Zoll breit weniger, und dabei bleibt es,“ worauf die Alte, 
die ſich vor ihrer eigenen Tochter fuͤrchtete, kluͤglich geſchwiegen 
hatte. 

Die ganze Tournee hatte ſo ziemlich zwei Wochen gedauert, 
und es war am 2. Dezember, als man, zu ſchon ſpaͤter Stunde, 
von dem letzten dieſer Beſuche nach Keſſin zuruͤckkehrte. Dieſer 
letzte Beſuch hatte den Guͤldenklees auf Papenhagen gegolten, 
bei welcher Gelegenheit Innſtetten dem Schickſal nicht ent 
gangen war, mit dem alten Guͤldenklee politifieren zu muͤſſen. 


192 


reer 


„Ja, teuerſter Landrat, wenn ich ſo den Wechſel der Zeiten be⸗ 
denke! Heute vor einem Menſchenalter oder ungefaͤhr ſo lange, 
ja, da war auch ein 2. Dezember und der gute Louis und 
Napoleons⸗Neffe — wenn er ſo was war und nicht eigent⸗ 
lich ganz wo anders herſtammte —, der kartaͤtſchte damals 
auf die Pariſer Kanaille. Na, das mag ihm verziehen ſein, 
fuͤr ſo was war er der rechte Mann, und ich halte zu dem Satze: 
Jeder hat es gerade ſo gut und ſo ſchlecht, wie er's verdient'. 
Aber daß er nachher alle Schaͤtzung verlor und anno 70 ſo mir 
nichts dir nichts auch mit uns anbinden wollte, ſehen Sie, 
Baron, das war, ja wie ſag ich, das war eine Inſolenz. Es 
iſt ihm aber auch heimgezahlt worden. Unſer Alter da oben 
laͤßt ſich nicht ſpotten, der ſteht zu uns.“ 

„Ja,“ ſagte Innſtetten, der klug genug war, auf ſolche 
Philiſtereien anſcheinend ernſthaft einzugehen: „Der Held und 
Eroberer von Saarbruͤcken wußte nicht, was er tat. Aber Sie 
duͤrfen nicht zu ſtreng mit ihm perſoͤnlich abrechnen. Wer iſt 
am Ende Herr in ſeinem Hauſe? Niemand. Ich richte mich 
auch ſchon darauf ein, die Zuͤgel der Regierung in andere Haͤnde 
zu legen, und Louis Napoleon, nun, der war vollends ein Stuͤck 
Wachs in den Haͤnden ſeiner katholiſchen Frau, oder ſagen 
wir lieber, ſeiner jeſuitiſchen Frau.“ 

„Wachs in den Haͤnden ſeiner Frau, die ihm dann eine 
Naſe drehte. Natuͤrlich, Innſtetten, das war er. Aber damit 
wollen Sie dieſe Puppe doch nicht etwa retten? Er iſt und 
bleibt gerichtet. An und fuͤr ſich iſt es uͤbrigens noch gar nicht 
mal erwieſen,“ und ſein Blick ſuchte bei dieſen Worten etwas 
aͤngſtlich nach dem Auge ſeiner Ehehaͤlfte, „ob nicht Frauen⸗ 
herrſchaft eigentlich als ein Vorzug gelten kann; nur freilich, 
die Frau muß danach ſein. Aber wer war dieſe Frau? Sie war 
uͤberhaupt keine Frau, im guͤnſtigſten Falle war ſie eine Dame, 
das ſagt alles; ‚Dame‘ hat beinah immer einen Beigeſchmack. 
Dieſe Eugenie — uͤber deren Verhaͤltnis zu dem juͤdiſchen 


IV 13 193 


4 


Bankier ich hier gern hingehe, denn ich haſſe Tugendhohmut _ 


C hatte was vom Cafe chantant, und wenn die Stadt, in der 


ſie lebte, das Babel war, ſo war ſie das Weib von Babel. Ich 
mag mich nicht deutlicher ausdruͤcken, denn ich weiß,“ und er 
verneigte ſich gegen Effi, „was ich deutſchen Frauen ſchuldig 
bin. Um Vergebung, meine Gnaͤdigſte, daß ich dieſe Dinge 
vor Ihren Ohren uͤberhaupt beruͤhrt habe.“ 

So war die Unterhaltung gegangen, nachdem man vorher 


von Wahl, Nobiling und Raps geſprochen hatte, und nun 


ſaßen Innſtetten und Effi wieder daheim und plauderten noch 
eine halbe Stunde. Die beiden Maͤdchen im Hauſe waren ſchon 
zu Bett, denn es war nah an Mitternacht. | 

Innſtetten, in kurzem Hausrock und Saffianſchuhen, ging 
auf und ab; Efſi war noch in ihrer Geſellſchaftstoilette; Faͤcher 
und Handſchuhe lagen neben ihr. 

„Ja,“ ſagte Innſtetten, waͤhrend er ſein Auf⸗ und Ab⸗ 
ſchreiten im Zimmer unterbrach, „dieſen Tag muͤßten wir nun 
wohl eigentlich feiern, und ich weiß nur noch nicht womit. Soll 
ich dir einen Siegesmarſch vorſpielen oder den Haifiſch draußen 


in Bewegung ſetzen oder dich im Triumph uͤber den Flur tragen? 


Etwas muß doch geſchehen, denn du mußt wiſſen, das war nun 
heute die letzte Viſite.“ 

„Gott ſei Dank, war ſie's,“ ſagte Effi. „Aber das Gefuͤhl, 
daß wir nun Ruhe haben, iſt, denk ich, gerade Feier genug. Nur 
einen Kuß koͤnnteſt du mir geben. Aber daran denkſt du nicht. 
Auf dem ganzen weiten Weg nicht geruͤhrt, froſtig wie ein 
Schneemann. Und immer nur die Zigarre.“ 

„Laß, ich werde mich ſchon beſſern und will vorlaufig nur 


wiſſen, wie ſtehſt du zu dieſer ganzen Umgangs; und Verkehrs⸗ 4 


frage? Fuͤhlſt du dich zu dem einen oder anderen hingezogen? 


Haben die Borckes die Graſenabbs geſchlagen, oder umgekehrt, 
oder haͤltſt du's mit dem alten Guͤldenklee? Was er da uͤber die 


Eugenie ſagte, machte doch einen ſehr edlen und reinen Eindruck.“ 


194 


„Ei, ſieh, Herr von Innſtetten, auch mediſant! Ich lerne 
Sie von einer ganz neuen Seite kennen.“ 

„Und wenn's unſer Adel nicht tut,“ fuhr Innſtetten fort, 
ohne ſich ſtoͤren zu laſſen, „wie ſtehſt du zu den Keſſiner Stadt⸗ 
honoratioren? wie ſtehſt du zur Reſſource? Daran haͤngt doch 
am Ende Leben und Sterben. Ich habe dich da neulich mit 
unſerem reſerveleutnantlichen Amtsrichter ſprechen ſehen, einem 
zierlichen Maͤnnchen, mit dem ſich vielleicht durchkommen ließe, 
wenn er nur endlich von der Vorſtellung los koͤnnte, die Wieder⸗ 
eroberung von Le Bourget durch ſein Erſcheinen in der Flanke 
zuſtande gebracht zu haben. Und ſeine Frau! ſie gilt als die 
beſte Boſtonſpielerin und hat auch die huͤbſcheſten Anlege⸗ 
marken. Alſo nochmals, Effi, wie wird es werden in Keſſin? 
Wirſt du dich einleben? Wirſt du populaͤr werden und mir die 
Majoritaͤt ſichern, wenn ich in den Reichstag will? Oder biſt 
du für Einſiedlertum, für Abſchluß von der Keſſiner Menſch⸗ 
heit, ſo Stadt wie Land?“ 

„Ich werde mich wohl fuͤr Einſiedlertum entſchließen, wenn 
mich die Mohrenapotheke nicht herausreißt. Bei Sidonie 
werd ich dadurch freilich noch etwas tiefer ſinken, aber darauf 
muß ich es ankommen laſſen; dieſer Kampf muß eben gekaͤmpft 
werden. Ich ſteh und falle mit Gies huͤbler. Es klingt etwas 
komiſch, aber er iſt wirklich der einzige, mit dem ſich ein Wort 
reden laͤßt, der einzige richtige Menſch hier.“ 

„Das iſt er,“ ſagte Innſtetten. „Wie gut du zu waͤhlen 
verſtehſt.“ 

„Haͤtte ich ſonſt dich?“ ſagte Effi und hing ſich an feinen 
Arm. 


Das war am 2. Dezember. Eine Woche ſpaͤter war Bis⸗ 
marck in Varzin, und nun wußte Innſtetten, daß bis Weih⸗ 
nachten und vielleicht noch druͤber hinaus, an ruhige Tage 
für ihn gar nicht mehr zu denken ſei. Der Fuͤrſt hatte noch von 


13˙ 195 


Verſailles her eine Vorliebe für ihn und lud ihn, wenn Beſuch 
da war, haͤufig zu Tiſch, aber auch allein, denn der jugendliche, 
durch Haltung und Klugheit gleich ausgezeichnete Landrat ſtand 
ebenſo in Gunſt bei der Fuͤrſtin. 

Zum 14. erfolgte die erſte Einladung. Es lag Schnee, wes⸗ 
halb Innſtetten die faſt zweiſtuͤndige Fahrt bis an den Bahn⸗ 
hof, von wo noch eine Stunde Eiſenbahn war, im Schlitten 
zu machen vorhatte. „Warte nicht auf mich, Effi. Vor Mitter⸗ 
nacht kann ich nicht zuruͤck ſein; wahrſcheinlich wird es zwei oder 
noch ſpaͤter. Ich ſtoͤre dich aber nicht. Gehab dich wohl und auf 
Wiederſehen morgen fruͤh.“ Und damit ſtieg er ein, und die 
beiden iſabellfarbenen Graditzer jagten im Fluge durch die 
Stadt hin und dann landeinwaͤrts auf den Bahnhof zu. 

Das war die erſte lange Trennung, faſt auf zwoͤlf Stunden. 
Arme Effi. Wie ſollte fie den Abend verbringen? Früh zu 
Bett, das war gefaͤhrlich, dann wachte ſie auf und konnte nicht 
wieder einſchlafen und horchte auf alles. Nein, erſt recht muͤde 
werden und dann ein feſter Schlaf, das war das beſte. Sie ſchrieb 
einen Brief an die Mama und ging dann zu der Frau Kruſe, 
deren gemuͤtskranker Zuſtand — ſie hatte das ſchwarze Huhn 
oft bis in die Nacht hinein auf ihrem Schoß — ihr Teilnahme 
einfloͤßte. Die Freundlichkeit indeſſen, die ſich darin ausſprach, 
wurde von der in ihrer uͤberheizten Stube ſitzenden und nur 
ſtill und ſtumm vor ſich hinbruͤtenden Frau keinen Augenblick 
erwidert, weshalb Effi, als fie wahrnahm, daß ihr Beſuch 
mehr als Stoͤrung wie als Freude empfunden wurde, wieder 
ging und nur noch fragte, ob die Kranke etwas haben wolle. 
Dieſe lehnte aber alles ab. 

Inzwiſchen war es Abend geworden, und die Lampe brannte 
ſchon. Effi ſtellte ſich ans Fenſter ihres Zimmers und ſah auf 
das Waͤldchen hinaus, auf deſſen Zweigen der glitzernde Schnee 
lag. Sie war von dem Bilde ganz in Anſpruch genommen 
und kuͤmmerte ſich nicht um das, was hinter ihr in dem Zimmer 


196 


vorging. Als fie ſich wieder umſah, bemerkte fie, daß Friedrich 
ſtill und geraͤuſchlos ein Kuvert gelegt und ein Kabarett auf 
den Sofatiſch geſtellt hatte. „Ja fo, Abendbrot... Da werd 
ich mich nun wohl ſetzen muͤſſen.“ Aber es wollte nicht ſchmecken, 
und ſo ſtand ſie wieder auf und las den an die Mama geſchrie⸗ 
benen Brief noch einmal durch. Hatte ſie ſchon vorher ein Ge⸗ 
fuͤhl der Einſamkeit gehabt, ſo jetzt doppelt. Was haͤtte ſie dar⸗ 
um gegeben, wenn die beiden Jahnkeſchen Rotkoͤpfe jetzt ein⸗ 
getreten waͤren oder ſelbſt Hulda. Die war freilich immer ſo 
ſentimental und beſchaͤftigte ſich meiſt nur mit ihren Triumphen; 
aber ſo zweifelhaft und anfechtbar dieſe Triumphe waren, ſie 
haͤtte ſich in dieſem Augenblicke doch gern davon erzaͤhlen 
laſſen. Schließlich klappte ſie den Fluͤgel auf, um zu ſpielen; 
aber es ging nicht. „Nein, dabei werd ich vollends melancho⸗ 
liſch; lieber leſen.“ Und ſo ſuchte ſie nach einem Buche. Das 
erſte, was ihr zu Haͤnden kam, war ein dickes, rotes Reiſehand⸗ 
buch, alter Jahrgang, vielleicht ſchon aus Innſtettens Leut⸗ 
nantstagen her. „Ja, darin will ich leſen; es gibt nichts Be⸗ 
ruhigenderes als ſolche Buͤcher. Das Gefaͤhrliche ſind bloß 
immer die Karten; aber vor dieſem Augenpulver, das ich haſſe, 
werd ich mich ſchon huͤten.“ Und ſo ſchlug ſie denn auf gut 
Gluͤck auf: Seite 153. Nebenan hoͤrte ſie das Ticktack der Uhr 
und draußen Rollo, der, ſeit es dunkel war, ſeinen Platz in der 
Remiſe aufgegeben und ſich, wie jeden Abend ſo auch heute 
wieder auf die große geflochtene Matte, die vor dem Schlaf⸗ 
zimmer lag, ausgeſtreckt hatte. Das Bewußtſein ſeiner Naͤhe 
minderte das Gefuͤhl ihrer Verlaſſenheit, ja, ſie kam faſt in 
Stimmung, und ſo begann ſie denn auch unverzuͤglich zu leſen. 
Auf der gerade vor ihr aufgeſchlagenen Seite war von der 
„Eremitage“, dem bekannten markgraͤflichen Luſtſchloß in der 
Naͤhe von Bayreuth, die Rede; das lockte ſie, Bayreuth, Richard 
Wagner, und ſo las ſie denn: „Unter den Bildern in der Eremi⸗ 
tage nennen wir noch eins, das nicht durch ſeine Schoͤnheit, 


197 


ee 


wohl aber durch fein Alter und durch die Perſon, die es darſtellt, 
ein Intereſſe beanſprucht. Es iſt dies ein ſtark nachgedunkeltes 
Frauenportraͤt, kleiner Kopf, mit herben, etwas unheimlichen 
Geſichtszuͤgen und einer Halskrauſe, die den Kopf zu tragen 
ſcheint. Einige meinen, es ſei eine alte Markgraͤfin aus dem 
Ende des fuͤnfzehnten Jahrhunderts, andere ſind der Anſicht, 
es ſei die Graͤfin von Orlamuͤnde; darin aber ſind beide einig, 
daß es das Bildnis der Dame ſei, die ſeither in der Geſchichte 
der Hohenzollern unter dem Namen ber ‚weißen Frau‘ eine 
gewiſſe Beruͤhmtheit erlangt hat.“ 

„Das hab ich gut getroffen,“ ſagte Effi, waͤhrend ſie das 
Buch beiſeite ſchob; „ich will mir die Nerven beruhigen, und 
das erſte, was ich leſe, iſt die Geſchichte von der ‚weißen Frau“, 
vor der ich mich gefuͤrchtet habe, ſolang ich denken kann. Aber 
da nun das Gruſeln mal da iſt, will ich doch auch zu Ende leſen.“ 

Und fie ſchlug wieder auf und las weiter: „... Eben dies 
alte Portraͤt (deſſen Original in der Hohenzollernſchen Fa⸗ 
miliengeſchichte ſolche Rolle ſpielt) ſpielt als Bild auch eine 
Rolle in der Spezialgeſchichte des Schloſſes Eremitage, was 
wohl damit zuſammenhaͤngt, daß es an einer dem Fremden 
unſichtbaren Tapetentuͤr haͤngt, hinter der ſich eine vom Sou⸗ 
terrain her hinauffuͤhrende Treppe befindet. Es heißt, daß, 
als Napoleon hier uͤbernachtete, die, weiße Frau aus dem Rah⸗ 
men herausgetreten und auf ſein Bett zugeſchritten ſei. Der 
Kaiſer, entſetzt auffahrend, habe nach ſeinem Adjutanten ge⸗ 
rufen und bis an ſein Lebensende mit Entruͤſtung von dieſem 
‚maudit chäteau‘ geſprochen.“ 

„Ich muß es aufgeben, mich durch Lektüre beruhigen zu 
wollen,“ ſagte Effi. „Leſe ich weiter, ſo komm ich gewiß noch 
nach einem Kellergewoͤlbe, wo der Teufel auf einem Wein⸗ 
faß davongeritten iſt. Es gibt, glaub ich, in Deutſchland viel 
dergleichen, und in einem Reiſehandbuch muß es ſich natuͤrlich 
alles zuſammenfinden. Ich will alſo lieber wieder die Augen 


198 


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2 


ſchließen und mir, ſo gut es geht, meinen Polterabend vor⸗ 
ſtellen: die Zwillinge, wie ſie vor Traͤnen nicht weiterkonnten, 
und dazu den Vetter Brieſt, der, als ſich alles verlegen anblickte, 
mit erſtaunlicher Wuͤrde behauptete, ſolche Traͤnen oͤffneten 
einem das Paradies. Er war wirklich charmant und immer ſo 
uͤbermuͤtig ... Und nun ich! Und gerade hier. Ach, ich tauge 
doch gar nicht fuͤr eine große Dame. Die Mama, ja, die haͤtte 
hierher gepaßt, die haͤtte, wie's einer Landraͤtin zukommt, den 
Ton angegeben, und Sidonie Graſenabb waͤre ganz Huldigung 


gegen fie geweſen und hätte ſich über ihren Glauben oder Uns 


glauben nicht groß beunruhigt. Aber ich ... ich bin ein Kind 
und werd es auch wohl bleiben. Einmal hab ich gehoͤrt, das ſei 
ein Gluck. Aber ich weiß doch nicht, ob das wahr iſt. Man muß 
doch immer dahin paſſen, wohin man nun mal geſtellt iſt.“ 

In dieſem Augenblicke kam Friedrich, um den Tiſch abzu⸗ 
raͤumen. 5 

„Wie ſpaͤt iſt es, Friedrich?“ 

„Es geht auf neun, gnaͤdge Frau.“ 

„Nun, das laͤßt ſich hoͤren. Schicken Sie mir Johanna.“ 


„Gnaͤdge Frau haben befohlen.“ 

„Ja, Johanna. Ich will zu Bett gehen. Es iſt eigentlich 
noch fruͤh. Aber ich bin ſo allein. Bitte, tun Sie den Brief erſt 
ein, und wenn Sie wieder da find, nun, dann wird es wohl Zeit 
ſein. Und wenn auch nicht.“ 

Effi nahm die Lampe und ging in ihr Schlafzimmer hinuͤber. 
Richtig, auf der Binſenmatte lag Rollo. Als er Effi kommen 


ſah, erhob er ſich, um den Platz freizugeben, und ſtrich mit 


ſeinem Behang an ihrer Hand hin. Dann legte er ſich wieder 


nieder. 


Johanna war inzwiſchen nach dem Landratsamt hinuͤber⸗ 
gegangen, um da den Brief einzuſtecken. Sie hatte ſich drüben 


nicht ſonderlich beeilt, vielmehr vorgezogen, mit der Frau 
e, 


199 


Paaſchen, des Amtsdieners Frau, ein Geſpraͤch zu führen. 
Natürlich über die junge Frau. 

„Wie ift fie denn?“ fragte die Paaſchen. 

„Sehr jung iſt ſie.“ 

„Nun, das iſt kein Ungluͤck, eher umgekehrt. Die Jungen, 
und das iſt eben das Gute, ſtehen immer bloß vorm Spiegel 
und zupfen und ſtecken ſich was vor und ſehen nicht viel und 
hoͤren nicht viel, und ſind noch nicht ſo, daß ſie draußen immer 
die Lichtſtuͤmpfe zaͤhlen und einem nicht goͤnnen, daß man 
einen Kuß kriegt, bloß weil ſie ſelber keinen mehr kriegen.“ 

„Ja,“ ſagte Johanna, „ſo war meine vorige Madam, 
und ganz ohne Not. Aber davon hat unſere Gnaͤdge nichts.“ 

„Iſt er denn ſehr zaͤrtlich?“ 

„O, ſehr. Das koͤnnen Sie doch wohl denken.“ 

„Aber daß er fie fo allein laßt...” 

„Ja, liebe Paaſchen, Sie dürfen nicht vergeſſen ... der 
Fuͤrſt. Und dann, er iſt ja doch am Ende Landrat. Und viel⸗ 
leicht will er auch noch hoͤher.“ 

„Gewiß, will er. Und er wird auch noch. Er hat ſo was. 
Paaſchen ſagt es auch immer, und der kennt ſeine Leute.“ 

Waͤhrend dieſes Ganges druͤben nach dem Amt hinuͤber 
war wohl eine Viertelſtunde vergangen, und als Johanna 
wieder zuruͤck war, ſaß Effi ſchon vor dem Trumeau und 
wartete. 

„Sie ſind lange geblieben, Johanna.“ 

„Ja, gnaͤdge Frau... Gnaͤdge Frau wollen entſchul⸗ 
digen ... Ich traf drüben die Frau Paaſchen, und da hab ich 
mich ein wenig verweilt. Es iſt ſo ſtill hier. Man iſt immer froh, 
wenn man einen Menſchen trifft, mit dem man ein Wort ſpre⸗ 
chen kann. Chriſtel iſt eine ſehr gute Perſon, aber ſie ſpricht nicht, 
und Friedrich iſt ſo duſig und auch ſo vorſichtig und will mit 
der Sprache nie recht heraus. Gewiß, man muß auch ſchweigen 
koͤnnen, und die Paaſchen, die ſo neugierig und ſo ganz gewoͤhn⸗ 


* 


200 


llich iſt, iſt eigentlich gar nicht nach meinem Geſchmack; aber man 
hat es doch gern, wenn man mal was hört und ſieht.“ 

Effi ſeufzte. „Ja, Johanna, das iſt auch das Beſte ...“ 

„Gnaͤdge Frau haben ſo ſchoͤnes Haar, ſo lang und ſo 
ſeidenweich.“ 

„Ja, es iſt ſehr weich. Aber das iſt nicht gut, Johanna. 
Wie das Haar iſt, iſt der Charakter.“ 

„Gewiß, gnaͤdge Frau. Und ein weicher Charakter iſt 
doch beſſer als ein harter. Ich habe auch weiches Haar.“ 

„Ja, Johanna. Und Sie haben auch blondes. Das haben 
die Maͤnner am liebſten.“ 

„Ach, das iſt doch ſehr verſchieden, gnaͤdge Frau. Manche 
ſind doch auch fuͤr das ſchwarze.“ 

„Freilich,“ lachte Effi, „das habe ich auch ſchon gefunden. 
Es wird wohl an was ganz anderem liegen. Aber die, die 
blond ſind, die haben auch immer einen weißen Teint, Sie auch, 
Johanna, und ich moͤchte mich wohl verwetten, daß Sie viel 

achſtellung haben. Ich bin noch ſehr jung, aber das weiß 
ih dach ang. Und dann habe ich eine Freundin, die war auch 
ſo blond, ganz flachsblond, noch blonder als Sie, und war 
eine * . 

„Ja, denn. 

„Aber ich bitte Sie, Johanna, was meinen Sie mit 1 denn‘, 
Das klingt ja ganz anzuͤglich und ſonderbar, und Sie werden 
doch nichts gegen Predigers tochter haben .. Es war ein ſehr 
huͤbſches Maͤdchen, was ſelbſt unſere Offiziere — wir hatten 
naͤmlich Offiziere, noch dazu rote Huſaren — auch immer fan⸗ 
den, und verſtand ſich dabei ſehr gut auf Toilette, ſchwarzes 
Sammetmieder und eine Blume, Roſe oder auch Heliotrop, und 
wenn fie nicht fo vorſtehende große Augen gehabt haͤtte ... ach, 
die haͤtten Sie ſehen ſollen, Johanna, wenigſtens ſo groß (und 
Effi zog unter Lachen an ihrem rechten Augenlid), ſo waͤre ſie 
geradezu eine Schoͤnheit geweſen. Sie hieß Hulda, Hulda Nie⸗ 


201 


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meyer, und wir waren nicht einmal ſo ganz intim; aber wenn 
ich ſie jetzt hier haͤtte und ſie da ſaͤße, da in der kleinen Sofa⸗ 
ecke, ſo wollte ich bis Mitternacht mit ihr plaudern oder noch 
länger, Ich habe ſolche Sehnſucht und...” und dabei zog 
fie Johannas Kopf dicht an ſich heran... „ich habe ſolche 
Angſt.“ 

„Ach, das gibt ſich, gnaͤdge Frau, die hatten wir alle.“ 

„Die hattet ihr alle? Was ſoll das heißen, Johanna?“ 

„ . Und wenn die gnaͤdge Frau wirklich ſolche Angſt 
haben, ſo kann ich mir ja ein Lager hier machen. Ich nehme 
die Strohmatte und kehre einen Stuhl um, daß ich eine Kopf⸗ 
lehne habe, und dann ſchlafe ich hier bis morgen früh oder bis 
der gnaͤdge Herr wieder da iſt.“ 

„Er will mich nicht ſtoͤren. Das hat er mir eigens ver⸗ 
ſprochen.“ 

„Oder ich ſetze mich bloß in die Sofaecke.“ a 

„Ja, das ginge vielleicht. Aber nein, es geht auch nicht. 

Der Herr darf nicht wiſſen, daß ich mich aͤngſtige, das liebt 
er nicht. Er will immer, daß ich kn und entfchloffen bin, 
fällig... Aber freilich, ich ſehe wohl ein, ich muß mich des 
zwingen und ihm in ſolchen Stuͤcken und uͤberhaupt zu Willen 
fein... Und dann habe ich ja auch Rollo. Der liegt ja vor der 
Tuͤrſchwelle.“ 

Johanna nickte zu jedem Wort und zuͤndete dann das Licht 
an, das auf Effis Nachttiſch ſtand. Dann nahm ſie die Lampe. 
„Befehlen gnaͤdge Frau noch etwas?“ b 

„Nein, Johanna. Die Läden find doch feſtgeſchloſſen?“ 

„Bloß angelegt, gnaͤdge Frau. Es iſt ſonſt ſo dunkel und 
fo ſtickig.“ N 

„Gut, gut.“ 

Und nun entfernte ſich Johanna; Effi aber ging auf ihr 
Bett zu und wickelte ſich in ihre Decken. 


202 


Sie ließ das Licht brennen, weil fie gewillt war, nicht gleich 
einzuſchlafen, vielmehr vorhatte, wie vorhin ihren Polter⸗ 
abend, ſo jetzt ihre Hochzeitsreiſe zu rekapitulieren und alles 
an ſich voruͤberziehen zu laſſen. Aber es kam anders wie ſie ge⸗ 

dacht, und als ſie bis Verona war und nach dem Hauſe der 
Julia Capulet ſuchte, fielen ihr ſchon die Augen zu. Das Stuͤmpf⸗ 
chen Licht in dem kleinen Silberleuchter brannte allmaͤhlich nie⸗ 
der, und nun flackerte es noch einmal auf und erloſch. 

Effi ſchlief eine Weile ganz feſt. Aber mit einem Male 
fuhr ſie mit einem lauten Schrei aus ihrem Schlafe auf, ja, 
ſie hoͤrte ſelber noch den Aufſchrei und auch wie Rollo draußen 
anſchlug; — „wau, wau“ klang es den Flur entlang, dumpf 
und ſelber beinah aͤngſtlich. Ihr war, als ob ihr das Herz ſtill⸗ 
ſtaͤnde; ſie konnte nicht rufen, und in dieſem Augenblicke huſchte 
was an ihr vorbei, und die nach dem Flur hinausfuͤhrende Tuͤr 
ſprang auf. Aber eben dieſer Moment hoͤchſter Angſt war auch 
der ihrer Befreiung, denn ſtatt etwas Schrecklichem kam jetzt 
Rollo auf ſie zu, ſuchte mit ſeinem Kopf nach ihrer Hand und 
legte ſich, als er dieſe gefunden, auf den vor ihrem Bett aus⸗ 
gebreiteten Teppich nieder. Effi ſelber aber hatte mit der an⸗ 
dern Hand dreimal auf den Knopf der Klingel gedruͤckt, und 
keine halbe Minute, ſo war Johanna da, barfuͤßig, den Rock 
uͤber dem Arm und ein großes, kariertes Tuch uͤber Kopf 
und Schulter geſchlagen. 

„Gott ſei Dank, Johanna, daß Sie da ſind.“ 

„Was war denn, gnaͤdge Frau? Gnaͤdge Frau haben 
getraͤumt.“ 

„Ja, getraͤumt. Es muß fo was geweſen fein... aber es 
war doch auch noch was anderes.“ 

„Was denn, gnaͤdge Frau?“ 

„Ich ſchlief ganz feſt, und mit einem Male fuhr ich auf und 
ſchrie .. vielleicht, daß es ein Alpdruck war ... Alpdruck iſt 
in unſerer Familie, mein Papa hat es auch und aͤngſtigt uns 


203 


damit, und nur die Mama ſagt immer, er ſolle fich nicht fo 
gehen laſſen; aber das iſt leicht geſagt ... ich fuhr alſo auf aus 
dem Schlaf und ſchrie, und als ich mich umſah, ſo gut es eben 
ging in dem Dunkel, da ſtrich was an meinem Bett vorbei, ge⸗ 
rade da, wo Sie jetzt ſtehen, Johanna, und dann war es weg. 
Und wenn ich mich recht frage, was es war...” 

„Nun was denn, gnaͤdge Frau?“ 

„Und wenn ich mich recht frage ... ich mag es nicht ſagen, 
Johanna . . aber ich glaube der Chineſe.“ a 

„Der von oben?“ und Johanna verſuchte zu lachen, „unſer 
kleiner Chineſe, den wir an die Stuhllehne geklebt haben, 
Chriſtel und ich. Ach, gnaͤdge Frau haben getraͤumt, und wenn 
Sie ſchon wach waren, ſo war es doch alles noch aus dem 
Traum.“ 

„Ich wuͤrd es glauben. Aber es war genau derſelbe Augen⸗ 
blick, wo Rollo draußen anſchlug, der muß es alſo auch geſehen 
haben, und dann flog die Tuͤr auf, und das gute, treue Tier 
fprang auf mich los, als ob es mich zu retten kaͤme. Ach, meine 
liebe Johanna, es war entſetzlich. Und ich fo allein, und fo 
jung. Ach, wenn ich doch wen hier haͤtte, bei dem ich weinen 
koͤnnte. Aber fo weit von Haufe... Ach, von Haufe...” 

„Der Herr kann jede Stunde kommen.“ 

„Nein, er ſoll nicht kommen; er ſoll mich ſo nicht een. 
Er würde mich vielleicht auslachen, und das koͤnnt ich ihm nie 
verzeihen. Denn es war fo furchtbar, Johanna ... Sie muͤſſen 
nun hier bleiben ... Aber laſſen Sie Chriſtel ſchlafen und hie, 
rich auch. Es foll es keiner wiſſen.“ 

„Oder vielleicht kann ich auch die Frau Kruſe holen; die 
ſchlaͤft doch nicht, die fit die ganze Nacht da.“ 

„Nein, nein, die iſt ſelber ſo was. Das mit dem ſchwarzen 
Huhn, das iſt auch ſo was; die darf nicht kommen. Nein, 
Johanna, Sie bleiben allein hier. Und wie gut, daß Sie 
die Laͤden nur angelegt. Stoßen Sie ſie auf, recht laut, daß 


204 


ich einen Ton Höre, einen menſchlichen Ton ... ich muß 
es fo nennen, wenn es auch ſonderbar klingt ... und dann 
machen Sie das Fenſter ein wenig auf, daß ich Luft und Licht 
habe.“ 

Johanna tat wie ihr geheißen, und Effi fiel in ihre Kiſſen 
zuruͤck und bald danach in einen lethargiſchen Schlaf. 


Zehntes Kapitel 


Innſtetten war erſt ſechs Uhr früh von Varzin zuruͤckge⸗ 
kommen und hatte ſich, Rollos Liebkoſungen abwehrend, ſo 
leiſe wie moͤglich in ſein Zimmer zuruͤckgezogen. Er machte ſich's 
hier bequem und duldete nur, daß ihn Friedrich mit einer 
Reiſedecke zudeckte. „Wecke mich um neun!“ Und um dieſe 
Stunde war er denn auch geweckt worden. Er ſtand raſch auf 
und ſagte: „Bringe das Fruͤhſtuͤck!“ 

„Die gnaͤdige Frau ſchlaͤft noch.“ 

„Aber es iſt ja ſchon ſpaͤt. Iſt etwas paſſiert?“ 

„Ich weiß es nicht; ich weiß nur, Johanna hat die Nacht 
uͤber im Zimmer der gnaͤdigen Frau ſchlafen muͤſſen.“ 

„Nun, dann ſchicke Johanna.“ 

Dieſe kam denn auch. Sie hatte denſelben roſigen Teint 
wie immer, ſchien ſich alſo die Vorgaͤnge der Nacht nicht ſonder⸗ 
lich zu Gemuͤte genommen zu haben. 

„Was iſt das mit der gnaͤdgen Frau? Friedrich ſagt mir, 
es ſei was paſſiert und Sie haͤtten druͤben geſchlafen.“ 

„Ja, Herr Baron. Gnaͤdge Frau klingelte dreimal ganz 
raſch hintereinander, daß ich gleich dachte, es bedeutet was. 
Und ſo war es auch. Sie hat wohl getraͤumt oder vielleicht 
war es auch das andere.“ 

„Welches andere?“ 

„Ach, der gnaͤdge Herr wiſſen ja.“ 


205 


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„Ich weiß nichts. Jedenfalls muß ein Ende damit * 
werden. Und wie fanden Sie die Frau?“ 

„Sie war wie außer ſich und hielt das Halsband von Rollo, 
der neben dem Bett der gnaͤdgen Frau ſtand, feſt umklammert. 
Und das Tier aͤngſtigte ſich auch.“ 

„Und was hatte ſie getraͤumt oder, meinetwegen auch, 
was hatte ſie gehoͤrt oder geſehen? Was ſagte ſie?“ 

„Es ſei ſo hingeſchlichen, dicht an ihr vorbei.“ 

„Was? Wer?“ 

„Der von oben. Der aus dem Saal oder aus der kleinen 
Kammer.“ 


„Unſinn, ſag ich. Immer wieder das alberne Zeug; ich mag 


davon nicht mehr hoͤren. Und dann blieben Sie bei der Frau?“ 

„Ja, gnaͤdger Herr. Ich machte mir ein Lager an der Erde 
dicht neben ihr. Und ich mußte ihre Hand halten, und dann 
ſchlief ſie ein.“ 

„Und ſie ſchlaͤft noch?“ 

„Ganz feſt.“ 

„Das iſt mir aͤngſtlich, Johanna. Man kann ſich geſund 
ſchlafen, aber auch krank. Wir muͤſſen fie wecken, natürlich 
vorſichtig, daß ſie nicht wieder erſchrickt. Und Friedrich ſoll das 
Fruͤhſtuͤck nicht bringen; ich will warten, bis die gnaͤdge Frau 
da iſt. Und machen Sie's geſchickt.“ 


Eine halbe Stunde ſpaͤter kam Effi. Sie ſah reizend aus, 
ganz blaß, und ſtuͤtzte ſich auf Johanna. Als ſie aber Inn⸗ 
ſtettens anſichtig wurde, ſtuͤrzte ſie auf ihn zu und umarmte 
und kuͤßte ihn. Und dabei liefen ihr die Traͤnen uͤbers Geſicht. 
„Ach, Geert, Gott ſei Dank, daß du da biſt. Nun iſt alles 
wieder gut. Du darfſt nicht wieder fort, du darfſt mich nicht 
wieder allein laſſen.“ 

„Meine liebe Effi... ſtellen Sie hin, Friedrich, ich werde 
ſchon alles zurechtmachen ... meine liebe Effi, ich laſſe dich ja 


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3 
3 
3 


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+ 25 - 
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nicht allein aus Ruͤckſichtsloſigkeit oder Laune, ſondern weil er 
8 ſo ſein muß; ich habe keine Wahl, ich bin ein Mann im Dienſi, 
ich kann zum Fuͤrſten oder auch zur Fuͤrſtin nicht ſagen: Ourch⸗ 
laucht, ich kann nicht kommen, meine Frau iſt ſo allein, oder meine 
Frau fuͤrchtet ſich. Wenn ich das ſagte, würden wir in einem ziem⸗ 
lich komiſchen Lichte daſtehen, ich gewiß, und du auch. Aber 
nimm erſt eine Taſſe Kaffee.“ 

Effi trank, was ſie ſichtlich belebte. Dann ergriff ſie wieder 
ihres Mannes Hand und ſagte: „Du ſollſt recht haben; ich ſehe 
ein, das geht nicht. Und dann wollen wir ja auch hoͤher hinauf. 

Ich ſage wir, denn ich bin eigentlich begieriger danach als 
. 

„So ſind alle Frauen,“ lachte Innſtetten. 

„Alſo abgemacht; du nimmſt die Einladungen an nach 
wie vor, und ich bleibe hier und warte auf meinen, hohen Herrn', 
wobei mir Hulda unterm Holunderbaum einfaͤllt. Wie's ihr 

wohl gehen mag?“ 

„Damen wie Hulda geht es immer gut. Aber was wollteſt 
du noch ſagen?“ 

„Ich wollte ſagen, ich bleibe hier und auch allein, wenn es 
ſein muß. Aber nicht in dieſem Hauſe. Laß uns die Wohnung 

wechſeln. Es gibt ſo huͤbſche Haͤuſer am Bollwerk, eins zwiſchen 
Konſul Martens und Konſul Gruͤtzmacher und eins am Markt, 
gerade gegenüber von Gieshuͤbler; warum koͤnnen wir da nicht 
wohnen? Warum gerade hier? Ich habe, wenn wir Freunde 
und Verwandte zum Beſuch hatten, oft gehoͤrt, daß in Berlin 
Familien ausziehen wegen Klavierſpiel oder wegen Schwaben z 

oder wegen einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um 
ſolcher Kleinigkeit willen geſchieht ...“ 

„Kleinigkeiten? Portiersfrau? das ſage nicht...“ 

„Wenn das um ſolcher Dinge willen moͤglich iſt, ſo muß 

es doch auch hier möglich fein, wo du Landrat biſt und die 
Leute dir zu Willen ſind und viele ſelbſt zu Dank verpflichtet. 


207 


A 


Gieshuͤbler würde uns gewiß dabei behilflich fein, wenn auch 
nur um meinetwegen, denn er wird Mitleid mit mir haben. 
Und nun ſage, Geert, wollen wir dies verwunſchene Haus 
aufgeben, dies Haus mit dem...“ 

„. . . Chineſen willſt du ſagen. Du ſiehſt, Effi, man kann 
das furchtbare Wort ausſprechen, ohne daß er erſcheint. Was 
du da geſehen haſt oder was da, wie du meinſt, an deinem 
Bette voruͤberſchlich, das war der kleine Chineſe, den die Maͤd⸗ 
chen oben an die Stuhllehne geklebt haben; ich wette, daß er 
einen blauen Rock anhatte und einen ganz flachen Deckelhut 
mit einem blanken Knopf oben.“ 

Sie nickte. 

„Nun ſiehſt du, Traum, Sinnestaͤuſchung. Und dann 
wird dir Johanna wohl geſtern abend was erzaͤhlt haben, von 
der Hochzeit hier oben ...“ 

„Nein.“ 

„Deſto beſſer.“ 

„Kein Wort hat ſie mir erzaͤhlt. Aber ich ſehe doch aus 
dem allen, daß es hier etwas Sonderbares gibt. Und dann 
das Krokodil; es iſt alles ſo unheimlich hier.“ 

„Den erſten Abend, als du das Krokodil ſahſt, fandeſt dus 
maͤrchenhaft ...“ 

„Ja, damals...“ 

„. . . Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut fort, auch wenn 
es moͤglich waͤre, das Haus zu verkaufen oder einen Tauſch 
zu machen. Es iſt damit ganz wie mit einer Abſage nach Varzin 
hin. Ich kann hier in der Stadt die Leute nicht ſagen laſſen, 
Landrat Innſtetten verkauft ſein Haus, weil ſeine Frau den 
aufgeklebten kleinen Chineſen als Spuk an ihrem Bette ger 
ſehen hat. Dann bin ich verloren, Effi. Von ſolcher Laͤcherlich⸗ 
keit kann man ſich nie wieder erholen.“ 

„Ja, Geert, biſt du denn ſo ſicher, daß es ſo was nicht 
gibt?“ 


208 


ern. ; 
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EHE 


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„Willich nicht behaupten. Es iſt eine Sache, die man 
glauben und noch beſſer nicht glauben kann. Aber angenommen, 


es gaͤbe dergleichen, was ſchadet es? Daß in der Luft Bazillen 


herumfliegen, von denen du gehoͤrt haben wirſt, iſt viel ſchlim⸗ 


mer und gefaͤhrlicher als dieſe ganze Geiſtertummellage. Vor⸗ 


ausgeſetzt, daß ſie ſich tummeln, daß ſo was wirklich exiſtiert. 
Und dann bin ich uͤberraſcht, folder Furcht und Abneigung 


gerade bei dir zu begegnen, bei einer Brieſt. Das iſt ja, wie wenn 


du aus einem kleinen Buͤrgerhauſe ſtammteſt. Spuk iſt ein 
Vorzug, wie Stammbaum und dergleichen, und ich kenne 
Familien, die ſich ebenſo gern ihr Wappen nehmen ließen als 
ihre ‚weiße Frau“, die natürlich auch eine ſchwarze fein kann.“ 

Effi ſchwieg. 

„Nun, Effi. Keine Antwort?“ 

„Was ſoll ich antworten? Ich habe dir nachgegeben und 
mich willig gezeigt, aber ich finde doch, daß du deinerſeits teil⸗ 
nahmsvoller ſein koͤnnteſt. Wenn du wuͤßteſt, wie mir gerade 
danach verlangt. Ich habe ſehr gelitten, wirklich ſehr, und als 
ich dich ſah, da dacht ich, nun wuͤrd ich frei werden von meiner 
Angſt. Aber du ſagſt mir bloß, daß du nicht Luſt haͤtteſt, dich 
lächerlich zu machen, nicht vor dem Fuͤrſten und auch nicht 
vor der Stadt. Das iſt ein geringer Troſt. Ich finde es wenig 
und um ſo weniger, als du dir ſchließlich auch noch widerſprichſt 
und nicht bloß perſoͤnlich an dieſe Dinge zu glauben ſcheinſt, 
ſondern auch noch einen adligen Spukſtolz von mir forderſt. 
Nun, den hab ich nicht. Und wenn du von Familien ſprichſt, 


denen ihr Spuk ſoviel wert ſei wie ihr Wappen, ſo iſt das Ge⸗ 


ſchmacksſache; mir gilt mein Wappen mehr. Gott ſei Dank 


haben wir Briefis keinen Spuk. Die Brieſts waren immer ſehr 
gute Leute, und damit haͤngt es wohl zuſammen.“ 


Der Streit haͤtte wohl noch angedauert und vielleicht zu 


einer erſten ernſtlichen Verſtimmung gefuͤhrt, wenn Friedrich 


Iv 14 209 


nicht eingetreten wäre, um der gnaͤbigen Frau einen Brief zu 
uͤberreichen. „Von Herrn Gieshuͤbler. Der Bote wartet auf 
Antwort.“ 

Aller Unmut auf Effis Antlitz war ſofort verſchwunden; 
ſchon bloß Gieshuͤblers Namen zu hoͤren tat Effi wohl, und 
ihr Wohlgefuͤhl ſteigerte ſich, als ſie jetzt den Brief muſterte. 
Zunaͤchſt war es gar kein Brief, ſondern ein Billett, die Adreſſe 


„Frau Baronin von Innſtetten, geb. von Brieſt“ in wunder⸗ 


voller Kanzleihandſchrift, und ſtatt des Siegels ein aufge⸗ 
klebtes rundes Bildchen, eine Lyra, darin ein Stab ſteckte. 


Dieſer Stab konnte aber auch ein Pfeil ſein. Sie reichte das ö 


Billett ihrem Manne, der es ebenfalls bewunderte. 

„Nun lies aber.“ 

Und nun loͤſte Effi die Oblate und las: „Hochverehrteſte 
Frau, gnaͤdigſte Frau Baronin! Geſtatten Sie mir, meinem 
reſpektvollſten Vormittagsgruß eine ganz gehorſamſte Bitte 
hinzufuͤgen zu duͤrfen. Mit dem Mittagszuge wird eine viel⸗ 
jaͤhrige liebe Freundin von mir, eine Tochter unſerer guten 
Stadt Keſſin, Fraͤulein Marietta Trippelli, hier eintreffen 
und bis morgen fruͤh unter uns weilen. Am 17. will ſie in 
Petersburg ſein, um daſelbſt bis Mitte Januar zu konzertieren. 
Fuͤrſt Kotſchukoff oͤffnet ihr auch diesmal wieder ſein gaſt⸗ 
liches Haus. In ihrer immer gleichen Guͤte gegen mich hat die 
Trippelli mir zugeſagt, den heutigen Abend bei mir zubringen 
und einige Lieder ganz nach meiner Wahl (denn ſie kennt keine 
Schwierigkeiten) vortragen zu wollen. Koͤnnten ſich Frau 
Baronin dazu verſtehen, dieſem Muſikabende beizuwohnen? 


Sieben Uhr. Ihr Herr Gemahl, auf deſſen Erſcheinen ich mit 


Sicherheit rechne, wird meine gehorſamſte Bitte unterſtuͤtzen. 
Anweſend nur Paſtor Lindequiſt (der begleitet) und natuͤr⸗ 
lich die verwitwete Frau Paſtorin Aale In vorzuͤglicher 
Ergebenheit A. Gieshuͤbler.“ 

„Nun —,“ ſagte Innſtetten, „ja oder nein?“ 


210 


A 


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1 1 2? 


„Natuͤrlich ja. Das wird mich herausreißen. Und dann 
kann ich doch meinem lieben Gieshuͤbler nicht gleich bei ſeiner 
erſten Einladung einen Korb geben.“ 

„Einverſtanden. Alſo Friedrich, ſagen Sie Mirambo, 
der doch wohl das Billett gebracht haben wird, wir wuͤrden 
die Ehre haben.“ 

Friedrich ging. Als er fort war, fragte Effi: „Wer iſt 
Mirambo?“ 

„Der echte Mirambo iſt Raͤuberhauptmann in Afrika 
Tanganjla-Ser, wenn deine Geographie fo weit reiht... 
unſerer aber iſt bloß Gieshuͤblers Kohlenproviſor und Fak⸗ 
totum und wird heute abend in Frack und baumwollenen 
Handſchuhen ſehr wahrſcheinlich aufwarten.“ 

Es war ganz erſichtlich, daß der kleine Zwiſchenfall auf 
Effi guͤnſtig eingewirkt und ihr ein gut Teil ihrer Leichtlebig⸗ 
keit zuruͤckgegeben hatte, Innſtetten aber wollte das Seine tun, 
dieſe Rekonvaleſzenz zu ſteigern. „Ich freue mich, daß du ja 
geſagt haſt und ſo raſch und ohne Beſinnen, und nun moͤcht 
ich dir noch einen Vorſchlag machen, um dich ganz wieder in 
Ordnung zu bringen. Ich ſehe wohl, es ſchleicht dir noch von 
der Nacht her etwas nach, das zu meiner Effi nicht paßt, das 
durchaus wieder fort muß, und dazu gibt es nichts Beſſeres 
als friſche Luft. Das Wetter iſt prachtvoll, friſch und milde 
zugleich, kaum daß ein Luͤftchen geht; was meinſt du, wenn 
wir eine Spazierfahrt machten, aber eine lange, nicht bloß ſo 
durch die Plantage hin, und natuͤrlich im Schlitten, und das 
Gelaͤut auf und die weißen Schneedecken, und wenn wir dann 
um vier zuruck find, dann ruhſt du dich aus, und um fieben 
find wir bei Gieshuͤbler und hören die Trippelli.“ Re; 

Effi nahm feine Hand. „Wie gut du biſt, Geert, und wie 
nachſichtig. Denn ich muß dir ja kindiſch oder doch wenigſtens 
ſehr kindlich vorgekommen fein; erſt das mit meiner Angft 
und dann hinterher, daß ich dir einen Hausverkauf, und was 


14 211 


858 7 


noch ſchlimmer iſt, das mit dem Fuͤrſten anſinne. Du ſollſt 
ihm den Stuhl vor die Tür ſetzen — es iſt zum Lachen. Denn 
ſchließlich iſt er doch der Mann, der uͤber uns entſcheidet. Auch 
uͤber mich. Du glaubſt gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe 
dich eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet. Aber du mußt nicht 
ſolch ernſtes Geſicht dabei machen. Ich liebe dich ja... wie 
heißt es doch, wenn man einen Zweig abbricht und die Blaͤtter 
abreißt? Von Herzen, mit Schmerzen, uͤber alle Maßen.“ 
Und ſie lachte hell auf. „Und nun ſage mir,“ fuhr ſie fort, 
als Innſtetten noch immer ſchwieg, „wo ſoll es hingehen?“ 
„Ich habe mir gedacht, nach der Bahnſtation, aber auf 
einem Umwege, und dann auf der Chauſſee zuruͤck. Und auf 
der Station eſſen wir oder noch beſſer bei Golchowski, in dem 
Gaſthofe „Zum Fuͤrſten Bismarck,“ dran wir, wenn du dich 
vielleicht erinnerſt, am Tage unſerer Ankunft voruͤberkamen. 
Solch Vorſprechen wirkt immer gut, und ich habe dann mit 
dem Staroſten von Effis Gnaden ein Wahlgeſpraͤch, und wenn 
er auch perſönlich nicht viel taugt, feine Wirtſchaft Halt er in 
Ordnung und feine Küche noch beſſer. Auf Eſſen und Trinken 
verſtehen ſich die Leute hier.“ 1 
Es war gegen elf, daß fie dies Geſpraͤch fuhrten. um 
zwoͤlf hielt Kruſe mit dem Schlitten vor der Tür, und Effi ſtieg 
ein. Johanna wollte Fußſack und Pelze bringen, aber Effi hatte 
nach allem, was noch auf ihr lag, fo ſehr das Bedürfnis nach 
friſcher Luft, daß fie alles zuruͤckwies und nur eine doppelte | 
Decke nahm. Innſtetten aber ſagte zu Kruſe: „Kruſe, wir wollen 
nun alſo nach dem Bahnhof, wo wir zwei beide heute fruͤh ſchon 
mal waren. Die Leute werden ſich wundern, aber es ſchadet 
nichts. Ich denke, wir fahren hier an der Plantage lang und 
dann links auf den Kroſchentiner Kirchturm zu. Laſſen Sie die 
Pferde laufen. Um eins muͤſſen wir am Bahnhof ſein.“ 
Und ſo ging die Fahrt. Über den weißen Daͤchern der Stadt 
ſtand der Rauch, denn die Luftbewegung war gering. "on 


2I2 


Utpatels Mühle drehte ſich nur langſam, und im Fluge fuhren 
ſie daran voruͤber, dicht am Kirchhofe hin, deſſen Berberitzen⸗ 
ſtraͤucher über das Gitter hinauswuchſen und mit ihren Spitzen 
Effi ſtreiften, ſo daß der Schnee auf ihre Reiſedecke fiel. An 
der anderen Seite des Wegs war ein eingefriedeter Platz, nicht 
viel größer als ein Gartenbeet, und innerhalb nichts ſichtbar 
als eine junge Kiefer, die mitten daraus hervorragte. 

„Liegt da auch wer begraben?“ fragte Effi. 

„Ja. Der Chineſe.“ 

Effi fuhr zuſammen; es war ihr wie ein Stich. Aber ſie 
hatte doch Kraft genug, ſich zu beherrſchen und fragte mit an⸗ 
ſcheinender Ruhe: „Unſerer?“ 

„Ja, unſerer. Auf dem Gemeindekirchhof war er natuͤrlich 
nicht unterzubringen, und da hat denn Kapitaͤn Thomſen, der 
ſo was wie ſein Freund war, dieſe Stelle gekauft und ihn hier 
begraben laſſen. Es iſt auch ein Stein da mit Inſchrift. Alles 
natuͤrlich vor meiner Zeit. Aber es wird noch immer davon 
geſprochen.“ 

„Alſo es iſt doch was damit. Eine Geſchichte. Du ſagteſt 
ſchon heute fruͤh ſo was. Und es wird am Ende das beſte ſein, 
ich hoͤre, was es iſt. So lang ich es nicht weiß, bin ich, trotz 
aller guten Vorſaͤtze, doch immer ein Opfer meiner Vorſtellungen. 
Erzaͤhle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann mich nicht ſo 
quaͤlen wie meine Phantaſie.“ 

„Bravo, Effi. Ich wollte nicht davon ſprechen. Aber nun 
macht es ſich ſo von ſelbſt, und das c gut. Übrigens iſt es eigent⸗ 
lich gar nichts.“ 

„Mir gleich; gar nichts oder viel oder wenig. Fange nur an.“ 

„Ja, das iſt leicht geſagt. Der Anfang iſt immer das 
ſchwerſte, auch bei Geſchichten. Nun, ich denke, ich beginne 
mit Kapitaͤn Thomſen.“ 

„Gut, gut.“ 

„Alſo Thomſen, den ich dir ſchon genannt habe, war viele 


213 


Jahre lang ein ſogenannter Chinafahrer, immer mit Reis; 
fracht zwiſchen Schanghai und Singapur, und mochte wohl 
ſchon ſechzig ſein, als er hier ankam. Ich weiß nicht, ob er hier 
geboren war oder ob er andere Beziehungen hier hatte. Kurz 
und gut, er war nun da und verkaufte ſein Schiff, einen alten 
Kaſten, draus er nicht viel herausſchlug und kaufte ſich ein 
Haus, dasſelbe, drin wir jetzt wohnen. Denn er war draußen 
in der Welt ein vermoͤgender Mann geworden. Und von da⸗ 
her ſchreibt ſich auch das Krokodil und der Haifiſch und natuͤrlich 


auch das Schiff ... Alſo Thomſen war nun da, ein ſehr adretter 


Mann (fo wenigſtens hat man mir geſagt) und wohlgelitten. 
Auch beim Buͤrgermeiſter Kirſtein, und vor allem bei dem da⸗ 
maligen Paſtor in Keſſin, einem Berliner, der kurz vor Thomſen 
auch hierher gekommen war und viel Anfeindung hatte.“ 

„Glaub ich. Ich merke das auch; ſie ſind hier ſo ſtreng und 
ſelbſtgerecht. Ich glaube, das iſt pommerſch.“ 

„Ja und nein, je nachdem. Es gibt auch Gegenden, wo 
fie gar nicht ſtreng find und wo's drunter und drüber geht 
Aber ſieh nur, Effi, da haben wir gerade den Kroſchentiner 
Kirchturm dicht vor uns. Wollen wir nicht den Bahnhof auf⸗ 
geben und lieber bei der alten Frau von Graſenabb vorfahren? 
Sidonie, wenn ich recht berichtet bin, iſt nicht zu Hauſe. Wir 
koͤnnten es alſo wagen ...“ 

„Ich bitte dich, Geert, wo denkſt du hin? Es iſt ja himmliſch, 
ſo hinzufliegen, und ich fuͤhle ordentlich, wie mir ſo frei wird 
und wie alle Angſt von mir abfaͤllt. Und nun ſoll ich das alles 
aufgeben, bloß um den alten Leuten eine Stippviſite zu machen 
und ihnen ſehr wahrſcheinlich eine Verlegenheit zu ſchaffen. 
Um Gottes willen nicht. Und dann will ich vor allem auch die 
Geſchichte hoͤren. Alſo wir waren bei Kapitaͤn Thomſen, den ich 
mir als einen Daͤnen oder Englaͤnder denke, ſehr ſauber, 
mit weißen Vatermoͤrdern und ganz weißer Waͤſche ...“ 

„Ganz richtig. So ſoll er geweſen ſein. Und mit ihm war 


214 


2 


J 


eine junge Perſon von etwa zwanzig, von der einige fagen, fie 
ſei ſeine Nichte geweſen, aber die meiſten ſagen ſeine Enkelin, 
was übrigens den Jahren nach kaum moͤglich. Und außer 
der Enkelin oder der Nichte war da auch noch ein Chineſe, der⸗ 
ſelbe, der da zwiſchen den Duͤnen liegt und an deſſen Grab wir 
eben voruͤbergekommen ſind.“ 

„Gut, gut.“ 

„Alſo dieſer Chineſe war Diener bei Thomſen, und Thomſen 
hielt ſo große Stuͤcke auf ihn, daß er eigentlich mehr Freund 
als Diener war. Und das ging ſo Jahr und Tag. Da mit einem 
Male hieß es, Thomſens Enkelin, die, glaub ich, Nina hieß, ſolle 
ſich, nach des Alten Wunſche, verheiraten, auch mit einem Kapi⸗ 
taͤn. Und richtig, ſo war es auch. Es gab eine große Hochzeit 
im Hauſe, der Berliner Paſtor tat ſie zuſammen, und Muͤller 
Utpatel, der ein Konventikler war, und Gies huͤbler, dem man 
in der Stadt in kirchlichen Dingen auch nicht recht traute, waren 
geladen, und vor allem viele Kapitaͤne mit ihren Frauen und 
Töchtern. Und wie man ſich denken kann, es ging hoch her. Am 
Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und zu⸗ 
letzt auch mit dem Chineſen. Da mit einem Male hieß es, ſie ſei 
fort, die Braut naͤmlich. Und ſie war auch wirklich fort, irgend⸗ 
wohin, und niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach 
vierzehn Tagen ſtarb der Chineſe; Thomſen kaufte die Stelle, 
die ich dir gezeigt habe, und da wurd er begraben. Der Berliner 
Paſtor aber ſoll geſagt haben: Man haͤtte ihn auch ruhig auf 
dem chriſtlichen Kirchhof begraben koͤnnen, denn der Chineſe 
ſei ein ſehr guter Menſch geweſen und geradeſo gut wie die 
andern. Wen er mit den „andern“ eigentlich gemeint hat, 
ſagte mir Gieshuͤbler, das wiſſe man nicht recht.“ 

„Aber ich bin in dieſer Sache doch ganz und gar gegen den 
Paſtor; ſo was darf man nicht ausſprechen, weil es gewagt 
und unpaſſend iſt. Das wuͤrde ſelbſt Niemeyer nicht geſagt 
haben.“ 


215 


„Und iſt auch dem armen Paſtor, der übrigens Trippel 
hieß, ſehr verdacht worden, fo daß es eigentlich ein Gluck war, 
daß er druͤber hin ſtarb, ſonſt haͤtte er ſeine Stelle verloren. 
Denn die Stadt, trotzdem ſie ihn gewaͤhlt, war doch auch gegen 
ihn, gerade ſo wie du, und das Konſiſtorium natuͤrlich erſt 
recht.“ 

„Trippel ſagſt du? Dann haͤngt er am Ende mit der Frau 
Paſtor Trippel zuſammen, die wir heute abend ſehen ſollen?“ 

„Natuͤrlich haͤngt er mit der zuſammen. Er war ihr Mann 
und iſt der Vater von der Trippelli.“ 

Effi lachte. „Von der Trippelli! Nun ſehe ich erſt klar in 
allem. Daß fie in Keſſin geboren, ſchrieb ja ſchon Gieshuͤbler; 
aber ich dachte, fie ſei die Tochter von einem italieniſchen Konſul. 
Wir haben ja ſo viele fremdlaͤndiſche Namen hier. Und nun iſt 
ſie gut deutſch und ſtammt von Trippel. Iſt ſie denn ſo vor⸗ 
zuͤglich, daß ſie wagen konnte, ſich ſo zu italieniſieren?“ 

„Dem Mutigen gehört die Welt. Übrigens iſt fie ganz 
tuͤchtig. Sie war ein paar Jahr lang in Paris bei der berühmten 
Viardot, wo ſie auch den ruſſiſchen Fuͤrſten kennen lernte, denn 
die ruſſiſchen Fuͤrſten find ſehr aufgeklärt, über Heine Standes⸗ 
vorurteile weg, und Kotſchukoff und Gieshuͤbler — den ſie 
uͤbrigens „Onkel' nennt, und man kann faſt von ihm fagen, 
er ſei der geborene Onkel —, dieſe beiden ſind es recht eigentlich, 
die die kleine Marie Trippel zu dem gemacht haben, was ſie 
jetzt iſt. Gieshuͤbler war es, durch den ſie nach Paris kam, und 
Kotſchukoff hat ſie dann in die Trippelli transponiert.“ 

„Ach, Geert, wie reizend iſt das alles und welch Alltags⸗ 
leben habe ich doch in Hohen⸗Cremmen gefuͤhrt! Nie was 
Apartes.“ 

Innſtetten nahm ihre Hand und ſagte: „So darfſt du nicht 
ſprechen, Effi. Spuk, dazu kann man ſich ſtellen wie man will. 
Aber huͤte dich vor dem Aparten oder was man ſo das Aparte 
nennt. Was dir fo verlockend erſcheint — und ich rechne auch 


216 


Br; 
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F 
4 
3 


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ein Leben dahin, wie's die Trippelli führt —, das beiahlt man 
in der Regel mit ſeinem Gluͤck. Ich weiß wu wie ſehr du dein 
Hohen⸗Cremmen liebſt und daran haͤngſt, aber du ſpotteſt doch 
auch oft darüber und haft keine Ahnung davon, was ſtille Tage, 


wie die Hohen⸗Cremmner, bedeuten.“ 


„Doch, doch,“ ſagte ſie. „Ich weiß es wohl. Ich hoͤre nur 
gern einmal von etwas anderem, und dann wandelt mich die 
Luſt an, mit dabei zu fein. Aber du haſt ganz recht. Und eigent⸗ 
lich hab ich doch eine Sehnſucht nach Ruh und Frieden.“ 

Innſtetten drohte ihr mit dem Finger. „Meine einzig 
liebe Effi, das denkſt du dir nun auch wieder ſo aus. Immer 


Phantaſien, mal fo, mal fo.” 


Elftes Kapitel 


Die Fahrt verlief ganz wie geplant. Um ein Uhr hielt der 
Schlitten unten am Bahndamm vor dem Gaſthauſe „Zum 
Fuͤrſten Bismarck,“ und Golchowski, gluͤcklich, den Landrat 
bei ſich zu ſehen, war befliſſen, ein vorzuͤgliches Dejeuner her⸗ 


zurichten. Als zuletzt das Deſſert und der Ungarwein auf⸗ 


getragen wurden, rief Innſtetten den von Zeit zu Zeit erſcheinen⸗ 
den und nach der Ordnung ſehenden Wirt heran und bat ihn, 
ſich mit an den Tiſch zu ſetzen und ihnen was zu erzählen. Dazu 
war Golchowski denn auch der rechte Mann; auf zwei Meilen 
in der Runde wurde kein Ei gelegt, von dem er nicht wußte. 
Das zeigte ſich auch heute wieder. Sidonie Graſenabb, Inn⸗ 
ſtetten hatte recht vermutet, war, wie vorige Weihnachten, ſo 
auch diesmal wieder auf vier Wochen zu „Hofpredigers“ gereiſt; 
Frau von Palleske, ſo hieß es weiter, habe ihre Jungfer wegen 
einer fatalen Geſchichte Knall und Fall entlaffen muͤſſen, und 
mit dem alten Fraude ſteh es ſchlecht — es werde zwar in Kurs 
geſetzt, er ſei bloß ausgeglitten, aber es ſei ein Schlaganfall 


217 


geweſen, und der Sohn, der in Liſſa bei den Huſaren ſtehe, 
werde jede Stunde erwartet. Nach dieſem Geplaͤnkel war man 
dann, zu Ernſthafterem uͤbergehend, auf Varzin gekommen. 
„Ja,“ ſagte Golchowski, „wenn man ſich den Fuͤrſten ſo als 
Papiermuͤller denkt! Es iſt doch alles ſehr merkwuͤrdig; eigent⸗ 
lich kann er die Schreiberei nicht leiden, und das bedruckte Pa⸗ 
pier erſt recht nicht, und nun legt er doch ſelber eine Papier⸗ 
muͤhle an.“ 

„Schon recht, lieber Golchowski,“ ſagte Innſtetten, „aber 
aus ſolchen Widerſpruͤchen kommt man im Leben nicht heraus. 
Und da hilft auch kein Fuͤrſt und keine Groͤße.“ 

„Nein, nein, da hilft keine Groͤße.“ 

Wahrſcheinlich, daß ſich dies Geſpraͤch uͤber den Fuͤrſten 
noch fortgeſetzt haͤtte, wenn nicht in eben dieſem Augenblicke 
die von der Bahn her heruͤberklingende Signalglocke einen 
bald eintreffenden Zug angemeldet haͤtte. Innſtetten ſah nach 
der Uhr. 

„Welcher Zug iſt das, Golchowski?“ 

„Das iſt der Danziger Schnellzug; er haͤlt hier nicht, aber 
ich gehe doch immer hinauf und zaͤhle die Wagen, und mit⸗ 
unter ſteht auch einer am Fenſter, den ich kenne. Hier gleich 
hinter meinem Hofe fuͤhrt eine Treppe den Damm hinauf, 
Waͤrterhaus 417.“ 

„O, das wollen wir uns zunutze machen,“ ſagte Effi. „Ich 
ſehe fo gern Züge...” 

„Dann iſt es die hoͤchſte Zeit, gnaͤdge Frau.“ 

Und ſo machten ſich denn alle drei auf den Weg und ſtellten 
ſich, als ſie oben waren, in einem neben dem Waͤrterhauſe ge⸗ 
legenen Gartenſtreifen auf, der jetzt freilich unter Schnee lag, 
aber doch eine freigeſchaufelte Stelle hatte. Der Bahnwaͤrter 
ſtand ſchon da, die Fahne in der Hand. Und jetzt jagte der Zug 
uͤber das Bahnhofsgeleiſe hin und im naͤchſten Augenblick 


an dem Häuschen und an dem Gartenſtreifen vorüber. Efft war 


218 


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ſo erregt, daß fie nichts ſah und nur dem letzten Wagen, auf 
deſſen Höhe ein Bremſer ſaß, ganz wie benommen nachblickte. 

„Sechs Uhr fuͤnfzig iſt er in Berlin,“ ſagte Innſtetten, „und 
noch eine Stunde ſpaͤter, fo können ihn die Hohen⸗Cremmner, 
wenn der Wind ſo ſteht, in der Ferne vorbeiklappern hoͤren. 
Moͤchteſt du mit, Effi?“ 

Sie ſagte nichts. Als er aber zu ihr hinuͤberblickte, ſah er, 
daß eine Traͤne in ihrem Auge ſtand. 


Era war, als der Zug vorbeijagte, von einer herzlichen 
Sehnſucht erfaßt worden. So gut es ihr ging, ſie fuͤhlte ſich 
trotzdem wie in einer fremden Welt. Wenn ſie ſich eben noch 
an dem einen oder andern entzuͤckt hatte, ſo kam ihr doch gleich 
nachher zum Bewußtſein, was ihr fehlte. Da druͤben lag Var⸗ 
zin, und da nach der anderen Seite hin blitzte der Kroſchentiner 
Kirchturm auf, und weithin der Morgenitzer, und da ſaßen 
die Graſenabbs und die Borckes, nicht die Bellings und nicht 
die Brieſts. „Ja, die!“ Innſtetten hatte ganz recht gehabt 
mit dem raſchen Wechſel ihrer Stimmung, und ſie ſah jetzt 
wieder alles, was zuruͤcklag, wie in einer Verklaͤrung. Aber ſo 
gewiß ſie voll Sehnſucht dem Zuge nachgeſehen, ſie war doch 
andererſeits viel zu beweglichen Gemuͤts, um lange dabei zu ver⸗ 
weilen, und ſchon auf der Heimfahrt, als der rote Ball der 
niedergehenden Sonne ſeinen Schimmer uͤber den Schnee 
ausgoß, fuͤhlte ſie ſich wieder freier; alles erſchien ihr ſchoͤn und 
friſch, und als ſie, nach Keſſin zuruͤckgekehrt, faſt mit dem 
Glockenſchlage ſieben in den Gieshuͤblerſchen Flur eintrat, war 
ihr nicht bloß behaglich, ſondern beinah uͤbermuͤtig zu Sinn, 
wozu die das Haus durchziehende Baldrian⸗ und Veilchen⸗ 
wurzelluft das ihrige beitragen mochte. 

Puͤnktlich waren Innſtetten und Frau erſchienen, aber 
trotz dieſer Puͤnktlichkeit immer noch hinter den anderen Ge⸗ 
ladenen zuruͤckgeblieben; Paſtor Lindequiſt, die alte Frau 


219 


eee 3 


Trippel und die Trippelli ſelbſt waren ſchon da. Gieshuͤbler 
— im blauen Frack mit mattgoldenen Knoͤpfen, dazu Pincenez 
an einem breiten, ſchwarzen Bande, das wie ein Ordens band 
auf der blendendweißen Piquéeweſte lag — Gieshuͤbler konnte 
ſeiner Erregung nur mit Muͤhe Herr werden. „Darf ich die 
Herrſchaften miteinander bekannt machen: Baron und Baronin 
Innſtetten, Frau Paſtor Trippel, Fraͤulein Marietta Trippelli.“ 
Paſtor Lindequiſt, den alle kannten, ſtand laͤchelnd beiſeite. 
Die Trippelli, Anfang der Dreißig, ſtark maͤnnlich und von 
ausgeſprochen humoriſtiſchem Typus, hatte bis zu dem Mo⸗ 
mente der Vorſtellung den Sofa⸗Ehrenplatz innegehabt. 
Nach der Vorſtellung aber ſagte ſie, waͤhrend ſie auf einen in der 
Naͤhe ſtehenden Stuhl mit hoher Lehne zuſchritt: „Ich bitte 
Sie nunmehro, gnaͤdge Frau, die Buͤrden und Faͤhrlichkeiten 
Ihres Amtes auf ſich nehmen zu wollen. Denn von, Faͤhrlich⸗ 


keiten! — und fie wies auf das Sofa — wird ſich in dieſem 


Falle wohl ſprechen laſſen. Ich habe Gieshuͤbler ſchon vor 


Jahr und Tag darauf aufmerkſam gemacht, aber leider ver 


geblich; ſo gut er iſt, ſo eigenſinnig iſt er auch.“ 
„Aber Marietta ...“ 


„Dies Sofa nämlich, deſſen Geburt um wenigſtens fünfzig 1 


Jahre zuruͤckliegt, iſt noch nach einem altmodiſchen Verſen⸗ 
kungsprinzip gebaut, und wer ſich ihm anvertraut, ohne vorher 


einen Kiſſenturm untergeſchoben zu haben, ſinkt ins Boden⸗ 


loſe, jedenfalls aber gerade tief genug, um die Knie wie ein 
Monument aufragen zu laſſen.“ All dies wurde ſeitens der 
Trippelli mit ebenſoviel Bonhomie wie Sicherheit hingeſpro⸗ 
chen, in einem Tone, der ausdruͤcken ſollte: „Du biſt die Baronin 
Innſtetten, ich bin die Trippelli.“ 

Gieshuͤbler liebte feine Kuͤnſtlerfreundin enthuſiaſtiſch und 
dachte hoch von ihren Talenten; aber all ſeine Begeiſterung 
konnte ihn doch nicht blind gegen die Tatſache machen, daß ihr 


von geſellſchaftlicher Feinheit nur ein beſcheidenes Maß zuteil 3 


220 


1 
” 


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geworden war. Und dieſe Feinheit war gerade das, was er 


perfönlich kultivierte. „Liebe Marietta,“ nahm er das Wort, 
„Sie haben eine ſo reizend heitere Behandlung ſolcher Fragen; 
aber was mein Sofa betrifft, ſo haben Sie wirklich unrecht, 
und jeder Sachverſtaͤndige mag zwiſchen uns entſcheiden. Selbſt 
ein Mann wie Fuͤrſt Kotſchukoff ...“ 

„Ach, ich bitte Sie, Gieshuͤbler, laſſen Sie doch den. Immer 
Kotſchukoff. Sie werden mich bei der gnaͤdgen Frau hier noch 
in den Verdacht bringen, als ob ich bei dieſem Fuͤrſten — der 
uͤbrigens nur zu den Kleineren zaͤhlt und nicht mehr als tau⸗ 
ſend Seelen hat, das heißt hatte (fruͤher, wo die Rechnung 
noch nach Seelen ging) —, als ob ich ſtolz waͤre, ſeine tauſend⸗ 
undeinſte Seele zu fein. Nein, es liegt wirklich anders; ‚immer 
frei weg‘, Sie kennen meine Devife, Gieshuͤbler. Kotſchukoff 
iſt ein guter Kamerad und mein Freund, aber von Kunſt und 
aͤhnlichen Sachen verſteht er gar nichts, von Muſik gewiß nicht, 
wiewohl er Meſſen und Oratorien komponiert — die meiſten 
ruſſiſchen Fuͤrſten, wenn ſie Kunſt treiben, fallen ein bißchen nach 
der geiſtlichen oder orthodoxen Seite hin —, und zu den vielen 
Dingen, von denen er nichts verſteht, gehoͤren auch unbedingt 
Einrichtungs⸗ und Tapezierfragen. Er iſt gerade vornehm 
genug, um ſich alles ſchoͤn aufreden zu laſſen, was bunt ausſieht 
und viel Geld koſtet.“ 

Innſtetten amuͤſierte ſich, und Paſtor Lindequiſt war in 
einem allerſichtlichſten Behagen. Die gute alte Trippel aber 
geriet uͤber den ungenierten Ton ihrer Tochter aus einer Ver⸗ 
legenheit in die andere, waͤhrend Gieshuͤbler es fuͤr angezeigt 
hielt, eine ſo ſchwierig werdende Unterhaltung zu coupieren. 
Dazu waren etliche Geſangspiecen das beſte. Daß Marietta 
Lieder von anfechtbarem Inhalt waͤhlen wuͤrde, war nicht an⸗ 
zunehmen, und ſelbſt wenn dies ſein ſollte, ſo war ihre Vor⸗ 
tragskunſt ſo groß, daß der Inhalt dadurch geadelt wurde. 


„Liebe Marietta,“ nahm er alſo das Wort, „ich habe unſer kleines 


221 


Mahl zu acht Uhr beſtellt. Wir Hätten alſo noch drei Viertel 
ſtunden, wenn Sie nicht vielleicht vorziehen, waͤhrend Tiſch 
ein heitres Lied zu ſingen oder vielleicht erſt, wenn wir von 
Tiſch aufgeſtanden find...” 

„Ich bitte Sie, Gieshuͤbler! Sie, der Mann der Aſthetik. 
Es gibt nichts Unaͤſthetiſcheres als einen Geſangsvortrag mit 
vollem Magen. Außerdem — und ich weiß, Sie ſind ein 
Mann der ausgeſuchten Kuͤche, ja, Gourmand — außerdem 
ſchmeckt es beſſer, wenn man die Sache hinter ſich hat. Erſt 
Kunſt und dann Nußeis, das iſt die richtige Reihenfolge.“ 

„Alſo ich darf Ihnen die Noten bringen, Marietta?“ 

„Noten bringen. Ja, was heißt das, Gies huͤbler? Wie ich 
Sie kenne, werden Sie ganze Schraͤnke voll Noten haben, und 
ich kann Ihnen doch nicht den ganzen Bock und Bote vorſpielen. 
Noten! Was fuͤr Noten, Gieshuͤbler, darauf kommt es an. 
Und dann, daß es richtig liegt, Altſtimme ...“ 

„Nun, ich werde ſchon bringen.“ 

Und er machte ſich an einem Schranke zu ſchaffen, ein Fach 
nach dem andern herausziehend, waͤhrend die Trippelli ihren 
Stuhl weiter links um den Tiſch herum ſchob, ſo daß ſie nun 
dicht neben Effi ſaß. 

„Ich bin neugierig, was er bringen wird,“ ſagte fie. Effi 
geriet dabei in eine kleine Verlegenheit. 

„Ich moͤchte annehmen,“ antwortete ſie befangen, „etwas 
von Gluck, etwas ausgeſprochen Dramatiſches ... Überhaupt, 
mein gnaͤdigſtes Fraͤulein, wenn ich mir die Bemerkung er⸗ 
lauben darf, ich bin uͤberraſcht, zu hoͤren, daß Sie lediglich 
Konzertſaͤngerin ſind. Ich daͤchte, daß Sie, wie wenige, fuͤr die 
Buͤhne berufen ſein muͤßten. Ihre Erſcheinung, Ihre Kraft, 
Ihr Organ . . ich habe noch fo wenig derart kennen gelernt, 
immer nur auf kurzen Beſuchen in Berlin ... und dann war 
ich noch ein halbes Kind. Aber ich daͤchte, Orpheus oder, Chrim⸗ 
bild‘ oder die „Veſtalin“.“ 


222 


Die Trippelli wiegte den Kopf und fah in Abgründe, kam 
aber zu keiner Entgegnung, weil eben jetzt Gieshuͤbler wieder 
erſchien und ein halbes Dutzend Notenhefte vorlegte, die ſeine 
Freundin in raſcher Reihenfolge durch die Hand gleiten ließ. 
„Erlkoͤnig .. . ah, bah; ‚Bächlein laß dein Rauſchen fein... 
Aber Gieshuͤbler, ich bitte Sie, Sie ſind ein Murmeltier, Sie 
haben ſieben Jahre lang geſchlafen ... Und hier Loͤweſche 
Balladen; auch nicht gerade das Neueſte. „Glocken von Speier 
.. . Ach, dies ewige Bim⸗Bam, das beinah einer Kuliſſen⸗ 
reißerei gleichkommt, iſt geſchmacklos und abgeſtanden. Aber 
hier ‚Ritter Olaf ... nun, das geht.“ 

Und ſie ſtand auf, und waͤhrend der Paſtor begleitete, ſang 
fie den „Olaf mit großer Sicherheit und Bravour und erntete 

allgemeinen Beifall. 

Es wurde dann noch aͤhnlich Romantiſches gefunden, 
einiges aus dem „Fliegenden Holländer‘ und aus ‚Zampa‘, 
dann der ‚Heidefnabe‘, lauter Sachen, die fie mit ebenſoviel 
Virtuoſitaͤt wie Seelenruhe vortrug, während Effi von Text 
und Kompoſition wie benommen war. 

Als die Trippelli mit dem „Heideknaben“ fertig war, ſagte 
ſie: „Nun iſt es genug,“ eine Erklaͤrung, die ſo beſtimmt von 

ihr abgegeben wurde, daß weder Gieshuͤbler noch ein anderer 
den Mut hatte, mit weiteren Bitten in ſie zu dringen. Am 
wenigſten Effi. Dieſe ſagte nur, als Gieshuͤblers Freundin 
wieder neben ihr ſaß: „Daß ich Ihnen doch ſagen koͤnnte, mein 
gnaͤdigſtes Fraͤulein, wie dankbar ich Ihnen bin! Alles ſo ſchoͤn, 
ſo ſicher, ſo gewandt. Aber eines, wenn Sie mir verzeihen, be⸗ 
wundere ich faſt noch mehr, das iſt die Ruhe, womit Sie dieſe 
Sachen vorzutragen wiſſen. Ich bin ſo leicht Eindruͤcken hin⸗ 
gegeben, und wenn ich die kleinſte Geſpenſtergeſchichte hoͤre, 
ſo zittere ich und kann mich kaum wieder zurechtfinden. Und 
Sie tragen das ſo maͤchtig und erſchuͤtternd vor und ſind ſelbſt 
ganz heiter und guter Dinge.“ 


223 


BR 


„Ja, meine gnädigfte Frau, das iſt in der Kunſt nicht anders. 
Und nun gar erſt auf dem Theater, vor dem ich uͤbrigens 
gluͤcklicherweiſe bewahrt geblieben bin. Denn ſo gewiß ich mich 
perſoͤnlich gegen ſeine Verſuchungen gefeit fuͤhle — es verdirbt 
den Ruf, alſo das Beſte, was man hat. Im uͤbrigen ſtumpft 
man ab, wie mir Kolleginnen hundertfach verſichert haben. Da 
wird vergiftet und erſtochen, und der toten Julia fluͤſtert Romeo 
einen Kalauer ins Ohr oder wohl auch eine Malice, oder er 3 
ihr einen kleinen Liebesbrief in die Hand.“ 

„Es iſt mir unbegreiflich. Und um bei dem ſtehenzubleiben, 
was ich Ihnen dieſen Abend verdanke, beiſpielsweiſe bei dem 
Geſpenſtiſchen im „Olaf“, ich verſichere Ihnen, wenn ich einen 
aͤngſtlichen Traum habe, oder wenn ich glaube, über mir hörte 
ich ein leiſes Tanzen oder Muſizieren, während doch niemand 
da iſt, oder es ſchleicht wer an meinem Bette vorbei, ſo bin ich 
außer mir und kann es tagelang nicht vergeſſen.“ 

„Ja, meine gnaͤdigſte Frau, was Sie da ſchildern und be⸗ 
ſchreiben, das iſt auch etwas anderes, das iſt ja wirklich oder 
kann wenigſtens etwas Wirkliches ſein. Ein Geſpenſt, das 
durch die Ballade geht, da graule ich mich gar nicht, aber ein 
Geſpenſt, das durch meine Stube geht, iſt mir, geradeſo wie 
andern, ſehr unangenehm. Darin empfinden wir alſo ganz gleich.“ 

„Haben Sie denn dergleichen auch einmal erlebt?“ 5 

„Gewiß. Und noch dazu bei Kotſchukoff. Und ich habe 
mir auch ausbedungen, daß ich diesmal anders ſchlafe, vielleicht 
mit der engliſchen Gouvernante zuſammen. Das iſt naͤmlich 
eine Quaͤkerin, und da iſt man ſicher.“ 4 | 

„Und Sie halten dergleichen für möglich?” 4 

„Meine gnaͤdigſte Frau, wenn man fo alt ift wie ich und viel 
rumgeſtoßen wurde und in Rußland war und ſogar auch ein 
halbes Jahr in Rumänien, da hält man alles für moglich. 
Es gibt ſo viel ſchlechte Menſchen, und das andere findet ſich 
dann auch, das gehoͤrt dann ſozuſagen mit dazu.“ N 


224 


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2 3 
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eff horchte auf. 
„Ich bin,“ fuhr die Trippelli fort, „aus einer ſehr auf⸗ 
geklaͤrten Familie (bloß mit Mutter war es immer nicht ſo 


recht), und doch ſagte mir mein Vater, als das mit dem Pſycho⸗ 


graphen aufkam: ‚Höre Marie, das iſt was. Und er hat recht 


gehabt, es iſt auch was damit. Überhaupt, man iſt links und 
rechts umlauert, hinten und vorn. Sie werden das noch kennen 
lernen.“ 

In dieſem Augenblicke trat Gieshuͤbler heran und bot Effi 
den Arm, Innſtetten fuͤhrte Marietta, dann folgte Paſtor 
Lindequiſt und die verwitwete Trippel. So ging man zu Tiſch. 


Zwoͤlftes Kapitel 


Es war ſpaͤt, als man aufbrach. Schon bald nach zehn 
hatte Effi zu Gieshuͤbler geſagt: „Es ſei nun wohl Zeit; Fraͤu⸗ 
lein Trippelli, die den Zug nicht verſaͤumen duͤrfe, muͤſſe ja 
ſchon um ſechs von Keſſin aufbrechen;“ die daneben ſtehende 
Trippelli aber, die dieſe Worte gehoͤrt, hatte mit der ihr eigenen 
ungenierten Beredſamkeit gegen ſolche zarte Ruͤckſichtnahme 
proteſtiert. „Ach, meine gnaͤdigſte Frau, Sie glauben, daß 
unſereins einen regelmaͤßigen Schlaf braucht, das trifft aber 
nicht zu; was wir regelmaͤßig brauchen, heißt Beifall und hohe 
Preiſe. Ja, lachen Sie nur. Außerdem (ſo was lernt man) 
kann ich auch im Coupé ſchlafen, in jeder Situation und ſogar 
auf der linken Seite und brauche nicht einmal das Kleid auf⸗ 


zumachen. Freilich bin ich auch nie eingepreßt; Bruſt und 
Lunge muͤſſen immer frei fein, und vor allem das Herz. Ja, 


meine gnaͤdigſte Frau, das iſt die Hauptſache. Und dann das 
Kapitel Schlaf uͤberhaupt, — die Menge tut es nicht, was ent⸗ 
ſcheidet, iſt die Qualitat; ein guter Nicker von fünf Minuten 


iſt beſſer als fuͤnf Stunden unruhige Rumdreherei, mal links, 


IV ı5 225 


mal rechts. Übrigens ſchlaft man in Rußland wundervoll, 
trotz des ſtarken Tees. Es muß die Luft machen oder das ſpaͤte 
Diner oder weil man ſo verwoͤhnt wird. Sorgen gibt es in 
Rußland nicht; darin — im Geldpunkt ſind beide gleich — iſt 
Rußland noch beſſer als Amerika.“ 

Nach dieſer Erklärung der Trippelli hatte Effi von allen 
Mahnungen zum Aufbruch Abſtand genommen, und ſo war 
Mitternacht herangekommen. Man trennte ſich heiter und herz⸗ 
lich und mit einer gewiſſen Vertraulichkeit. 

Der Weg von der Mohrenapotheke bis zur landraͤtlichen 
Wohnung war ziemlich weit; er kuͤrzte ſich aber dadurch, daß 
Paſtor Lindequiſt bat, Innſtetten und Frau eine Strecke be⸗ 
gleiten zu dürfen; ein Spaziergang unterm Sternenhimmel 
ſei das beſte, um über Gieshuͤblers Rheinwein hinwegzukommen. 
Unterwegs wurde man natuͤrlich nicht muͤde, die verſchieden⸗ 
ſten Trippelliana heranzuziehen; Effi begann mit dem, was 
ihr in Erinnerung geblieben, und gleich nach ihr kam der Paſtor 
an die Reihe. Dieſer, ein Ironikus, hatte die Trippelli, wie nach 
vielem ſehr Weltlichen, ſo ſchließlich auch nach ihrer kirchlichen 
Richtung gefragt und dabei von ihr in Erfahrung gebracht, 
daß fie nur eine Richtung kenne, die orthodoxe. Ihr Vater 
ſei freilich ein Rationaliſt geweſen, faſt ſchon ein Freigeiſt, wes⸗ 
halb er auch den Chineſen am liebſten auf dem Gemeinde⸗ 
kirchhof gehabt hätte; fie ihrerſeits ſei aber ganz entgegengeſetzter 
Anſicht, trotzdem ſie perfänlich des großen Vorzugs genieße, 
gar nichts zu glauben. Aber ſie ſei ſich in ihrem entſchiedenen 
Nichtglauben doch auch jeden Augenblick bewußt, daß das 
ein Speziallurus ſei, den man ſich nur als Privatperſon ges 
ſtatten könne. Staatlich höre der Spaß auf, und wenn ihr 
das Kultus miniſterium oder gar ein Konſiſtorialregiment f 
unterftünde, fo wuͤrde fie mit unnachſichtiger Strenge vor 
gehen. „Ich fühle fo was von einem Torquemada in mir.“ 1 

Innſtetten war ſehr erheitert und erzählte ſeinerſeits, daß 


226 


— N 


er etwas ſo Heikles, wie das Dogmatiſche, gefliſſentlich ver; 
mieden, aber dafuͤr das Moraliſche deſto mehr in den Vorder⸗ 
grund geſtellt habe. Hauptthema ſei das Verfuͤhreriſche ge⸗ 
weſen, das beſtaͤndige Gefaͤhrdetſein, das in allem oͤffentlichen 
Auftreten liege, worauf die Trippelli leichthin und nur mit 
Betonung der zweiten Satzhaͤlfte geantwortet habe: „Ja, be⸗ 
ſtaͤndig gefährdet; am meiſten die Stimme.“ 

Unter ſolchem Geplauder war, ehe man ſich trennte, der 
Trippelli⸗Abend noch einmal an ihnen voruͤbergezogen, und 
erſt drei Tage fpäter hatte ſich Gieshuͤblers Freundin durch ein 
von Petersburg aus an Effi gerichtetes Telegramm noch ein⸗ 
mal in Erinnerung gebracht. Es lautete: Madame la Baronne 
d’Innstetten, nee de Briest. Bien arrivee. Prince K. à la gare. 
Plus épris de moi que jamais. Mille fois merci de votre bon 
accueil. Compliments empresses A Monsieur le Baron. Ma 
rietta Trippelli. 

Innſtetten war entzuͤckt und gab dieſem Entzuͤcken lebhafteren 
Ausdruck, als Effi begreifen konnte. 

„Ich verſtehe dich nicht, Geert.“ 

„Weil du die Trippelli nicht verſtehſt. Mich ale die 
Echtheit; alles da, bis auf das Puͤnktchen uͤberm i.“ 

„Du nimmſt alſo alles als eine Komoͤdie?“ 

„Aber als was ſonſt? Alles berechnet fuͤr dort und fuͤr hier, 
für Kotſchukoff und für Gieshuͤbler. Gieshuͤbler wird wohl 
eine Stiftung machen, vielleicht auch bloß ein Legat fuͤr die 
Trippelli.“ 

Die muſikaliſche Soiree bei Gieshuͤbler hatte Mitte De⸗ 
zember ſtattgefunden, gleich danach begannen die Vorberei⸗ 
tungen für Weihnachten, und Effi, die ſonſt ſchwer über dieſe 
Tage hingekommen waͤre, ſegnete es, daß ſie ſelber einen Haus⸗ 

ſtand hatte, deſſen Anſpruͤche befriedigt werden mußten. Es 
galt nachſinnen, fragen, anſchaffen, und das alles ließ truͤbe 
Gedanken nicht aufkommen. Am Tage vor Heiligabend trafen 


15* 227 


Geſchenke von den Eltern aus Hohen⸗Cremmen ein, und mit 
in die Kiſte waren allerhand Kleinigkeiten aus dem Kantorhauſe 
gepackt: wunderſchoͤne Reinetten von einem Baum, den Effi 
und Jahnke vor mehreren Jahren gemeinſchaftlich okuliert 
hatten, und dazu braune Puls; und Kniewaͤrmer von Bertha 
und Hertha. Hulda ſchrieb nur wenige Zeilen, weil ſie, wie ſie 
ſich entſchuldigte, für X. noch eine Reiſedecke zu ſtricken habe. 
„Was einfach nicht wahr iſt,“ ſagte Effi. „Ich wette, X. exiſtiert 
gar nicht. Daß ſie nicht davon laſſen kann, ſich mit Anbetern 
zu umgeben, die nicht da ſind!“ 
Und ſo kam Heiligabend heran. 


Innſtetten ſelbſt baute auf fuͤr ſeine junge Frau, der Baum 
brannte, und ein kleiner Engel ſchwebte oben in Luͤften. Auch 
eine Krippe war da mit huͤbſchen Transparenten und Inſchriften, l 
deren eine ſich in leiſer Andeutung auf ein dem Innſtettenſchen 1 
Hauſe für naͤchſtes Jahr bevorſtehendes Ereignis bezog. Effi 


las es und erroͤtete. Dann ging ſie auf Innſtetten zu, um ihm 
zu danken, aber eh ſie dies konnte, flog, nach altpommerſchem 
Weihnachtsbrauch, ein Julklapp in den Hausflur: eine große 
Kiſte, drin eine Welt von Dingen ſteckte. Zuletzt fand man 
die Hauptſache, ein zierliches, mit allerlei japaniſchen Bildchen 
uͤberklebtes Morſellenkaͤſtchen, deſſen eigentlichem Inhalt auch 
noch ein Zettelchen beigegeben war. Es hieß da: 

Drei Koͤnige kamen zum Heiligenchriſt, 

Mohrenkoͤnig einer geweſen iſt; — 

Ein Mohrenapothekerlein 

Erſcheinet heute mit Spezerein, 

Doch ſtatt Weihrauch und Myrrhen, die nicht zur Stelle, 

Bringt er Piſtazien⸗ und Mandel⸗Morſelle. 


. VERREERNEN? 


Effi las es zwei⸗, dreimal und freute ſich darüber. „Die a 
Huldigungen eines guten Menſchen haben doch etwas beſon⸗ 4 
ders Wohltuendes. Meinſt du nicht auch, Geert?“ 3 

„Gewiß meine ich das. Es iſt eigentlich das einzige, was 4 


228 


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einem Freude macht oder wenigſtens Freude machen ſollte. 
Denn jeder ſteckt noch ſo nebenher in allerhand dummem Zeuge 
drin. Ich auch. Aber freilich, man iſt wie man iſt.“ 

Der erſte Feiertag war Kirchtag, am zweiten war man bei 
Borckes draußen, alles zugegen, mit Ausnahme von Graſe⸗ 
nabbs, die nicht kommen wollten, „weil Sidonie nicht da ſei,“ 
was man als Entſchuldigung allſeitig ziemlich ſonderbar fand. 
Einige tuſchelten ſogar: „Umgekehrt; gerade deshalb haͤtten 
ſie kommen ſollen.“ Am Silveſter war Reſſourcenball, auf 
dem Effi nicht fehlen durfte und auch nicht wollte, denn der Ball 
gab ihr Gelegenheit, endlich einmal die ganze Stadtflora bei⸗ 
ſammen zu ſehen. Johanna hatte mit den Vorbereitungen 
zum Ballſtaate fuͤr ihre Gnaͤdige vollauf zu tun, Gieshuͤbler, 
der, wie alles, ſo auch ein Treibhaus hatte, ſchickte Kamelien, 
und Innſtetten, ſo knapp bemeſſen die Zeit fuͤr ihn war, fuhr 
am Nachmittage noch uͤber Land nach Papenhagen, wo drei 
Scheunen abgebrannt waren. 

Es war ganz ſtill im Haufe. Chriſtel, beſchaͤftigungslos, 


hatte ſich ſchlaͤfrig eine Fußbank an den Herd geruͤckt, und Effi 


zog ſich in ihr Schlafzimmer zuruck, wo fie ſich, zwiſchen Spiegel 
und Sofa, an einen kleinen, eigens zu dieſem Zweck zurecht⸗ 
gemachten Schreibtiſch ſetzte, um von hier aus an die Mama 
zu ſchreiben, der ſie fuͤr Weihnachtsbrief und Weihnachts⸗ 
geſchenke bis dahin bloß in einer Karte gedankt, ſonſt aber 
ſeit Wochen keine Nachricht gegeben hatte. 

„Keſſin, 31. Dezember. Meine liebe Mama! Das wird 
nun wohl ein langer Schreibebrief werden, denn ich habe — 
die Karte rechnet nicht — lange nichts von mir hoͤren laſſen. 
Als ich das letztemal ſchrieb, ſteckte ich noch in den Weihnachts⸗ 
vorbereitungen, jetzt liegen die Weihnachtstage ſchon zuruͤck. 
Innſtetten und mein guter Freund Gieshuͤbler hatten alles 
aufgeboten, mir den heiligen Abend ſo angenehm wie moͤg⸗ 


lich zu machen, aber ich fuͤhlte mich doch ein wenig einſam und 


229 


bangte mich nach Euch. Überhaupt, ſoviel Urſache ich habe, zu 


danken und froh und gluͤcklich zu ſein, ich kann ein Gefühl des 
Alleinſeins nicht ganz loswerden, und wenn ich mich früher, 
vielleicht mehr als nötig, über Huldas ewige Gefühlsträne 
mokiert habe, ſo werde ich jetzt dafuͤr beſtraft und habe ſelber 
mit dieſer Traͤne zu kaͤmpfen. Denn Innſtetten darf es nicht 
ſehen. Ich bin aber ſicher, daß das alles beſſer werden wird, 
wenn unſer Hausſtand ſich mehr belebt, und das wird der Fall 
ſein, meine liebe Mama. Was ich neulich andeutete, das iſt 
nun Gewißheit, und Innſtetten bezeugt mir taͤglich ſeine Freude 
daruͤber. Wie gluͤcklich ich ſelber im Hinblick darauf bin, brauche 
ich nicht erſt zu verſichern, ſchon weil ich dann Leben und Zer⸗ 
ſtreuung um mich her haben werde oder, wie Geert ſich aus⸗ 
druͤckt, ein ‚liebes Spielzeug. Mit dieſem Worte wird er wohl 
recht haben, aber er ſollte es lieber nicht gebrauchen, weil es 
mir immer einen kleinen Stich gibt und mich daran erinnert, 
wie jung ich bin, und daß ich noch halb in die Kinderſtube ge⸗ 
hoͤre. Dieſe Vorſtellung verlaͤßt mich nicht (Geert meint, es 
ſei krankhaft) und bringt es zuwege, daß das, was mein hoͤchſtes 
Gluͤck ſein ſollte, doch faſt noch mehr eine beſtaͤndige Verlegen⸗ 
heit fuͤr mich iſt. Ja, meine liebe Mama, als die guten Flem⸗ 
mingſchen Damen ſich neulich nach allem moͤglichen erkundigten, 
war mir zumut, als ſtuͤnd ich ſchlecht vorbereitet in einem Exa⸗ 
men, und ich glaube auch, daß ich recht dumm geantwortet 
habe. Verdrießlich war ich auch. Denn manches, was wie 
Teilnahme ausſieht, iſt doch bloß Neugier und wirkt um ſo 
zudringlicher, als ich ja noch lange, bis in den Sommer hinein, 
auf das frohe Ereignis zu warten habe. Ich denke, die erſten Juli⸗ 
tage. Dann mußt Du kommen, oder noch beſſer, ſobald ich 
einigermaßen wieder bei Wege bin, komme ich, nehme hier 
Urlaub und mache mich auf nach Hohen⸗Cremmen. Ach, wie 
ich mich darauf freue, und auf die havellaͤndiſche Luft — hier 
iſt es faſt immer rauh und kalt — und dann jeden Tag eine Fahrt 


230 


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ins Luch, alles rot und gelb, und ich ſehe ſchon, wie das Kind 
die Haͤnde danach ſtreckt, denn es wird doch wohl fuͤhlen, daß 
es eigentlich da zu Hauſe iſt. Aber das ſchreibe ich nur Dir. 
Innſtetten darf nicht davon wiſſen, und auch Dir gegenuͤber muß 
ich mich wie entſchuldigen, daß ich mit dem Kinde nach Hohen⸗ 
Cremmen will und mich heute ſchon anmelde, ſtatt Dich, meine 
liebe Mama, dringend und herzlich nach Keſſin hin einzuladen, 
das ja doch jeden Sommer fuͤnfzehnhundert Badegaͤſte hat 
und Schiffe mit allen möglichen Flaggen und ſogar ein Duͤnen⸗ 
hotel. Aber daß ich ſo wenig Gaſtlichkeit zeige, das macht 
nicht, daß ich ungaſtlich waͤre, ſo ſehr bin ich nicht aus der Art 
geſchlagen, das macht einfach unſer landraͤtliches Haus, das, 
ſo viel Huͤbſches und Apartes es hat, doch eigentlich gar kein 
richtiges Haus iſt, ſondern nur eine Wohnung fuͤr zwei Men⸗ 
ſchen, und auch das kaum, denn wir haben nicht einmal ein 
Eßzimmer, was doch genant iſt, wenn ein paar Perſonen zu 
Beſuch ſich einſtellen. Wir haben freilich noch Raͤumlichkeiten 
im erſten Stock, einen großen Saal und vier kleine Zimmer, 
aber ſie haben alle etwas wenig Einladendes, und ich wuͤrde 
ſie Rumpelkammer nennen, wenn ſich etwas Geruͤmpel darin 
vorfaͤnde; ſie ſind aber ganz leer, ein paar Binſenſtuͤhle abge⸗ 
rechnet, und machen, das mindeſte zu ſagen, einen ſehr ſonder⸗ 
baren Eindruck. Nun wirſt Du wohl meinen, das alles ſei ja 
leicht zu aͤndern; denn das Haus, das wir bewohnen, ift... 
iſt ein Spukhaus; da iſt es heraus. Ich beſchwoͤre Dich uͤbrigens, 
mir auf dieſe meine Mitteilung nicht zu antworten, denn ich 
zeige Innſtetten immer Eure Briefe, und er waͤre außer ſich, 
wenn er erführe, daß ich Dir das geſchrieben. Ich hätte es auch 
nicht getan, und zwar um ſo weniger, als ich ſeit vielen Wochen 
in Ruhe geblieben bin und aufgehoͤrt habe, mich zu aͤngſtigen; 
aber Johanna ſagt mir, es kaͤme immer mal wieder, namentlich 
wenn wer Neues im Haufe erſchiene. Und ich kann Dich doch 
einer ſolchen Gefahr oder, wenn das zu viel geſagt iſt, einer 


231 


e 22 9 
* 


ſolchen eigentuͤmlichen und unbequemen Störung nicht aus⸗ 
ſetzen! Mit der Sache ſelber will ich Dich heute nicht behelligen, 
jedenfalls nicht ausfuͤhrlich. Es iſt eine Geſchichte von einem 
alten Kapitän, einem ſogenannten Chinafahrer, und feiner 
Enkelin, die mit einem hieſigen jungen Kapitaͤn eine kurze Zeit 
verlobt war und an ihrem Hochzeitstage ploͤtzlich verſchwand. 
Das moͤchte hingehn. Aber was wichtiger iſt, ein junger Chi⸗ 
neſe, den ihr Vater aus China mit zuruͤckgebracht hatte und der 
erſt der Diener und dann der Freund des Alten war, der ſtarb 
kurze Zeit danach und iſt an einer einſamen Stelle neben dem 
Kirchhof begraben worden. Ich bin neulich da voruͤbergefahren, 
wandte mich aber raſch ab und ſah nach der andern Seite, weil 
ich glaube, ich haͤtte ihn ſonſt auf dem Grabe ſitzen ſehen. Denn 
ach, meine liebe Mama, ich habe ihn einmal wirklich geſehen, oder 
es iſt mir wenigſtens ſo vorgekommen, als ich feſt ſchlief und 
Innſtetten auf Beſuch beim Fuͤrſten war. Es war ſchrecklich; 
ich moͤchte ſo was nicht wieder erleben. Und in ein ſolches Haus, 
ſo huͤbſch es ſonſt iſt (es iſt ſonderbarerweiſe gemuͤtlich und un⸗ 
heimlich zugleich), kann ich Dich doch nicht gut einladen. Und 
Innſtetten, trotzdem ich ihm ſchließlich in vielen Stuͤcken zu⸗ 
ſtimmte, hat ſich dabei, ſoviel moͤcht ich ſagen duͤrfen, auch nicht 
ganz richtig benommen. Er verlangte von mir, ich ſolle das 
alles als alten Weiberunſinn anſehen und darüber lachen, 
aber mit einem Mal ſchien er doch auch wieder ſelber daran 
zu glauben und ſtellte mir zugleich die ſonderbare Zumutung, 
einen ſolchen Hausſpuk als etwas Vornehmes und Altadliges 
anzuſehen. Das kann ich aber nicht und will es auch nicht. 
Er iſt in dieſem Punkte, fo gütig er ſonſt iſt, nicht guͤtig und 
nachſichtig genug gegen mich. Denn daß es etwas damit iſt, 
das weiß ich von Johanna und weiß es auch von unſerer Frau 
Kruſe. Das iſt naͤmlich unſere Kutſcherfrau, die mit einem 
ſchwarzen Huhn beſtaͤndig in einer überheisten Stube ſitzt. 
Dies allein ſchon iſt aͤngſtlich genug. Und nun weißt Du, war⸗ 


232 


N um ich kommen will, wenn es erſt ſoweit iſt. Ach, wäre es 


nur erſt ſoweit. Es ſind ſo viele Gruͤnde, warum ich es wuͤnſche. 


Heute abend haben wir Silveſterball, und Gieshuͤbler — der 


einzig nette Menſch hier, trotzdem er eine hohe Schulter hat, 


oder eigentlich ſchon etwas mehr — Gieshuͤbler hat mir Ka⸗ 
melien geſchickt. Ich werde doch vielleicht tanzen. Unſer Arzt 
ſagt, es wuͤrde mir nichts ſchaden, im Gegenteil. Und Inn⸗ 
ſtetten, was mich faſt uͤberraſchte, hat auch eingewilligt. Und 
nun gruͤße und kuͤſſe Papa und all die andern Lieben. Gluͤck⸗ 
auf zum neuen Jahr. Deine Effi.“ 


Dreizehntes Kapitel 


Der Silveſterball hatte bis an den fruͤhen Morgen ge⸗ 
dauert, und Effi war ausgiebig bewundert worden, freilich 
nicht ganz ſo anſtandslos wie das Kamelienbukett, von dem 
man wußte, daß es aus dem Gieshuͤblerſchen Treibhauſe kam. 
Im uͤbrigen blieb auch nach dem Silverſterball alles beim 
alten, kaum daß Verſuche geſellſchaftlicher Annaͤherung gemacht 
worden waͤren, und ſo kam es denn, daß der Winter als recht 
lange dauernd empfunden wurde. Beſuche ſeitens der benach⸗ 
barten Adelsfamilien fanden nur ſelten ſtatt, und dem pflicht⸗ 
ſchuldigen Gegenbeſuche ging in einem halben Trauertone 
jedesmal die Bemerkung voraus: „Ja, Geert, wenn es durch⸗ 
aus fein muß, aber ich vergehe vor Langerweile.“ Worte, 
denen Innſtetten nur immer zuſtimmte. Was an ſolchen Be⸗ 
ſuchsnachmittagen uͤber Familie, Kinder, auch Landwirtſchaft 
geſagt wurde, mochte gehen; wenn dann aber die kirch⸗ 
lichen Fragen an die Reihe kamen und die mitanweſenden 
Paſtoren wie kleine Paͤpſte behandelt wurden, oder ſich auch 
wohl ſelbſt als ſolche anſahen, dann riß Effi der Faden der 

Geduld, und ſie dachte mit Wehmut an Niemeyer, der immer 


233 


zuruͤckhaltend und anſpruchslos war, trotzdem es bei jeder 
groͤßeren Feierlichkeit hieß, er habe das Zeug, an den „Dom“ 
berufen zu werden. Mit den Borckes, den Flemmings, den 
Graſenabbs, fo freundlich die Familien, von Sidonie Graſe⸗ 
nabb abgeſehen, geſinnt waren — es wollte mit allen nicht ſo 
recht gehen, und es haͤtte mit Freude, Zerſtreuung und auch 
nur leidlichem Sich⸗behaglich⸗fuͤhlen manchmal recht ſchlimm 
geſtanden, wenn Gieshuͤbler nicht geweſen waͤre. Der ſorgte 
fuͤr Effi wie eine kleine Vorſehung, und ſie wußte es ihm auch 
Dank. Natuͤrlich war er neben allem andern auch ein eifriger 
und aufmerkſamer Zeitungsleſer, ganz zu geſchweigen, daß er 
an der Spitze des Journalzirkels ſtand, und ſo verging denn 
faſt kein Tag, wo nicht Mirambo ein großes, weißes Kuvert 
gebracht haͤtte, mit allerhand Blaͤttern und Zeitungen, in denen 
die betreffenden Stellen angeſtrichen waren, meiſt eine kleine, 
feine Bleiſtiftlinie, mitunter aber auch dick mit Blauſtift und 
ein Ausrufungs⸗ oder Fragezeichen daneben. Und dabei ließ er 
es nicht bewenden; er ſchickte auch Feigen und Datteln, Schoko⸗ 
ladentafeln in Satineepapier und ein rotes Baͤndchen drum, 
und wenn etwas beſonders Schoͤnes in ſeinem Treibhaus 
bluͤhte, ſo brachte er es ſelbſt und hatte dann eine gluͤckliche 
Plauderſtunde mit der ihm ſo ſympathiſchen jungen Frau, 
fuͤr die er alle ſchoͤnen Liebesgefühle durch⸗ und nebeneinander 
hatte, die des Vaters und Onkels, des Lehrers und Verehrers. 
Effi war geruͤhrt von dem allen und ſchrieb oͤfters daruͤber nach 
Hohen⸗Cremmen, fo daß die Mama fie mit ihrer „Liebe zum 
Alchimiſten“ zu necken begann; aber dieſe wohlgemeinten 


Neckereien verfehlten ihren Zweck, ja beruͤhrten ſie beinahe 


ſchmerzlich, weil ihr, wenn auch unklar, dabei zum Bewußtſein 


kam, was ihr in ihrer Ehe eigentlich fehlte: Huldigungen, 


Anregungen, kleine Aufmerkſamkeiten. Innſtetten war lieb 
und gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte das Gefühl, 
Effi zu lieben, und das gute Gewiſſen, daß es ſo ſei, ließ ihn 


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von beſonderen Anſtrengungen abſehen. Es war faſt zur 
Regel geworden, daß er ſich, wenn Friedrich die Lampe brachte, 
aus ſeiner Frau Zimmer in ſein eigenes zuruͤckzog. „Ich habe 
da noch eine verzwickte Geſchichte zu erledigen.“ Und damit 
ging er. Die Portiere blieb freilich zuruͤckgeſchlagen, ſo daß 
Effi das Blaͤttern in dem Aktenſtuͤck oder das Kritzeln ſeiner 
Feder hoͤren konnte, aber das war auch alles. Rollo kam dann 
wohl und legte ſich vor ſie hin auf den Kaminteppich, als ob 
er ſagen wolle: „Muß nur mal wieder nach dir ſehen; ein 
anderer tut's doch nicht.“ Und dann beugte ſie ſich nieder und 
ſagte leiſe: „Ja, Rollo, wir ſind allein.“ Um neun erſchien 
dann Innſtetten wieder zum Tee, meiſt die Zeitung in der Hand, 
ſprach vom Fürften, der wieder viel Arger habe, zumal über 
dieſen Eugen Richter, deſſen Haltung und Sprache ganz un⸗ 
qualifisierbar ſeien, und ging dann die Ernennungen und 
Ordensverleihungen durch, von denen er die meiſten bean⸗ 
ſtandete. Zuletzt ſprach er von den Wahlen, und daß es ein 
Glück ſei, einem Kreiſe vorzuſtehen, in dem es noch Reſpekt 
gaͤbe. War er damit durch, ſo bat er Effi, daß ſie was ſpiele, 
aus Lohengrin oder aus der Walkuͤre, denn er war ein Wagner⸗ 
Schwaͤrmer. Was ihn zu dieſem hinuͤbergefuͤhrt hatte, war 
ungewiß; einige ſagten, ſeine Nerven, denn ſo nuͤchtern er 
ſchien, eigentlich war er nervoͤs; andere ſchoben es auf Wagners 
Stellung zur Judenfrage. Wahrſcheinlich hatten beide de recht. 
Um zehn war Innſtetten dann abgeſpannt und erging ſich in 
ein paar wohlgemeinten, aber etwas muͤden Zaͤrtlichkeiten, die 
ſich Effi gefallen ließ, ohne ſie recht zu erwidern. 


So verging der Winter, der April kam, und in dem Garten 
hinter dem Hofe begann es zu gruͤnen, woruͤber ſich Effi 
freute; ſie konnte gar nicht abwarten, daß der Sommer komme 
mit ſeinen Spaziergaͤngen am Strand und ſeinen Badegaͤſten. 
Wenn fie fo zuruͤckblickte, der Trippelli⸗Abend bei Gieshuͤbler 


235 


und dann der Silveſterball, ja, das ging, das war etwas Huͤb⸗ 
ſches geweſen; aber die Monate, die dann gefolgt waren, die 
hatten doch viel zu wuͤnſchen uͤbriggelaſſen, und vor allem 
waren ſie ſo monoton geweſen, daß ſie ſogar mal an die Mama 
geſchrieben hatte: „Kannſt Du Dir denken, Mama, daß ich 
mich mit unſrem Spuk beinah ausgeſoͤhnt habe? Natuͤrlich 
die ſchreckliche Nacht, wo Geert druͤben beim Fuͤrſten war, 
die moͤcht ich nicht noch einmal durchmachen, nein, gewiß nicht; 
aber immer das Alleinſein und ſo gar nichts erleben, das hat 
doch auch ſein Schweres, und wenn ich dann in der Nacht auf⸗ 
wache, dann horche ich mitunter hinauf, ob ich nicht die Schuhe 
ſchleifen hoͤre, und wenn alles ſtill bleibt, ſo bin ich faſt wie 
enttaͤuſcht und ſage mir: wenn es doch nur eee nur 
nicht zu arg und nicht zu nah.“ 

Das war im Februar, daß Effi fo ſchrieb, und nun war 
beinahe Mai. Druͤben in der Plantage belebte ſich's ſchon 
wieder, und man hoͤrte die Finken ſchlagen. Und in derſelben 
Woche war es auch, daß die Stoͤrche kamen, und einer ſchwebte 
langſam uͤber ihr Haus hin und ließ ſich dann auf einer Scheune 
nieder, die neben Utpatels Muͤhle ſtand. Das war ſeine alte 
Raſtſtaͤtte. Auch uͤber dies Ereignis berichtete Effi, die jetzt 
überhaupt haͤufiger nach Hohen⸗Cremmen ſchrieb, und es war 
in demſelben Briefe, daß es am Schluſſe hieß: „Etwas, meine 
liebe Mama, haͤtte ich beinah vergeſſen: den neuen Landwehr⸗ 
bezirkskommandeur, den wir nun ſchon beinah vier Wochen 
hier haben. Ja, haben wir ihn wirklich? Das iſt die Frage, 
und eine Frage von Wichtigkeit dazu, ſo ſehr Du daruͤber 
lachen wirft und auch lachen mußt, weil Du den geſellſchaftlichen 
Notſtand nicht kennſt, in dem wir uns nach wie vor befinden. 
Oder wenigſtens ich, die ich mich mit dem Adel hier nicht gut 
zurechtfinden kann. Vielleicht meine Schuld. Aber das iſt 
gleich. Tatſache bleibt: Notſtand, und deshalb ſah ich, durch 


all dieſe Winterwochen hin, dem neuen Bezirkskommandeur 


236 


wie einem Troſt⸗ und Rettungsbringer entgegen. Sein Vor⸗ 
gaͤnger war ein Greuel, von ſchlechten Manieren und noch 
ſchlechteren Sitten, und zum Überfluß auch noch immer ſchlecht 
bei Kaſſe. Wir haben all die Zeit uͤber unter ihm gelitten, Inn⸗ 
ſtetten noch mehr als ich, und als wir Anfang April hoͤrten, 

Major von Crampas ſei da, das iſt naͤmlich der Name des 
neuen, da fielen wir uns in die Arme, als koͤnne uns nun nichts 
Schlimmes mehr in dieſem lieben Keſſin paſſieren. Aber, wie 
ſchon kurz erwaͤhnt, es ſcheint, trotzdem er da iſt, wieder nichts 
werden zu wollen. Crampas iſt verheiratet, zwei Kinder von 
zehn und acht Jahren, die Frau ein Jahr aͤlter als er, alfo 
ſagen wir fuͤnfundvierzig. Das wuͤrde nun an und fuͤr ſich nicht 
viel ſchaden, warum ſoll ich mich nicht mit einer muͤtterlichen 
Freundin wundervoll unterhalten koͤnnen? Die Trippelli 
war auch nahe an Dreißig, und es ging ganz gut. Aber 
mit der Frau von Crampas, uͤbrigens keine Geborene, kann 
es nichts werden. Sie iſt immer verſtimmt, beinahe melan⸗ 
choliſch (aͤhnlich wie unſere Frau Kruſe, an die fie mic) über; 
haupt erinnert), und das alles aus Eiferſucht. Er, Crampas, 
ſoll naͤmlich ein Mann vieler Verhaͤltniſſe ſein, ein Damen⸗ 
mann, etwas was mir immer laͤcherlich iſt und mir auch in 
dieſem Falle laͤcherlich ſein wuͤrde, wenn er nicht, um eben 
ſolcher Dinge willen, ein Duell mit einem Kameraden gehabt 
haͤtte. Der linke Arm wurde ihm dicht unter der Schulter zer⸗ 
ſchmettert, und man ſieht es ſofort, trotzdem die Operation, 
wie mir Innſtetten erzaͤhlt (ich glaube, ſie nennen es Reſektion, 
damals noch von Wilms ausgefuͤhrt), als ein Meiſterſtuͤck der 
Kunſt geruͤhmt wurde. Beide, Herr und Frau von Crampas, 
waren vor vierzehn Tagen bei uns, um uns ihren Beſuch zu 
machen; es war eine ſehr peinliche Situation, denn Frau von 
Crampas beobachtete ihren Mann ſo, daß er in eine halbe und 
ich in eine ganze Verlegenheit kam. Daß er ſelbſt ſehr anders 
ſein kann, ausgelaſſen und uͤbermuͤtig, davon uͤberzeugte ich 


237 


mich, als er vor drei Tagen mit Innſtetten allein war, und ich, 
von meinem Zimmer her, dem Gang ihrer Unterhaltung 
folgen konnte. Nachher ſprach auch ich ihn. Vollkommener 
Kavalier, ungewoͤhnlich gewandt. Innſtetten war waͤhrend 
des Krieges in derſelben Brigade mit ihm, und ſie haben ſich 
im Norden von Paris bei Graf Gröben oͤfter geſehen. Ja, 
meine liebe Mama, das waͤre nun alſo etwas geweſen, um in 
Keſſin neues Leben beginnen zu koͤnnen; er, der Major, hat 
auch nicht die pommerſchen Vorurteile, trotzdem er in Schwe⸗ 
diſch⸗Pommern zu Haufe fein ſoll. Aber die Frau! Ohne fie 
geht es natuͤrlich nicht, und mit ihr erſt recht nicht.“ 


Sn hatte ganz recht gehabt, und es kam wirklich zu keiner 
weiteren Annaͤherung mit dem Crampasſchen Paare. Man 
ſah ſich mal bei der Borckeſchen Familie draußen, ein andermal 
ganz fluͤchtig auf dem Bahnhof und wenige Tage ſpaͤter auf 
einer Boot⸗ und Vergnuͤgungsfahrt, die nach einem am Breit⸗ 
ling gelegenen großen Buchen⸗ und Eichenwalde, der „der 
Schnatermann“ hieß, gemacht wurde; es kam aber uͤber kurze 
Begruͤßungen nicht hinaus, und Effi war froh, als Anfang 
Juni die Saiſon ſich ankuͤndigte. Freilich fehlte es noch an 
Badegaͤſten, die vor Johanni uͤberhaupt nur in Einzelexemplaren 
einzutreffen pflegten, aber ſchon die Vorbereitungen waren 
eine Zerſtreuung. In der Plantage wurden Karuſſell und 
Scheibenſtaͤnde hergerichtet, die Schiffersleute kalfaterten und 
ſtrichen ihre Boote, jede kleine Wohnung erhielt neue Gar⸗ 
dinen, und die Zimmer, die feucht lagen, alſo den Schwamm 
unter der Diele hatten, wurden ausgeſchwefelt und dann ge⸗ 
luͤftet. 

Auch in Effis eigener Wohnung, freilich um eines anderen 
Ankoͤmmlings als der Badegaͤſte willen, war alles in einer 
gewiſſen Erregung; ſelbſt Frau Kruſe wollte mittun, ſo gut 
es ging. Aber davor erſchrak Effi lebhaft und ſagte: „Geert, 


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daß nur die Frau Kruſe nichts anfaßt; da kann nichts werden, 
und ich aͤngſtige mich ſchon gerade genug.“ Innſtetten ver; 
ſprach auch alles, Chriſtel und Johanna hätten ja Zeit genug, 
und um ſeiner jungen Frau Gedanken uͤberhaupt in eine andere 
Richtung zu bringen, ließ er das Thema der Vorbereitungen 
ganz fallen und fragte ſtatt deſſen, ob ſie denn ſchon bemerkt 
habe, daß druͤben ein Badegaſt eingezogen ſei, nicht gerade der 
erſte, aber doch einer der erſten. 

„Ein Herr?“ 

„Nein, eine Dame, die ſchon fruͤher hier war, jedesmal 
in derſelben Wohnung. Und fie kommt immer fo früh, weil 
ſie's nicht leiden kann, wenn alles ſchon fo voll iſt.“ 

„Das kann ich ihr nicht verdenken. Und wer iſt es denn?“ 

„Die verwitwete Regiſtrator Rode.“ 

„Sonderbar. Ich habe mir Regiſtratorwitwen immer arm 
gedacht.“ 

„Ja,“ lachte Innſtetten, „das iſt die Regel. Aber hier haſt 
du eine Ausnahme. Jedenfalls hat ſie mehr als ihre Witwen⸗ 
penſion. Sie kommt immer mit viel Gepaͤck, unendlich viel 
mehr als ſie gebraucht, und ſcheint uͤberhaupt eine ganz eigene 
Frau, wunderlich, kraͤnklich und namentlich ſchwach auf den ; 
Süßen. Sie mißtraut fich deshalb auch und hat immer eine 
aͤltliche Dienerin um ſich, die kraͤftig genug iſt, fie zu ſchuͤtzen 
oder fie zu tragen, wenn ihr was paſſiert. Dies mal hat fie eine 
neue. Aber doch auch wieder eine ganz ramaſſierte Perſon, 
aͤhnlich wie die Trippelli, nur noch ſtaͤrker.“ 

„O, die hab ich ſchon geſehen. Gute braune Augen, die einen 
treu und zuverſichtlich anſehen. Aber ein klein bißchen dumm.“ 

„Richtig, das iſt ſie.“ 


Das war Mitte Juni, daß Innſtetten und Effi dies Ge⸗ 
ſpraͤch hatten. Von da ab brachte jeder Tag Zuzug, und nach 
dem Bollwerk hin ſpazierengehen, um daſelbſt die Ankunft 


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des Dampfſchiffes abzuwarten, wurde, wie immer um dieſe 
Zeit, eine Art Tagesbeſchaͤftigung für die Keſſiner. Effi frei⸗ 
lich, weil Innſtetten ſie nicht begleiten konnte, mußte darauf 
verzichten, aber ſie hatte doch wenigſtens die Freude, die nach 
dem Strand und dem Strandhotel hinausfuͤhrende, ſonſt ſo 
menſchenleere Straße ſich beleben zu ſehen, und war denn auch, 
um immer wieder Zeuge davon zu ſein, viel mehr als ſonſt in 
ihrem Schlafzimmer, von deſſen Fenſtern aus ſich alles am 
beſten beobachten ließ. Johanna ſtand dann neben ihr und gab 
Antwort auf ziemlich alles, was ſie wiſſen wollte; denn da die 
meiſten alljaͤhrlich wiederkehrende Gaͤſte waren, ſo konnte das 
Maͤdchen nicht bloß die Namen nennen, ſondern mitunter auch 
eine Geſchichte dazu geben. 

Das alles war unterhaltlich und erheiternd für Effi. Grad 
am Johannistage aber traf es ſich, daß kurz vor elf Uhe 
vormittags, wo ſonſt der Verkehr vom Dampfſchiff her am 
bunteſten voruͤberflutete, ſtatt der mit Ehepaaren, Kindern 
und Reiſekoffern beſetzten Droſchken, aus der Mitte der Stadt 
her ein ſchwarz verhangener Wagen (dem ſich zwei Trauer⸗ 
kutſchen anſchloſſen) die zur Plantage fuͤhrende Straße herunter 
kam und vor dem der landraͤtlichen Wohnung gegenüber ger 
legenen Hauſe hielt. Die verwitwete Frau Regiſtrator Rode 
war naͤmlich drei Tage vorher geſtorben, und nach Eintreffen 
der in aller Kuͤrze benachrichtigten Berliner Verwandten war 
ſeitens eben dieſer beſchloſſen worden, die Tote nicht nach Berlin 
hin überführen, ſondern auf dem Keſſiner Duͤnenkirchhof 
begraben zu wollen. Effi ſtand am Fenſter und ſah neugierig 
auf die ſonderbar feierliche Szene, die ſich druͤben abſpielte. 
Die zum Begraͤbnis von Berlin her Eingetroffenen waren zwei 1 
Neffen mit ihren Frauen, alle gegen Vierzig, etwas mehr oder 
weniger, und von beneidenswert geſunder Geſichtsfarbe. Die 
Neffen, in gutſitzenden Fracks, konnten paſſieren, und die 
nuͤchterne Geſchaͤftsmaͤßigkeit, die ſich in ihrem geſamten Tun 


240 GR 
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ausdrüdte, war im Grunde mehr kleidſam als ſtoͤrend. Aber 
die beiden Frauen! Sie waren ganz erſichtlich bemuͤht, den 
Keſſinern zu zeigen, was eigentlich Trauer ſei, und trugen denn 
auch lange, bis an die Erde reichende ſchwarze Kreppſchleier, 
die zugleich ihr Geſicht verhuͤllten. Und nun wurde der Sarg, 
auf dem einige Kraͤnze und ſogar ein Palmenwedel lagen, auf 
den Wagen geſtellt, und die beiden Ehepaare ſetzten ſich in die 
Kutſchen. In die erſte — gemeinſchaftlich mit dem einen der 
beiden leidtragenden Paare — ſtieg auch Lindequiſt, hinter 
der zweiten Kutſche aber ging die Hauswirtin und neben dieſer 
die ſtattliche Perſon, die die Verſtorbene zur Aushilfe mit 
nach Keſſin gebracht hatte. Letztere war ſehr aufgeregt und 
ſchien durchaus ehrlich darin, wenn dies Aufgeregtſein auch 
vielleicht nicht gerade Trauer war; der ſehr heftig ſchluchzenden 
Hauswirtin aber, einer Witwe, ſah man dagegen faſt allzu 
deutlich an, daß ſie ſich beſtaͤndig die Moͤglichkeit eines Extra⸗ 
geſchenkes berechnete, trotzdem ſie in der bevorzugten und von 
anderen Wirtinnen auch ſehr beneideten Lage war, die fuͤr 
den ganzen Sommer vermietete Wohnung noch einmal ver⸗ 
mieten zu koͤnnen. 

Effi, als der Zug ſich in Bewegung ſetzte, ging in ihren 
hinter dem Hofe gelegenen Garten, um hier, zwiſchen den 
Buchs baumbeeten, den Eindruck des Lieb⸗ und Lebloſen, den 
die ganze Szene druͤben auf ſie gemacht hatte, wieder loszu⸗ 
werden. Als dies aber nicht gluͤcken wollte, kam ihr die Luſt, 
ſtatt ihrer eintoͤnigen Gartenpromenade lieber einen weiteren 
Spaziergang zu machen, und zwar um ſo mehr, als ihr der 
Arzt geſagt hatte, viel Bewegung im Freien ſei das beſte, 
was ſie bei dem, was ihr bevorſtaͤnde, tun koͤnne. Johanna, 
die mit im Garten war, brachte ihr denn auch Umhang, Hut 
und Entoutcas, und mit einem freundlichen „Guten Tag“ 
trat Effi aus dem Hauſe heraus und ging auf das Waͤldchen 
zu, neben deſſen breitem chauſſierten Mittelweg ein ſchmalerer 


IV 16 241 


Fußſteig auf die Dünen und das am Strand gelegene Hotel 
zulief. Unterwegs ſtanden Baͤnke, von denen ſie jede benutzte, 


denn das Gehen griff ſie an, und um ſo mehr, als inzwiſchen 


die heiße Mittagsſtunde herangekommen war. Aber wenn ſie 
ſaß und von ihrem bequemen Platz aus die Wagen und die 
Damen in Toilette beobachtete, die da hinausfuhren, ſo belebte 
ſie ſich wieder. Denn Heiteres ſehen war ihr wie Lebensluft. 
Als das Waͤldchen aufhoͤrte, kam freilich noch eine allerſchlimmſte 
Wegſtelle, Sand und wieder Sand, und nirgends eine Spur 
von Schatten; aber gluͤcklicherweiſe waren hier Bohlen und 
Bretter gelegt, und ſo kam ſie, wenn auch erhitzt und muͤde, 


doch in guter Laune bei dem Strandhotel an. Drinnen im 


Saal wurde ſchon gegeſſen, aber hier draußen um ſie her war 


alles ſtill und leer, was ihr in dieſem Augenblicke denn auch das 
liebſte war. Sie ließ ſich ein Glas Sherry und eine Flaſche 


Biliner Waſſer bringen und ſah auf das Meer hinaus, das 
im hellen Sonnenlichte ſchimmerte, waͤhrend es am Ufer in 


kleinen Wellen brandete. „Da druͤben liegt Bornholm und 


dahinter Wisby, wovon mir Jahnke vor Zeiten immer Wunder⸗ 


dinge vorſchwaͤrmte. Wisby ging ihm faſt noch über Lubeck 


und Wullenweber. Und hinter Wisby kommt Stockholm, wo 


das Stockholmer Blutbad war, und dann kommen die großen 
Stroͤme und dann das Nordkap und dann die Mitternachts⸗ 


ſonne.“ Und im ſelben Augenblick erfaßte ſie eine Sehnſucht, 


das alles zu ſehen. Aber dann gedachte ſie wieder deſſen, was 
ihr ſo nahe bevorſtand, und ſie erſchrak faſt. „Es iſt eine Suͤnde, 
daß ich ſo leichtſinnig bin und ſolche Gedanken habe und mich 
wegtraͤume, waͤhrend ich doch an das naͤchſte denken muͤßte. 
Vielleicht beſtraft es ſich auch noch, und alles ſtirbt hin, das 
Kind und ich. Und der Wagen und die zwei Kutſchen, die halten 
dann nicht drüben vor dem Haufe, die halten dann bei uns 
Nein, nein, ich mag hier nicht ſterben, ich will hier nicht be⸗ 


graben fein, ich will nach Hohen⸗Cremmen. Und ee 4 


242 


e gut er iſt — aber Niemeyer iſt mir lieber; er hat mich getauft 
und eingeſegnet und getraut, und Niemeyer ſoll mich auch 
begraben.“ Und dabei fiel eine Traͤne auf ihre Hand. Dann 


aber lachte ſie wieder. „Ich lebe ja noch und bin erſt ſiebzehn, 


und Niemeyer iſt ſiebenundfuͤnfzig.“ 

In dem Eßſaal hoͤrte ſie das Geklapper des Geſchirrs. Aber 
mit einem Male war es ihr, als ob die Stuͤhle geſchoben 
wuͤrden; vielleicht ſtand man ſchon auf, und ſie wollte jede 
Begegnung vermeiden. So erhob ſie ſich auch ihrerſeits raſch 
wieder von ihrem Platz, um auf einem Umweg nach der Stadt 
zurückzukehren. Dieſer Umweg fuͤhrte fie dicht an dem Duͤnen⸗ 
kirchhof voruͤber, und weil der Torweg des Kirchhofs gerade 
offen ſtand, trat ſie ein. Alles bluͤhte hier, Schmetterlinge 
flogen über die Gräber hin, und hoch in den Lüften ſtanden ein 
paar Moͤwen. Es war ſo ſtill und ſchoͤn, und ſie haͤtte hier gleich 
bei den erſten Graͤbern verweilen moͤgen; aber weil die Sonne 


mit jedem Augenblick heißer niederbrannte, ging ſie hoͤher 


hinauf, auf einen ſchattigen Gang zu, den Haͤngeweiden und 
etliche an den Graͤbern ſtehende Trauereſchen bildeten. Als 
ſie bis an das Ende dieſes Ganges gekommen, ſah ſie zur 
Rechten einen friſch aufgeworfenen Sandhuͤgel, mit vier, fuͤnf 
Kraͤnzen darauf, und dicht daneben eine ſchon außerhalb der 
Baumreihe ſtehende Bank, darauf die gute, robuſte Perſon 
ſaß, die an der Seite der Hauswirtin dem Sarge der ver⸗ 
witweten Regiſtratorin als letzte Leidtragende gefolgt war. 
Effi erkannte ſie ſofort wieder und war in ihrem Herzen bewegt, 
die gute, treue Perſon, denn dafuͤr mußte ſie ſie halten, in 


ſengender Sonnenhitze hier vorzufinden. Seit dem Begräbnis 


waren wohl an zwei Stunden vergangen. 
„Es iſt eine heiße Stelle, die Sie ſich da ausgeſucht haben,“ 


ſagte Effi, „viel zu heiß. Und wenn ein Ungluͤck kommen ſoll, 
dann haben Sie den Sonnenſtich.“ 


„Das waͤr auch das beſte.“ 


16 a 3243 


„Wie das?“ 

„Dann waͤr ich aus der Welt.“ 

„Ich meine, das darf man nicht ſagen, auch wenn man 
ungluͤcklich iſt oder wenn einem wer geſtorben iſt, den man lieb 
hatte. Sie hatten ſie wohl ſehr lieb?“ 

„Ich? Die? J, Gott bewahre.“ 

„Sie ſind aber doch ſehr traurig. Das muß doch einen 
Grund haben.“ 

„Den hat es auch, gnaͤdigſte Frau.“ 

„Kennen Sie mich?“ 

„Ja. Sie ſind die Frau Landraͤtin von druͤben. Und ich 
habe mit der Alten immer von Ihnen geſprochen. Zuletzt 
konnte ſie nicht mehr, weil ſie keine rechte Luft mehr hatte, 
denn es ſaß ihr hier und wird wohl Waſſer geweſen ſein; aber 
ſolange ſie noch reden konnte, redete ſie immerzu. Es war ne 
richtige Berlinſche ...“ 

„Gute Frau?“ 

V Nein; wenn ich das ſagen wollte, müßt ich lügen. Da liegt 
ſie nun, und man ſoll von einem Toten nichts Schlimmes 
ſagen, und erſt recht nicht, wenn er ſo kaum ſeine Ruhe hat. 
Na, die wird ſie ja wohl haben! Aber ſie taugte nichts und war 
zaͤnkiſch und geizig, und fuͤr mich hat ſie auch nicht geſorgt. 
Und die Verwandtſchaft, die da geſtern von Berlin gekom⸗ 
men... gezankt haben fie ſich bis in die ſinkende Nacht 
na, die taugt auch nichts, die taugt erſt recht nichts. Lauter 
ſchlechtes Volk, happig und gierig und hartherzig, und haben 
mir barſch und unfreundlich und mit allerlei Redensarten 
meinen Lohn ausgezahlt, bloß weil ſie mußten und weil es 
bloß noch ſechs Tage ſind bis zum Vierteljahrserſten. Sonſt 
haͤtte ich nichts gekriegt, oder bloß halb oder bloß ein Viertel. 
Nichts aus freien Stuͤcken. Und einen eingeriſſenen Fuͤnf⸗ 
markſchein haben ſie mir gegeben, daß ich nach Berlin zuruͤck⸗ 
reiſen kann; na, es reicht ſo gerade fuͤr die vierte Klaſſe, und ich 


244 


werde wohl auf meinem Koffer ſitzen muͤſſen. Aber ich will 
auch gar nicht; ich will hier ſitzenbleiben und warten, bis ich 
ſterbe ... Gott, ich dachte nun mal Ruhe zu haben und hätte 
auch ausgehalten bei der Alten. Und nun iſt es wieder nichts 
und ſoll mich wieder rumſtoßen laſſen. Und kattolſch bin 
ich auch noch. Ach, ich hab es ſatt und laͤg am liebſten, wo 
die Alte liegt, und fie koͤnnte meinetwegen weiter leben... 
Sie haͤtte gerne noch weiter gelebt; ſolche Menſchenſchikanierer, 
die nich mal Luft haben, die leben immer am liebſten.“ 

Rollo, der Effi begleitet hatte, hatte ſich mittlerweile vor 
die Perſon hingeſetzt, die Zunge weit heraus, und ſah ſie an. 
Als ſie jetzt ſchwieg, erhob er ſich, ging einen Schritt vor 
und legte ſeinen Kopf auf ihre Knie. 

Mit einem Male war die Perſon wie umgewandelt. „Gott, 
das bedeutet mir was. Da iſt ja ne Kreatur, die mich leiden 
kann, die mich freundlich anſieht und ihren Kopf auf meine 
Knie legt. Gott, das iſt lange her, daß ich ſo was gehabt habe. 
Nu, mein Alterchen, wie heißt du denn? Du biſt ja ein Pracht⸗ 
kerl.“ 

„Rollo,“ ſagte Effi. 

„Rollo; das iſt ſonderbar. Aber der Name tut nichts. Ich 
habe auch einen ſonderbaren Namen, das heißt Vornamen. 
Und einen anderen hat unſereins ja nicht.“ 

„Wie heißen Sie denn? 

„Ich heiße Roswitha.“ 

„Ja, das iſt ſelten, das iſt ja ...“ 

„Ja, ganz recht, gnaͤdige Frau, das iſt ein kattolſcher Name. 
Und das kommt auch noch dazu, daß ich eine Kattolſche bin. 
Aus'n Eichsfeld. Und das Kattolſche, das macht es einem 
immer noch ſchwerer und ſaurer. Viele wollen keine Kattolſche, 
weil ſie ſo viel in die Kirche rennen. „Immer in die Beichte; 
und die Hauptſache ſagen fie doch nich“ — Gott, wie oft hab ich 
das hoͤren muͤſſen, erſt als ich in Giebichenſtein im Dienſt war 


245 


und dann in Berlin. Ich bin aber eine ſchlechte Katholikin i 


und bin ganz davon abgekommen, und vielleicht geht es mir 
deshalb ſo ſchlecht; ja, man darf nicht von ſeinem Glauben 
laſſen und muß alles ordentlich mitmachen.“ 

„Roswitha,“ wiederholte Effi den Namen und ſetzte ſich 
zu ihr auf die Bank. „Was haben Sie nun vor?“ 

„Ach, gnaͤdge Frau, was ſoll ich vorhaben. Ich habe 
gar nichts vor. Wahr und wahrhaftig, ich moͤchte hier ſitzen 
bleiben und warten, bis ich tot umfalle. Das waͤr mir das 
liebſte. Und dann wuͤrden die Leute noch denken, ich haͤtte die 
Alte ſo geliebt wie ein treuer Hund und haͤtte von ihrem Grabe 
nicht weg gewollt und waͤre da geſtorben. Aber das iſt falſch, 
für ſolche Alte ſtirbt man nicht; ich will bloß ſterben, weil ich 
nicht leben kann.“ 


„Ich will Sie was fragen, Roswitha. Sind Sie, was 


man fo ‚Einderlieb‘ nennt? Waren Sie ſchon mal bei kleinen 
Kindern?“ 
„Gewiß war ich. Das iſt ja mein Beſtes und Schoͤnſtes. 


Solche alte Berlinſche — Gott verzeih mir die Suͤnde, denn 


ſie iſt nun tot und ſteht vor Gottes Thron und kann mich da 
verklagen — ſolche Alte, wie die da, ja, das iſt ſchrecklich, was 
man da alles tun muß, und ſteht einem hier vor Bruſt und 
Magen, aber ſolch kleines, liebes Ding, ſolch Dingelchen wie 
ne Puppe, das einen mit ſeinen Guckaͤugelchen anſieht, ja, das 
iſt was, da geht einem das Herz auf. Als ich in Halle war, 


da war ich Amme bei der Frau Salzdirektorin, und in Gie⸗ 
bichenſtein, wo ich nachher hinkam, da hab ich Zwillinge mit 
der Flaſche großgezogen; ja, gnaͤdge Frau, das verſteh ich, 


da drin bin ich wie zu Hauſe.“ 

„Nun, wiſſen Sie was, Roswitha, Sie ſind eine gute, 
treue Perſon, das ſeh ich Ihnen an, ein bißchen gradezu, aber 
das ſchadet nichts, das find mitunter die beſten, und ich habe 
gleich ein Zutrauen zu Ihnen gefaßt. Wollen Sie mit zu mir 


240 


8 


3 

kommen? Mir iſt, als hätte Gott Sie mir geſchickt. Ich er⸗ 

warte nun bald ein Kleines, Gott gebe mir ſeine Hilfe dazu, 
und wenn das Kind da iſt, dann muß es gepflegt und ab⸗ 
gewartet werden und vielleicht auch gepaͤppelt. Man kann das 
ja nicht wiſſen, wiewohl ich es anders wuͤnſche. Was meinen 
Sie, wollen Sie mit zu mir kommen? Ich kann mir nicht 
denken, daß ich mich in Ihnen irre.“ 

Roswitha war aufgeſprungen und hatte die Hand der 
jungen Frau ergriffen und kuͤßte ſie mit Ungeſtuͤm. „Ach, 
es iſt doch ein Gott im Himmel, und wenn die Not am groͤßten 
iſt, iſt die Hilfe am naͤchſten. Sie ſollen ſehn, gnaͤdge Frau, 
es geht; ich bin eine ordentliche Perſon und habe gute Zeug⸗ 
niſſe. Das koͤnnen Sie ſehn, wenn ich Ihnen mein Buch bringe. 
Gleich den erſten Tag, als ich die gnaͤdge Frau ſah, da dacht 
ich: ‚ja, wenn du mal ſolchen Dienſt haͤtteſt!. Und nun ſoll ich 
ihn haben. O du lieber Gott, o du heilge Jungfrau Maria, 
wer mir das geſagt haͤtte, wie wir die Alte hier unter der Erde 
hatten und die Verwandten machten, daß ſie wieder fort⸗ 
kamen und mich hier ſitzen ließen.“ 

„Ja, unverhofft kommt oft, Roswitha, und mitunter auch 
im Guten. Und nun wollen wir gehen. Rollo wird ſchon un⸗ 
geduldig und laͤuft immer auf das Tor zu.“ 

Roswitha war gleich bereit, trat aber noch einmal an das 
Grab, brummelte was vor ſich hin und machte ein Kreuz. 
Und dann gingen ſie den ſchattigen Gang hinunter und wieder 
auf das Kirchhofstor zu. 

Druͤben lag die eingegitterte Stelle, deren weißer Stein 
in der Nachmittagsſonne blinkte und blitzte. Effi konnte jetzt 
ruhiger hinſehen. Eine Weile noch fuͤhrte der Weg zwiſchen 
Duͤnen hin, bis ſie, dicht vor Utpatels Muͤhle, den Außenrand 
des Waͤldchens erreichte. Da bog ſie links ein, und unter Be⸗ 
nutzung einer ſchraͤg laufenden Allee, die die „Reeperbahn“ 
hieß, ging ſie mit Roswitha auf die landraͤtliche Wohnung zu. 


247 


Vierzehntes Kapitel 


Keine Viertelſtunde, ſo war die Wohnung erreicht. Als 
beide hier in den kuͤhlen Flur traten, war Roswitha beim 
Anblick all des Sonderbaren, das da umherhing, wie befangen; 
Effi aber ließ ſie nicht zu weiteren Betrachtungen kommen 
und ſagte: „Roswitha, nun gehen Sie da hinein. Das iſt 
das Zimmer, wo wir ſchlafen. Ich will erſt zu meinem Manne 
nach dem Landratsamt hinuͤber — das große Haus da neben 
dem kleinen, in dem Sie gewohnt haben — und will ihm ſagen, 
daß ich Sie zur Pflege haben moͤchte bei dem Kinde. Er wird 
wohl mit allem einverſtanden ſein, aber ich muß doch erſt ſeine 
Zuſtimmung haben. Und wenn ich die habe, dann muͤſſen wir 
ihn ausquartieren, und Sie ſchlafen mit mir in dem Alkoven. 
Ich denke, wir werden uns ſchon vertragen.“ 

Innſtetten, als er erfuhr, um was ſich's handle, ſagte raſch 
und in guter Laune: „Das haſt du recht gemacht, Effi, und 
wenn ihr Geſindebuch nicht zu ſchlimme Sachen ſagt, ſo nehmen 
wir ſie auf ihr gutes Geſicht hin. Es iſt doch, Gott ſei Dank, 
ſelten, daß einen das taͤuſcht.“ 

Effi war ſehr gluͤcklich, ſo wenig Schwierigkeiten zu begegnen 
und ſagte: „Nun wird es gehen. Ich fuͤrchte mich jetzt nicht mehr.“ 

„Um was, Effi!“ 

„Ach, du weißt ja... Aber Einbildungen find das ſchlimmſte, 
mitunter ſchlimmer als alles.“ 


Roswitha zog in ſelbiger Stunde noch mit ihren paar 


Habſeligkeiten in das landraͤtliche Haus hinuͤber und richtete 
ſich in dem kleinen Alkoven ein. Als der Tag um war, ging ſie 
fruͤh zu Bett und ſchlief, ermuͤdet wie fie war, gleich ein. 

Am andern Morgen erkundigte ſich Effi — die ſeit einiger 
Zeit (denn es war gerade Vollmond) wieder in Angſten lebte — 
wie Roswitha geſchlafen und ob fie nichts gehört habe? 


248 


„Was?“ fragte dieſe. 

„O, nichts. Ich meine nur ſo; ſo was wie wenn ein Beſen 

fegt oder wie wenn einer uͤber die Diele ſchlittert.“ 
Ros witha lachte, was auf ihre junge Herrin einen beſonders 
guten Eindruck machte. Effi war feſt proteſtantiſch erzogen 
und wuͤrde ſehr erſchrocken geweſen ſein, wenn man an und in 
ihr was Katholiſches entdeckt haͤtte; trotzdem glaubte ſie, 
daß der Katholizismus uns gegen ſolche Dinge „wie da oben“ 
beſſer ſchuͤtze; ja, dieſe Betrachtung hatte bei dem Plane, Ros⸗ 
witha ins Haus zu nehmen, ganz erheblich mitgewirkt. 

Man lebte ſich ſchnell ein, denn Effi hatte ganz den liebens⸗ 
wuͤrdigen Zug der meiſten maͤrkiſchen Landfraͤulein, ſich gern 
allerlei kleine Geſchichten erzaͤhlen zu laſſen, und die verſtorbene 
Frau Regiſtratorin und ihr Geiz und ihre Neffen und deren 
Frauen boten einen unerſchoͤpflichen Stoff. Auch Johanna 
hoͤrte dabei gerne zu. 

Dieſe, wenn Effi bei den draſtiſchen Stellen oft laut lachte, 
laͤchelte freilich und verwunderte ſich im ſtillen, daß die gnaͤdige 
Frau an all dem dummen Zeuge ſo viel Gefallen finde; dieſe 
Verwunderung aber, die mit einem ſtarken Überlegenheits⸗ 
gefühle Hand in Hand ging, war doch auch wieder ein Gluͤck 
und ſorgte dafuͤr, daß keine Rangſtreitigkeiten aufkommen 
konnten. Roswitha war einfach die komiſche Figur, und Neid 
gegen ſie zu hegen waͤre fuͤr Johanna nichts anderes geweſen, 
wie wenn ſie Rollo um ſeine Freundſchaftsſtellung beneidet 
hätte, 

So verging eine Woche, plauderhaft und beinahe gemütlich, 
weil Effi dem, was ihr perſoͤnlich bevorſtand, ungeaͤngſtigter 
als fruͤher entgegenſah. Auch glaubte ſie nicht, daß es ſo nahe 
ſei. Den neunten Tag aber war es mit dem Plaudern und den 
Gemuͤtlichkeiten vorbei; da gab es ein Laufen und Rennen, 
Innſtetten ſelbſt kam ganz aus ſeiner gewohnten Reſerve heraus, 
und am Morgen des 3. Juli ſtand neben Effis Bett eine Wiege. 


249 


| 


4 
1 
h 


Doktor Hannemann patſchelte der jungen Frau die Hand und 
ſagte: „Wir haben heute den Tag von Koͤniggraͤtz; ſchade, 
daß es ein Maͤdchen iſt. Aber das andere kann ja nachkommen, 
und die Preußen haben viele Siegestage.“ Roswitha mochte 
wohl Ahnliches denken, freute ſich indeſſen vorläufig ganz 
uneingeſchraͤnkt uͤber das, was da war, und nannte das Kind 
ohne weiteres „Luͤtt⸗Annie,“ was der jungen Mutter als 
ein Zeichen galt. „Es muͤſſe doch wohl eine Eingebung ge⸗ 
weſen ſein, daß Roswitha gerade auf dieſen Namen gekommen 
ſei.“ Selbſt Innſtetten wußte nichts dagegen zu ſagen, und ſo 
wurde ſchon von Klein⸗Annie geſprochen, lange bevor der Tauf⸗ 
tag da war. Effi, die von Mitte Auguſt an bei den Eltern in 
Hohen⸗Cremmen ſein wollte, haͤtte die Taufe gern bis dahin 
verſchoben. Aber es ließ ſich nicht tun; Innſtetten konnte nicht 
Urlaub nehmen, und ſo wurde denn der 15. Auguſt, trotzdem 
es der Napoleonstag war (was denn auch von ſeiten einiger 
Familien beanſtandet wurde), fuͤr dieſen Taufakt feſtgeſetzt, 
natuͤrlich in der Kirche. Das ſich anſchließende Feſtmahl, weil 
das landraͤtliche Haus keinen Saal hatte, fand in dem großen 
Reſſourcen⸗Hotel am Bollwerk ſtatt, und der geſamte Nachbar⸗ 
adel war geladen und auch erſchienen. Paſtor Lindequiſt ließ 
Mutter und Kind in einem liebenswuͤrdigen und allſeitig be⸗ 
wunderten Toaſte leben, bei welcher Gelegenheit Sidonie von 
Graſenabb zu ihrem Nachbar, einem adligen Aſſeſſor von der 
ſtrengen Richtung, bemerkte: „Ja, ſeine Kaſualreden, das geht. 
Aber ſeine Predigten kann er vor Gott und Menſchen nicht 
verantworten; er iſt ein Halber, einer von denen, die verworfen 
ſind, weil ſie lau ſind. Ich mag das Bibelwort hier nicht 
woͤrtlich zitieren.“ Gleich danach nahm auch der alte Herr von 
Borcke das Wort, um Innſtetten leben zu laſſen. „Meine 
Herrſchaften, es find ſchwere Zeiten, in denen wir leben, Auf⸗ 
lehnung, Trotz, Indiſziplin, wohin wir blicken. Aber ſolange 
wir noch Maͤnner haben, und ich darf hinzuſetzen, Frauen und 


250 


Be]: 
Muͤtter (und hierbei verbeugte er ſich mit einer eleganten Hand; 
bewegung gegen Effi)... ſolange wir noch Männer haben 
wie Baron Innſtetten, den ich ſtolz bin, meinen Freund nennen 
zu duͤrfen, ſolange geht es noch, ſolange haͤlt unſer altes Preußen 
noch. Ja, meine Freunde, Pommern und Brandenburg, 
damit zwingen wir's und zertreten dem Drachen der Revo⸗ 
lution das giftige Haupt. Feſt und treu, ſo ſiegen wir. Die 
Katholiken, unſere Bruͤder, die wir, auch wenn wir ſie be⸗ 
kaͤmpfen, achten muͤſſen, haben den „Felſen Petri‘, wir aber 
haben den Rocher de Bronze. Baron Innſtetten, er lebe hoch!“ 
Innſtetten dankte ganz kurz. Effi ſagte zu dem neben ihr 
ſitzenden Major von Crampas: „Das mit dem „Felſen Petri‘ 
ſei wahrſcheinlich eine Huldigung gegen Roswitha geweſen; 
ſie werde nachher an den alten Juſtizrat Gadebuſch herantreten 
und ihn fragen, ob er nicht ihrer Meinung ſei. Crampas nahm 
dieſe Bemerkung unerklaͤrlicherweiſe fuͤr Ernſt und riet von 
einer Anfrage bei dem Juſtizrat ab, was Effi ungemein er⸗ 
heiterte. „Ich habe Sie doch fuͤr einen beſſeren Seelenleſer 
gehalten.“ 

„Ach, meine Gnaͤdigſte, bei ſchoͤnen jungen Frauen, die 
noch nicht achtzehn ſind, ſcheitert alle Leſekunſt.“ 

„Sie verderben ſich vollends, Major. Sie koͤnnen mich eine 
Großmutter nennen, aber Anſpielungen darauf, daß ich noch 
nicht achtzehn bin, das kann Ihnen nie verziehen werden.“ 

Als man von Tiſch aufgeſtanden war, kam der Spaͤt⸗ 
nachmittags⸗Oampfer die Keſſine herunter und legte an der 
Landungsbruͤcke, gegenuͤber dem Hotel, an. Effi ſaß mit 
Crampas und Gieshuͤbler beim Kaffee, alle Fenſter auf, und 
ſah dem Schauſpiel druͤben zu. „Morgen fruͤh um neun fuͤhrt 
mich dasſelbe Schiff den Fluß hinauf, und zu Mittag bin ich 
in Berlin, und am Abend bin ich in Hohen⸗Cremmen, und 
Roswitha geht neben mir und haͤlt das Kind auf dem Arme. 
Hoffentlich ſchreit es nicht. Ach, wie mir ſchon heute zumute 


251 


iſt! Lieber Gieshuͤbler, find Sie auch mal fo froh geweſen, 
Ihr elterliches Haus wiederzuſehen?“ 
„Ja, ich kenne das auch, gnaͤdigſte Frau. Nur bloß, ich 
brachte kein Anniechen mit, weil ich keins hatte.“ 
„Kommt noch,“ ſagte Crampas. „Stoßen Sie an, Gies⸗ 
huͤbler; Sie ſind der einzige vernuͤnftige Menſch hier.“ 
„Aber, Herr Major, wir haben ia bloß noch den Kognak.“ 
„Deſto beſſer.“ 


Fuͤnfzehntes Kapitel 


Mitte Auguſt war Effi abgereiſt, Ende September war 
ſie wieder in Keſſin. Manchmal in den zwiſchenliegenden ſechs 
Wochen hatte ſie's zuruͤckverlangt; als fie aber wieder da war 
und in den dunklen Flur eintrat, auf den nur von der Treppen⸗ 
fliege her ein etwas fahles Licht fiel, wurde ihr mit einemmal 
wieder bang, und ſie ſagte leiſe: „Solch fahles, gelbes Licht 
gibt es in Hohen⸗Cremmen gar nicht.“ 

Ja, ein paarmal, waͤhrend ihrer Hohen⸗Cremmer Tage, 
hatte ſie Sehnſucht nach dem „verwunſchenen Hauſe“ gehabt, 
alles in allem aber war ihr doch das Leben daheim voller Gluͤck 


und Zufriedenheit geweſen. Mit Hulda freilich, die's nicht ver 


winden konnte, noch immer auf Mann oder Bräutigam warten 
zu muͤſſen, hatte ſie ſich nicht recht ſtellen koͤnnen, deſto beſſer 
dagegen mit den Zwillingen, und mehr als einmal, wenn ſie 
mit ihnen Ball oder Krocket geſpielt hatte, war ihr's ganz 
aus dem Sinn gekommen, uͤberhaupt verheiratet zu ſein. 
Das waren dann gluͤckliche Viertelſtunden geweſen. Am liebſten 
aber hatte ſie wie fruͤher auf dem durch die Luft fliegenden 
Schaukelbrett geſtanden und in dem Gefühle: jetzt ſtuͤrz ich‘, 
etwas eigentuͤmlich Prickelndes, einen Schauer ſuͤßer Gefahr 
empfunden, Sprang ſie dann ſchließlich von der Schaukel ab, 


252 


f 


ſo begleitete fie die beiden Mädchen bis an die Bank vor dem 

Schulhauſe und erzaͤhlte, wenn ſie daſaßen, dem alsbald hin⸗ 
zukommenden alten Jahnke von ihrem Leben in Keſſin, das 
halb hanſeatiſch und halb ſkandinaviſch und jedenfalls ſehr 
anders als in Schwantikow und Hohen-Cremmen ſei. 

Das waren ſo die taͤglichen kleinen Zerſtreuungen, an die 
ſich gelegentlich auch Fahrten in das ſommerliche Luch ſchloſſen, 
meiſt im Jagdwagen; allem voran aber ſtanden fuͤr Effi doch 
die Plaudereien, die ſie beinahe jeden Morgen mit der Mama 
hatte. Sie ſaßen da oben in der luftigen großen Stube, Ros⸗ 
witha wiegte das Kind und ſang in einem thuͤringiſchen Platt 
allerlei Wiegenlieder, die niemand recht verſtand, vielleicht ſie 
ſelber nicht; Effi und Frau von Brieſt aber ruͤckten ans offene 
Fenſter und ſahen, waͤhrend ſie ſprachen, auf den Park hinunter, 
auf die Sonnenuhr oder auf die Libellen, die beinahe regungslos 
uͤber dem Teich ſtanden, oder auch auf den Flieſengang, wo 
Herr von Brieſt neben dem Treppenvorbau ſaß und die Zeis 
tungen las. Immer wenn er umſchlug, nahm er zuvor den 
Kneifer ab und gruͤßte zu Frau und Tochter hinauf. Kam 
dann das letzte Blatt an die Reihe, das in der Regel der „An⸗ 
zeiger fuͤrs Havelland“ war, ſo ging Effi hinunter, um ſich ent⸗ 
weder zu ihm zu ſetzen oder um mit ihm durch Garten und 
Park zu ſchlendern. Einmal, bei ſolcher Gelegenheit, traten ſie, 
von dem Kieswege her, an ein kleines, zur Seite ſtehendes 
Denkmal heran, das ſchon Brieſts Großvater zur Erinnerung 
an die Schlacht von Waterloo hatte aufrichten laſſen, eine ver⸗ 
roſtete Pyramide mit einem gegoſſenen Bluͤcher in Front und 
einem dito Wellington auf der Ruͤckſeite. 

„Haſt du nun ſolche Spaziergaͤnge auch in Keſſin,“ ſagte 
Brieſt, „und begleitet dich Innſtetten auch und erzaͤhlt dir 
allerlei?“ 

„Nein, Papa, ſolche Spaziergaͤnge habe ich nicht. Das 
iſt ausgeſchloſſen, denn wir haben bloß einen kleinen Garten 


253 


ee 


hinter dem Haufe, der eigentlich kaum ein Garten if, bloß 


ein paar Buchsbaumrabatten und Gemuͤſebeete mit drei, 
vier Obſtbaͤumen drin. Innſtetten hat keinen Sinn dafür 
und denkt wohl auch nicht ſehr lange mehr in Keſſin zu bleiben.“ 

„Aber Kind, du mußt doch Bewegung haben und friſche 
Luft, daran biſt du doch gewoͤhnt.“ 

„Hab ich auch. Unſer Haus liegt an einem Waͤldchen, 
das ſie die Plantage nennen. Und da geh ich denn viel ſpazieren 
und Rollo mit mir.“ 

„Immer Rollo,“ lachte Brieſt. „Wenn man's nicht anders 


wuͤßte, ſo ſollte man beinah glauben, Rollo ſei dir mehr ans 


Herz gewachſen als Mann und Kind.“ 

„Ach, Papa, das waͤre ja ſchrecklich, wenn's auch freilich 
— ſoviel muß ich zugeben — eine Zeit gegeben hat, wo's 
ohne Rollo gar nicht gegangen waͤre. Das war damals 
nun, du weißt ſchon ... Da hat er mich fo gut wie gerettet, 
oder ich habe mir's wenigſtens eingebildet, und ſeitdem iſt er 
mein guter Freund und mein ganz beſonderer Verlaß. Aber 
er iſt doch bloß ein Hund. Und erſt kommen doch natuͤrlich die 
Menſchen.“ 


„Ja, das ſagt man immer, aber ich habe da doch ſo meine 


Zweifel. Das mit der Kreatur, damit hat's doch ſeine eigene 
Bewandtnis, und was da das Richtige iſt, daruͤber ſind die 
Akten noch nicht geſchloſſen. Glaube mir, Effi, das iſt auch ein 
weites Feld. Wenn ich mir ſo denke, da verungluͤckt einer auf 
dem Waſſer oder gar auf dem ſchuͤlbrigen Eis, und ſolch ein 


Hund, ſagen wir ſo einer wie dein Rollo, iſt dabei, ja, der ruht 


nicht eher, als bis er den Verungluͤckten wieder an Land hat. 
Und wenn der Verungluͤckte ſchon tot iſt, dann legt er ſich neben 


den Toten hin und blafft und winſelt ſo lange, bis wer kommt, 


und wenn keiner kommt, dann bleibt er bei dem Toten liegen, 
bis er ſelber tot iſt. Und das tut ſolch Tier immer. Und nun 


BB, 


nimm dagegen die Menſchheit! Gott, vergib mir die Sünde, | 


254 


A 


aber mitunter iſt mir's doch, als ob die Kreatur beſſer waͤre als 
der Menſch.“ 

„Aber, Papa, wenn ich das Innſtetten wieder erzaͤhlte ...“ 

„Nein, das tu lieber nicht, Effi...” 

„Rollo wuͤrde mich ja natuͤrlich retten, aber Innſtetten 
wuͤrde mich auch retten. Er iſt ja ein Mann von Ehre.“ 

„Das iſt er.“ . 

„Und liebt mich.“ 

„Verſteht ſich, verſteht ſich. Und wo Liebe iſt da iſt auch 
Gegenliebe. Das iſt nun mal ſo. Mich wundert nur, daß 
er nicht mal Urlaub genommen a und ruͤbergeflitzt iſt. 
Wenn man eine fo junge Frau hat. 

Effi erroͤtete, weil ſie gerade ſo 1585 Sie mochte & aber 
nicht einräumen. „Innſtetten ift fo gewiſſenhaft und will, 
glaub ich, gut angeſchrieben fein, und hat fo feine Pläne für 
die Zukunft; Keſſin iſt doch bloß eine Station. Und dann am 
Ende, ich lauf ihm ja nicht fort. Er hat mich ja. Wenn man 
zu zaͤrtlich iſt. .. und dazu der Unterſchied der Jahre. 
da laͤcheln die Leute bloß.“ 

„Ja, das tun ſie, Effi. Aber darauf muß man's ankommen 
laſſen. Übrigens ſage nichts daruͤber, auch nicht zu Mama. 
Es iſt ſo ſchwer, was man tun und laſſen ſoll. Das iſt auch ein 
weites Feld.“ 


Geſpraͤche wie dieſe waren waͤhrend Effis Beſuch im elter⸗ 
lichen Hauſe mehr als einmal gefuͤhrt worden, hatten aber 
gluͤcklicherweiſe nicht lange nachgewirkt, und ebenſo war auch 
der etwas melancholiſche Eindruck raſch verflogen, den das erſte 
Wiederbetreten ihres Keſſiner Hauſes auf Effi gemacht hatte. 
Innſtetten zeigte ſich voll kleiner Aufmerkſamkeiten, und als 
der Tee genommen und alle Stadt⸗ und Liebesgeſchichten in 
heiterſter Stimmung durchgeſprochen waren, hing ſich Effi - 
zaͤrtlich an ſeinen Arm, um druͤben ihre Plaudereien mit ihm 


255 


fortzuſetzen und noch einige Anekdoten von der Trippelli zu 
hoͤren, die neuerdings wieder mit Gieshuͤbler in einer lebhaften 
Korreſpondenz geſtanden hatte, was immer gleichbedeutend 
mit einer neuen Belaſtung ihres nie ausgeglichenen Kontos 
war. Effi war bei dieſem Geſpraͤch ſehr ausgelaſſen, fuͤhlte 
ſich ganz als junge Frau und war froh, die nach der Geſinde⸗ 
ſtube hin ausquartierte Roswitha auf unbeſtimmte Zeit los 
zu ſein. 

Am andern Morgen ſagte ſie: „Das Wetter iſt ſchoͤn und 
mild und ich hoffe, die Veranda nach der Plantage hinaus 
iſt noch in gutem Stande, und wir koͤnnen uns ins Freie ſetzen 
und da das Fruͤhſtuͤck nehmen. In unſere Zimmer kommen 
wir ohnehin noch fruͤh genug, und der Keſſiner Winter iſt wirk⸗ 
lich um vier Wochen zu lang.“ 

Innſtetten war ſehr einverſtanden. Die Veranda, von der 
Effi geſprochen, und die vielleicht richtiger ein Zelt genannt 
worden waͤre, war ſchon im Sommer hergerichtet worden, 
drei, vier Wochen vor Effis Abreiſe nach Hohen⸗Cremmen, und 
beſtand aus einem großen, gedielten Podium, vorn offen, 
mit einer maͤchtigen Marquiſe zu Haͤupten, waͤhrend links und 
rechts breite Leinwandvorhaͤnge waren, die ſich mit Hilfe von 
Ringen an einer Eiſenſtange hin und her ſchieben ließen. Es 
war ein reizender Platz, den ganzen Sommer uͤber von allen 
Badegaͤſten, die hier voruͤber mußten, bewundert. 

Effi hatte ſich in einen Schaukelſtuhl gelehnt und ſagte, 
waͤhrend ſie das Kaffeebrett von der Seite her ihrem Manne 
zuſchob: „Geert, du koͤnnteſt heute den liebenswuͤrdigen Wirt 
machen; ich fuͤr mein Teil find es ſo ſchoͤn in dieſem Schaukel⸗ 
ſtuhl, daß ich nicht aufſtehen mag. Alſo ſtrenge dich an, und 
wenn du dich recht freuſt, mich wieder hier zu haben, ſo werd 
ich mich auch zu revanchieren wiſſen.“ Und dabei zupfte ſie die 
weiße Damaſtdecke zurecht und legte ihre Hand darauf, die 
Innſtetten nahm und kuͤßte. 


* 


256 


WDWwWie biſt du nur eigentlich ohne mich fertig geworden?“ 

„Schlecht genug, Effi.“ 

„Das ſagſt du ſo hin und machſt ein betruͤbtes Geſicht, 
und iſt doch eigentlich alles nicht wahr.“ 

„Aber Effi...” : 

„Was ich dir beweiſen will. Denn wenn du ein bißchen Sehn⸗ 
ſucht nach deinem Kinde gehabt haͤtteſt — von mir ſelber will 
ich nicht ſprechen, was iſt man am Ende ſolchem hohen Herrn, 
der fo lange Jahre Junggeſelle war und es nicht eilig hatte ..“ 

„Nun?“ 

„Ja, Geert, wenn du nur ein bißchen Sehnſucht gehabt 
haͤtteſt, ſo haͤtteſt du mich nicht ſechs Wochen mutterwindallein 
in Hohen⸗Cremmen ſitzen laſſen wie eine Witwe, und nichts 
da als Niemeyer und Jahnke und mal die Schwantikower. 
Und von den Rathenowern iſt niemand gekommen, als ob ſie ſich 
vor mir gefuͤrchtet haͤtten oder als ob ich zu alt geworden ſei.“ 

„Ach, Effi, wie du nur ſprichſt. Weißt du, daß du eine kleine 
Kokette biſt?“ i 

„Gott ſei Dank, daß du das ſagſt. Das iſt fuͤr euch da 
Beſte, was man ſein kann. Und du biſt nichts anderes als die 
anderen, wenn du auch ſo feierlich und ehrſam tuſt. Ich weiß 
es recht gut, Geert ... Eigentlich biſt du ...“ 

„Nun, was?“ 

„Nun, ich will es lieber nicht ſagen. Aber ich kenne dich 
recht gut; du biſt eigentlich, wie der Schwantikower Onkel mal 
ſagte, ein Zaͤrtlichkeitsmenſch und unteem Liebesſtern geboren, 
und Onkel Belling hatte ganz recht, als er das ſagte. Du willſt 
es bloß nicht zeigen und denkſt, es ſchickt ſich nicht und verdirbt 
einem die Karriere. Hab ich's getroffen?“ 

Innſtetten lachte. „Ein bißchen getroffen haſt du's. Weißt 
du was, Effi, du kommſt mir ganz anders vor. Bis Anniechen 
da war, warſt du ein Kind. Aber mit einem Male ...“ 

„Nun?“ 


IV 17 257 


„Mit einem Male biſt du wie vertauſcht. Aber es ſteht dir, | 


du gefaͤllſt mir ſehr, Effi. Weißt du was?“ 

„Nun?“ 

„Du haſt was Verfuͤhreriſches.“ 

„Ach, mein einziger Geert, das iſt ja herrlich, was du da 
ſagſt; nun wird mir erſt recht wohl ums Herz... Gib mir 
noch eine halbe Taſſe ... Weißt du denn, daß ich mir das 
immer gewuͤnſcht habe? Wir muͤſſen verfuͤhreriſch fein, ſonſt 
find wir gar nichts ...“ 

„Haſt du das aus dir?“ 

„Ich koͤnnt es wohl auch aus mir haben. Aber ich hab es 
von Niemeyer ...“ a 

„Von Niemeyer! O du himmliſcher Vater, iſt das ein 
Paſtor. Nein, ſolche gibt es hier nicht. Aber wie kam denn der 
dazu? Das iſt ja, als ob es irgendein Don Juan oder Herzens⸗ 
brecher geſprochen haͤtte.“ 

„Ja, wer weiß,“ lachte Effi... „Aber kommt da nicht 


Crampas? Und vom Strand her. Er wird doch nicht gebadet 


haben? Am 27. September ...“ 

„Er macht oͤfter ſolche Sachen. Reine Renommiſterei.“ 

Derweilen war Crampas bis in die naͤchſte Naͤhe gekommen 
und gruͤßte. . 

„Guten Morgen,“ rief Innſtetten ihm zu. „Nur naͤher, 
nur naͤher.“ 

Crampas trat heran. Er war in Zivil und kuͤßte der in 
ihrem Schaukelſtuhl ſich weiter wiegenden Effi die Hand. 
„Entſchuldigen Sie mich, Major, daß ich ſo ſchlecht die Hon⸗ 
neurs des Hauſes mache; aber die Veranda iſt kein Haus und 
zehn Uhr fruͤh iſt eigentlich gar keine Zeit. Da wird man form⸗ 
los oder, wenn Sie wollen, intim. Und nun ſetzen Sie ſich 
und geben Sie Rechenſchaft von Ihrem Tun. Denn an Ihrem 
Haar, ich wuͤnſchte Ihnen, daß es mehr waͤre, ſieht man deut⸗ 
lich, daß Sie gebadet haben.“ 


258 


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Er nickte. 

„Unverantwortlich,“ ſagte Innſtetten, halb ernſt⸗, halb 
ſcherzhaft. „Da haben Sie nun ſelber vor vier Wochen die 
Geſchichte mit dem Bankier Heinersdorf erlebt, der auch dachte, 
das Meer und der grandioſe Wellenſchlag wuͤrden ihn um 
ſeiner Million willen reſpektieren. Aber die Goͤtter ſind eifer⸗ 
ſuͤchtig untereinander, und Neptun ſtellte ſich ohne weiteres 
gegen Pluto oder doch wenigſtens gegen Heinersdorf.“ 

Crampas lachte. „Ja, eine Million Mark! Lieber Inn⸗ 
ſtetten, wenn ich die haͤtte, da haͤtt ich es am Ende nicht gewagt; 
denn ſo ſchoͤn das Wetter iſt, das Waſſer hatte nur neun Grad. 
Aber unſereins mit ſeiner Million Unterbilanz, geſtatten Sie 
mir dieſe kleine Renommage, unſereins kann ſich ſo was ohne 
Furcht vor der Goͤtter Eiferſucht erlauben. Und dann muß 
einen das Sprichwort troͤſten: ‚Wer für den Strick geboren iſt, 
kann im Waſſer nicht umkommen.“ 

„Aber, Major, Sie werden ſich doch nicht etwas ſo Ur⸗ 
proſaiſches, ich moͤchte beinah ſagen an den Hals reden wollen. 
Allerdings glauben manche, daß... ich meine das, wovon 
Sie eben geſprochen haben ... daß ihn jeder mehr oder weniger 
verdiene. Trotzdem, Major... für einen Major ...“ 

„ .. Iſt es keine herkoͤmmliche Todesart. Zugegeben, 
meine Gnaͤdigſte. Nicht herkoͤmmlich und in meinem Falle 
auch nicht einmal ſehr wahrſcheinlich — alſo alles bloß Zitat 
oder noch richtiger fagon de parler. Und doch ſteckt etwas Auf⸗ 
richtiggemeintes dahinter, wenn ich da eben ſagte, die See 
werde mir nichts anhaben. Es ſteht mir naͤmlich feſt, daß ich 
einen richtigen und hoffentlich ehrlichen Soldatentod ſterben 
werde. Zunaͤchſt bloß Zigeunerprophezeiung, aber mit Reſonanz 
im eigenen Gewiſſen.“ 

Innſtetten lachte. „Das wird ſeine Schwierigkeiten haben, 
Crampas, wenn Sie nicht vorhaben, beim Großtuͤrken oder 
unterm chineſiſchen Drachen Dienſte zu nehmen. Da ſchlaͤgt 


77° 259 


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man ſich jetzt herum. Hier iſt die Geſchichte, glauben Sie mir, 
auf dreißig Jahre vorbei, und wer ſeinen Soldatentod ſterben 
will...“ 

„. . . Der muß fi erſt bei Bismarck einen Krieg beſtellen. 
Weiß ich alles, Innſtetten. Aber das iſt doch fuͤr Sie eine 
Kleinigkeit. Jetzt haben wir Ende September; in zehn Wochen 
ſpaͤteſtens iſt der Fuͤrſt wieder in Varzin, und da er ein liking 
fuͤr Sie hat — mit der volkstuͤmlicheren Wendung will ich 
zuruͤckhalten, um nicht direkt vor Ihren Piſtolenlauf zu 
kommen —, ſo werden Sie einem alten Kameraden von Vion⸗ 
ville her doch wohl ein bißchen Krieg beſorgen koͤnnen. Der 
Fuͤrſt iſt auch nur ein Menſch, und Zureden hilft.“ 

Effi hatte waͤhrend dieſes Geſpraͤchs einige Brotkuͤgelchen 
gedreht, wuͤrfelte damit und legte ſie zu Figuren zuſammen, 
um ſo anzuzeigen, daß ihr ein Wechſel des Themas wuͤnſchens⸗ 
wert waͤre. Trotzdem ſchien Innſtetten auf Crampas ſcherz⸗ 
hafte Bemerkungen antworten zu wollen, was denn Effi be⸗ 
ſtimmte, lieber direkt einzugreifen. „Ich ſehe nicht ein, Major, 
warum wir uns mit Ihrer Todesart beſchaͤftigen ſollen; das 
Leben iſt uns naͤher und zunaͤchſt auch eine viel ernſtere Sache.“ 

Crampas nickte. 

„Das iſt recht, daß Sie mir recht geben. Wie ſoll man hier 
leben? Das iſt vorlaͤufig die Frage, das iſt wichtiger als alles 
andere. Gieshuͤbler hat mir daruͤber geſchrieben, und wenn 
es nicht indiskret und eitel waͤre, denn es ſteht noch allerlei 
nebenher darin, fo zeigte ich Ihnen den Brief... Innſtetten 
braucht ihn nicht zu leſen, der hat keinen Sinn fuͤr dergleichen 
beiläufig eine Handſchrift wie geſtochen und Ausdrucksformen, 
als waͤre unſer Freund ſtatt am Keſſiner Alten⸗Markt an einem 
altfranzoͤſiſchen Hofe erzogen. Und daß er verwachſen iſt und 
weiße Jabots traͤgt wie kein anderer Menſch mehr — ich weiß 
nur nicht, wo er die Plaͤtterin hernimmt —, das paßt alles ſo 
vorzuͤglich. Nun, alſo Gies huͤbler hat mir von Plänen für die 


260 


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Reſſourcenabende geſchrieben und von einem Entrepreneur, 
namens Crampas. Sehen Sie, Major, das gefaͤllt mir beſſer 
als der Soldatentod oder gar der andere.“ 

„Mir perſoͤnlich nicht minder. Und es muß ein Pracht⸗ 
winter werden, wenn wir uns der Unterſtuͤtzung der gnaͤdigen 
Frau verſichert halten dürften, Die Trippelli kommt ...“ 

„Die Trippelli? Dann bin ich uͤberfluͤſſig.“ 

„Mitnichten, gnaͤdigſte Frau. Die Trippelli kann nicht 
von Sonntag bis wieder Sonntag ſingen, es waͤre zuviel fuͤr 
fie und für uns; Abwechſlung iſt des Lebens Reiz, eine Wahr⸗ 
heit, die freilich jede gluͤckliche Ehe zu widerlegen ſcheint.“ 

„Wenn es gluͤckliche Ehen gibt, die meinige ausgenom⸗ 
men...“ und fie reichte Innſtetten die Hand. 

„Abwechſlung alſo,“ fuhr Crampas fort. „Und dieſe 
fuͤr uns und unſere Reſſource zu gewinnen, deren Vizevorſtand 
zu ſein ich zurzeit die Ehre habe, dazu braucht es aller bewaͤhrten 
Kraͤfte. Wenn wir uns zuſammentun, ſo muͤſſen wir das 
ganze Neſt auf den Kopf ſtellen. Die Theaterſtuͤcke ſind ſchon 
ausgeſucht: Krieg im Frieden, Monſieur Herkules, Jugendliebe 
von Wilbrandt, vielleicht auch Euphroſyne von Genſichen. 
Sie die Euphroſyne, ich der alte Goethe. Sie ſollen ſtaunen, 
wie gut ich den Dichterfürften tragiere ... wenn ‚fragieren‘ 
das richtige Wort iſt.“ 

„Kein Zweifel. Hab ich doch inzwiſchen aus dem Briefe 
meines alchimiſtiſchen Geheimkorreſpondenten erfahren, daß 
Sie neben vielem anderen gelegentlich auch Dichter ſind. An⸗ 
fangs habe ich mich gewundert ...“ 

„Denn Sie haben es mir nicht angeſehen.“ 

„Nein. Aber ſeit ich weiß, daß Sie bei neun Grad baden, 
bin ich anderen Sinnes geworden ... neun Grad Oſtſee, das 

geht über den kaſtaliſchen Quell ...“ 
„Deſſen Temperatur unbekannt iſt.“ 
„Nicht fuͤr mich; wenigſtens wird mich niemand widerlegen. 


261 


Aber nun muß ich aufftehen. Da kommt ja Roswitha mit 
Luͤtt⸗Annie.“ 

Und ſie erhob ſich raſch und ging auf Roswitha zu, nahm 
ihr das Kind aus dem Arm und hielt es ſtolz und gluͤcklich in 
die Hoͤhe. 


Sechzehntes Kapitel 


Die Tage waren ſchoͤn und blieben es bis in den Oktober 
hinein. Eine Folge davon war, daß die halb zeltartige Veranda 
draußen zu ihrem Rechte kam, ſo ſehr, daß ſich wenigſtens die 
Vormittagsſtunden regelmaͤßig darin abſpielten. Gegen elf 
kam dann wohl der Major, um ſich zunaͤchſt nach dem Be⸗ 
finden der gnaͤdigen Frau zu erkundigen und mit ihr ein wenig 
zu mebdifleren, was er wundervoll verſtand, danach aber mit 
Innſtetten einen Ausritt zu verabreden, oft landeinwaͤrts, 
die Keſſine hinauf bis an den Breitling, noch haͤufiger auf die 
Molen zu. Effi, wenn die Herren fort waren, ſpielte mit dem 
Kind oder durchblaͤtterte die von Gies huͤbler nach wie vor ihr 
zugeſchickten Zeitungen und Journale, ſchrieb auch wohl einen 
Brief an die Mama oder ſagte: „Roswitha, wir wollen mit 
Annie ſpazieren fahren,“ und dann ſpannte ſich Roswitha vor 
den Korbwagen und fuhr, waͤhrend Effi hinterherging, ein 


paar hundert Schritt in das Waͤldchen hinein, auf eine Stelle 
zu, wo Kaſtanien ausgeſtreut lagen, die man nun auflas, um 
ſie dem Kinde als Spielzeug zu geben. In die Stadt kam Effi 


wenig; es war niemand recht da, mit dem ſie haͤtte plaudern 
koͤnnen, nachdem ein Verſuch, mit der Frau von Crampas 
auf einen Umgangsfuß zu kommen, aufs neue geſcheitert war. 
Die Majorin war und blieb menſchenſcheu. 

Das ging ſo wochenlang, bis Effi ploͤtzlich den Wunſch 
aͤußerte, mit ausreiten zu dürfen; fie habe nun mal die Paffion, 


262 


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und es ſei doch zu viel verlangt, bloß um des Geredes der 
Keſſiner willen, auf etwas zu verzichten, das einem ſo viel 
wert ſei. Der Major fand die Sache kapital, und Innſtetten, 
dem es augenſcheinlich weniger paßte — ſo wenig, daß er 
immer wieder hervorhob, es werde ſich kein Damenpferd finden 
laſſen — Innſtetten mußte nachgeben, als Crampas verſicherte, 
„das ſolle ſeine Sorge ſein“. Und richtig, was man wuͤnſchte, 
fand ſich auch, und Effi war ſelig, am Strande hinjagen zu 
koͤnnen, jetzt wo „Damenbad“ und „Herrenbad“ keine ſcheiden⸗ 
den Schreckensworte mehr waren. Meiſt war auch Rollo mit 
von der Partie, und weil es ſich ein paarmal ereignet hatte, 
daß man am Strande zu raſten oder auch eine Strecke Wegs 
zu Fuß zu machen wuͤnſchte, ſo kam man uͤberein, ſich von ent⸗ 
ſprechender Dienerſchaft begleiten zu laſſen, zu welchem Behufe 
des Majors Burſche, ein alter Treptower Ulan, der Knut hieß, 
und Innſtettens Kutſcher Kruſe zu Reitknechten umgewandelt 
wurden, allerdings ziemlich unvollkommen, indem ſie, zu Effis 
Leidweſen, in eine Phantaſielivree geſteckt wurden, darin der 
eigentliche Beruf beider noch nachſpukte. 8 

Mitte Oktober war ſchon heran, als man, ſo herausſtaffiert, 
zum erſtenmal in voller Kavalkade aufbrach, in Front Inn⸗ 
ſtetten und Crampas, Effi zwiſchen ihnen, dann Kruſe und 
Knut und zuletzt Rollo, der aber bald, weil ihm das Nach⸗ 
trotten mißfiel, allen vorauf war. Als man das jetzt oͤde Strand⸗ 
hotel paſſiert und bald danach, ſich rechts haltend, auf dem von 
einer maͤßigen Brandung uͤberſchaͤumten Strandwege den dies⸗ 
ſeitigen Molendamm erreicht hatte, verſpuͤrte man Luſt, ab⸗ 
zuſteigen und einen Spaziergang bis an den Kopf der Mole zu 
machen. Effi war die erſte aus dem Sattel. Zwiſchen den beiden 
Steindaͤmmen floß die Keſſine breit und ruhig dem Meere zu, 
das wie eine ſonnenbeſchienene Flaͤche, darauf nur hier und da 
eine leichte Welle kraͤuſelte, vor ihnen lag. 

Effi war noch nie hier draußen geweſen, denn als ſie vorigen 


263 


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2 Crampas, der unter der Fahne der Diſziplin groß geworden iſt 


November in Keſſin eintraf, war ſchon Sturmzeit, und als 
der Sommer kam, war ſie nicht mehr imſtande, weite Gaͤnge 
zu machen. Sie war jetzt entzuͤckt, fand alles groß und herrlich, 
erging ſich in kraͤnkenden Vergleichen zwiſchen dem Luch und 
dem Meer und ergriff, ſooft die Gelegenheit dazu ſich bot, ein 
Stuͤck angeſchwemmtes Holz, um es nach links hin in die See 
oder nach rechts hin in die Keſſine zu werfen. Rollo war immer 
gluͤcklich, im Dienſte feiner Herrin ſich nachſtuͤrzen zu koͤnnen; 


mit einem Male aber wurde feine Aufmerkſamkeit nach einer B ganz 


anderen Seite hin abgezogen, und ſich vorſichtig, ja beinahe aͤngſt⸗ 
lich vorwärts ſchleichend, ſprang er plotzlich auf einen in Front 
ſichtbar werdenden Gegenſtand zu, freilich vergeblich, denn im 
ſelben Augenblicke glitt von einem ſonnenbeſchienenen und mit 


gruͤnem Tang uͤberwachſenen Stein eine Robbe glatt und geraͤuſch⸗ 
los in das nur etwa fuͤnf Schritt entfernte Meer hinunter. Eine 


kurze Weile noch ſah man den Kopf, dann tauchte auch dieſer unter. 


Alle waren erregt, und Crampas phantaſierte von Robben⸗ 
jagd, und daß man das naͤchſte Mal die Büchfe mitnehmen 


muͤſſe, „denn die Dinger haben ein feſtes Fell.“ 

„Geht nicht,“ ſagte Innſtetten; „Hafenpolizei.“ 

„Wenn ich ſo was hoͤre,“ lachte der Major. „Hafenpolizei! 
Die drei Behoͤrden, die wir hier haben, werden doch wohl unter⸗ 
einander die Augen zudruͤcken koͤnnen. Muß denn alles ſo 
furchtbar geſetzlich ſein? Alle Geſetzlichkeiten ſind langweilig.“ 

Effi klatſchte in die Haͤnde. 


„Ja, Crampas, Sie kleidet das, und Effi, wie Sie ſehen, 


WAR..." — 


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klatſcht Ihnen Beifall. Natürlich; die Weiber ſchreien ſofort nach | 


einem Schutzmann, aber von Geſetz wollen fie nichts wiſſen.“ 
„Das iſt ſo Frauenrecht von alter Zeit her, und wir werden's 

nicht aͤndern, Innſtetten.“ 5 
„Nein,“ lachte dieſer, „und ich will es auch nicht. Auf 
ohrenwaͤſche laſſe ich mich nicht ein. Aber einer wie Sie, 


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2 
* 


und recht gut weiß, daß es ohne Zucht und Ordnung nicht geht, 
ein Mann wie Sie, der ſollte doch eigentlich ſo was nicht reden, 

auch nicht einmal im Spaß. Indeſſen, ich weiß ſchon, Sie 
haben einen himmliſchen Kehr⸗mich⸗nicht⸗dran und denken, 
der Himmel wird nicht gleich einſtuͤrzen. Nein, gleich nicht. 
Aber mal kommt es.“ 

Crampas wurde einen Augenblick verlegen, weil er glaubte, 
das alles ſei mit einer gewiſſen Abſicht geſprochen, was aber 
nicht der Fall war. Innſtetten hielt nur einen ſeiner kleinen 
moraliſchen Vortraͤge, zu denen er uͤberhaupt hinneigte. „Da 
lob ich mir Gieshuͤbler,“ ſagte er einlenkend, „immer Kavalier 
und dabei doch Grundſaͤtze.“ 

Der Major hatte ſich mittlerweile wieder zurechtgefunden 
und ſagte in feinem alten Ton: „Ja, Gieshuͤbler; der beſte 
Kerl von der Welt und, wenn moͤglich, noch beſſere ane 
Aber am Ende woher? warum? Weil er einen „‚Verdruß“ 
hat. Wer gerade gewachſen iſt, iſt fuͤr Leichtſinn. Überhaup 
ohne Leichtſinn iſt das ganze Leben keinen Schuß Pulver wert.“ 

„Nun hoͤren Sie, Crampas, gerade ſo viel kommt mit⸗ 
unter dabei heraus.“ Und dabei ſah er auf des Majors linken, 
etwas verkuͤrzten Arm. 

Effi hatte von dieſem Geſpraͤche wenig gehoͤrt. Sie war 
dicht an die Stelle getreten, wo die Robbe gelegen, und Rollo 
ſtand neben ihr. Dann ſahen beide, von dem Stein weg, auf 
das Meer und warteten, ob die, Seejungfrau' noch einmal ſicht⸗ 
bar werden wuͤrde. 


Ende Oktober begann die Wahlkampagne, was Innſtetten 
hinderte, ſich ferner an den Ausfluͤgen zu beteiligen, und auch 
Crampas und Effi haͤtten jetzt um der lieben Keſſiner willen 
wohl verzichten muͤſſen, wenn nicht Knut und Kruſe als eine 
Art Ehrengarde geweſen waͤren. So kam es, daß ſich die 
Spazierritte bis in den November hinein fortſetzten. 


265 


Ein Wetterumſchlag war freilich eingetreten, ein andauern, 
ber Nordweſt trieb Wolkenmaſſen heran, und das Meer ſchaͤumte 
maͤchtig, aber Regen und Kaͤlte fehlten noch, und ſo waren dieſe 
Ausfluͤge bei grauem Himmel und laͤrmender Brandung faſt 
noch ſchoͤner, als ſie vorher bei Sonnenſchein und ſtiller See 
geweſen waren. Rollo jagte vorauf, dann und wann von 
dem Giſcht uͤberſpritzt, und der Schleier von Effis Reithut 
flatterte im Winde. Dabei zu ſprechen war faſt unmoͤglich; 
wenn man dann aber, vom Meere fort, in die ſchutzgebenden 
Duͤnen oder noch beſſer in den weiter zuruͤckgelegenen Kiefern⸗ 
wald einlenkte, ſo wurd es ſtill, Effis Schleier flatterte nicht 
mehr, und die Enge des Wegs zwang die beiden Reiter dicht 
nebeneinander. Das war dann die Zeit, wo man — ſchon um 
der Knorren und Wurzeln willen im Schritt reitend — die 
Geſpraͤche, die der Brandungslaͤrm unterbrochen hatte, wieder 
aufnehmen konnte. Crampas, ein guter Cauſeur, erzaͤhlte 
dann Kriegs; und Regimentsgeſchichten, auch Anekdoten und 
kleine Charakterzuͤge von Innſtetten, der mit ſeinem Ernſt und 
ſeiner Zugeknoͤpftheit in den uͤbermuͤtigen Kreis der Kameraden 
nie recht hineingepaßt habe, ſo daß er eigentlich immer mehr 
reſpektiert als geliebt worden ſei.“ 

„Das kann ich mir denken,“ ſagte Effi, „ein Gluͤck nur, daß 
der Reſpekt die Hauptſache iſt.“ 

„Ja, zu ſeiner Zeit. Aber er paßt doch nicht immer. Und 
zu dem allen kam noch ſeine myſtiſche Richtung, die mitunter 
Anſtoß gab, einmal weil Soldaten uͤberhaupt nicht ſehr fuͤr 
derlei Dinge ſind, und dann weil wir die Vorſtellung unter⸗ 
hielten, vielleicht mit Unrecht, daß er doch nicht ganz ſo dazu 
ſtaͤnde, wie er's uns einreden wollte.“ s 

„Myſtiſche Richtung?“ ſagte Effi. „Ja, Major, was ver⸗ 
ſtehen Sie darunter? Er kann doch keine Konventikel abge⸗ 
halten und den Propheten geſpielt haben. Auch nicht einmal 
den aus der Oper ... ich habe feinen Namen vergeſſen.“ 


266 


„Nein, fo weit ging er nicht. Aber es iſt vielleicht beffer, 
davon abzubrechen. Ich moͤchte nicht hinter ſeinem Ruͤcken etwas 
ſagen, was falſch ausgelegt werden koͤnnte. Zudem ſind es 
Dinge, die ſich ſehr gut auch in ſeiner Gegenwart verhandeln 
laſſen, Dinge, die nur, man mag wollen oder nicht, zu was 
Sonderbarem aufgebauſcht werden, wenn er nicht dabei iſt 
und nicht jeden Augenblick eingreifen und uns widerlegen oder 
meinetwegen auch auslachen kann.“ 

„Aber das iſt ja grauſam, Major. Wie koͤnnen Sie meine 
Neugier ſo auf die Folter ſpannen. Erſt iſt es was, und dann 
iſt es wieder nichts. Und Myſtik! Iſt er denn ein Geiſterſeher?“ 

„Ein Geiſterſeher! Das will ich nicht gerade ſagen. Aber 
er hatte eine Vorliebe, uns Spukgeſchichten zu erzaͤhlen. Und 
wenn er uns dann in große Aufregung verſetzt und manchen 
auch wohl geaͤngſtigt hatte, dann war es mit einem Male wieder, 
als habe er ſich uͤber alle die Leichtglaͤubigen bloß mokieren wollen. 
Und kurz und gut, einmal kam es, daß ich ihm auf den Kopf 
zuſagte: „Ach was, Innſtetten, das iſt ja alles bloß Komoͤdie. 
Mich taͤuſchen Sie nicht. Sie treiben Ihr Spiel mit uns. 
Eigentlich glauben Sie's grad ſo wenig wie wir, aber Sie 
wollen ſich intereſſant machen und haben eine Vorſtellung davon, 
daß Ungewoͤhnlichkeiten nach oben hin beſſer empfehlen. In 
hoͤheren Karrieren will man keine Alltagsmenſchen. Und da 
Sie ſo was vorhaben, ſo haben Sie ſich was Apartes ausge⸗ 
ſucht und ſind bei der Gelegenheit auf den Spuk gefallen.“ 

Effi ſagte kein Wort, was dem Major zuletzt bedruͤcklich 
wurde. „Sie ſchweigen, gnaͤdigſte Frau.“ 

„Ja.“ 

„Darf ich fragen warum? Hab ich Anſtoß gegeben? Oder 
finden Sie's unritterlich, einen abweſenden Freund, ich muß 
das trotz aller Verwahrungen einräumen, ein klein wenig zu 
hecheln? Aber da tun Sie mir trotz alledem unrecht. Das 
alles ſoll ganz ungeniert ſeine Fortſetzung vor ſeinen Ohren 


267 


haben, und ich will ihm dabei jedes Wort wiederholen, was ich 
jetzt eben geſagt habe.“ 

„Glaub es.“ Und nun brach Effi ihr Schweigen und er⸗ 
zaͤhlte, was ſie alles in ihrem Hauſe erlebt und wie ſonderbar 
ſich Innſtetten damals dazu geſtellt habe. „Er ſagte nicht ja 
und nicht nein, und ich bin nicht klug aus ihm geworden.“ 

„fo ganz der Alte,“ lachte Crampas. „So war er damals 
auch ſchon, als wir in Liancourt und dann ſpaͤter in Beauvais 
mit ihm in Quartier lagen. Er wohnte da in einem alten 
biſchoͤf lichen Palaſt — beilaͤufig, was Sie vielleicht intereſſieren 
wird, war es ein Biſchof von Beauvais, gluͤcklicherweiſe, Cochon 
mit Namen, der die Jungfrau von Orleans zum Feuertod 


verurteilte — und da verging denn kein Tag, das heißt keine 


Nacht, wo Innſtetten nicht Unglaubliches erlebt hatte. Freilich 
immer nur ſo halb. Es konnte auch nichts ſein. Und nach dieſem 
Prinzip arbeitet er noch, wie ich ſehe.“ 

„Gut, gut. Und nun ein ernſtes Wort, Crampas, auf das 
ich mir eine ernſte Antwort erbitte: wie erklaͤren Sie ſich dies 
alles?“ 

„Ja, meine gnaͤdigſte Frau ...“ 

„Keine Ausweichungen, Major. Dies alles iſt ſehr wichtig 
fuͤr mich. Er iſt Ihr Freund, und ich bin Ihre Freundin. 
Ich will wiſſen, wie haͤngt dies zuſammen? Was denkt er 
ſich dabei?“ 

„Ja, meine gnaͤdigſte Frau, Gott ſieht ins Herz, aber ein 
Major vom Landwehrbezirkskommandso, der ſieht in gar nichts. 
Wie ſoll ich ſolche pſychologiſchen Raͤtſel loͤſen? Ich bin ein ein⸗ 
facher Mann.“ 

„Ach, Crampas, reden Sie nicht ſo toͤricht. Ich bin zu 
jung, um eine große Menſchenkennerin zu ſein; aber ich muͤßte 
noch vor der Einſegnung und beinah vor der Taufe ſtehen, 
um Sie fuͤr einen einfachen Mann zu halten. Sie ſind das 
Gegenteil davon, Sie find gefaͤhrlich ...“ 


268 


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Das Schmeichelhafteſte, was einem guten Vierziger mit 

eeinem a. O. auf der Karte geſagt werden kann. Und nun alſo, 

woas ſich Innſtetten dabei denkt...“ 

. Effi nickte. 

i „Ja, wenn ich durchaus ſprechen ſoll, er denkt ſich dabei, 
daß ein Mann wie Landrat Baron Innſtetten, der jeden Tag 

Miniſterialdirektor oder dergleichen werden kann (denn glauben 

| Sie mir, er ift hoch hinaus), daß ein Mann wie Baron Inn⸗ 
ſtetten nicht in einem gewöhnlichen Haufe wohnen kann, nicht 
in einer ſolchen Kate wie die landraͤtliche Wohnung, ich bitte 
um Vergebung, gnaͤdigſte Frau, doch eigentlich iſt. Da hilft 
er denn nach. Ein Spukhaus iſt nie was Gewoͤhnliches 
Das iſt das eine.“ 

„Das eine? mein Gott, haben Sie noch etwas?“ 

„Ja.“ 

„Nun denn, ich bin ganz Ohr. Aber wenn es ſein kann, 
laſſen Sie's was Gutes ſein.“ 

„Deſſen bin ich nicht ganz ſicher. Es iſt etwas Heikles, 
beinah Gewagtes, und ganz beſonders vor Ihren Ohren, 

gnaͤdigſte Frau.“ 

„Das macht mich nur um ſo neugieriger.“ 

„Gut denn. Alſo Innſtetten, meine gnaͤdigſte Frau, hat 
außer ſeinem brennenden Verlangen, es koſte, was es wolle, 
ja, wenn es ſein muß unter Heranziehung eines Spuks, ſeine 
Karriere zu machen, noch eine zweite Paſſion: er operiert naͤm⸗ 
lich immer erzieheriſch, iſt der geborene Paͤdagog, und haͤtte, 
links Baſedow und rechts Peſtaloßzzi (aber doch kirchlicher als 
beide) eigentlich nach Schnepfenthal oder Bunzlau hingepaßt.“ 

„Und will er mich auch erziehen? Erziehen durch Spuk?“ 

„Erziehen iſt vielleicht nicht das richtige Wort. Aber doch 
erziehen auf einem Umweg.“ 

„Ich verſtehe Sie nicht.“ 

„Eine junge Frau iſt eine junge Frau, und ein Landrat 


269 


ift ein Landrat. Er kutſchiert oft im Kreiſe umher, und dann 
iſt das Haus allein und unbewohnt. Aber ſolch Spuk iſt wie 
ein Cherub mit dem Schwert...“ 

„Ah, da ſind wir wieder aus dem Walde heraus,“ ſagte 
Effi. „Und da iſt Utpatels Mühle, Wir muͤſſen nur noch an 
dem Kirchhof voruͤber.“ 

Gleich danach paſſierten fie den Hohlweg zwiſchen dem 
Kirchhof und der eingegitterten Stelle, und Effi ſah nach dem 
Stein und der Tanne hinuͤber, wo der Chineſe lag. 


Siebzehntes Kapitel 


Es ſchlug zwei Uhr, als man zuruͤck war. Crampas ver⸗ 
abſchiedete ſich und ritt in die Stadt hinein, bis er vor ſeiner 
am Marktplatz gelegenen Wohnung hielt. Effi ihrerſeits kleidete 
ſich um und verſuchte zu ſchlafen; es wollte aber nicht gluͤcken, 
denn ihre Verſtimmung war noch groͤßer als ihre Muͤdigkeit. 
Daß Innſtetten ſich ſeinen Spuk parat hielt, um ein nicht ganz 
gewoͤhnliches Haus zu bewohnen, das mochte hingehen, das 
ſtimmte zu ſeinem Hange, ſich von der großen Menge zu unter⸗ 


ſcheiden; aber das andere, daß er den Spuk als al 


mittel brauchte, das war doch arg und beinahe beleidigend 
Und „Erziehungsmittel“, darüber war fie ſich klar, ſagte nur 
die kleinere Haͤlfte; was Crampas gemeint hatte, war viel, 
viel mehr, war eine Art Angſtapparat aus Kalkuͤl. Es fehlte 
jede Herzensguͤte darin und grenzte ſchon faſt an Grauſamkeit. 
Das Blut ſtieg ihr zu Kopf, und ſie ballte ihre kleine Hand und 
wollte Plaͤne ſchmieden; aber mit einem Male mußte ſie wieder 
lachen. „Ich Kindskopf! Wer huͤrgt mir denn dafür, daß 
Crampas recht hat! Crampas iſt unterhaltlich, weil er mediſant 
iſt, aber er iſt unzuverlaͤſſig und ein bloßer Haſelant, der ſchließ⸗ 
lich Innſtetten nicht das Waſſer reicht.“ 


270 


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In dieſem Augenblick fuhr Innſtetten vor, der heute früher 
zuruͤckkam als gewoͤhnlich. Effi ſprang auf, um ihn ſchon im 
Flur zu begruͤßen, und war um ſo zaͤrtlicher, je mehr ſie das 
Gefuͤhl hatte, etwas gut machen zu muͤſſen. Aber ganz konnte 
ſie das, was Crampas geſagt hatte, doch nicht verwinden, 
und inmitten ihrer Zaͤrtlichkeiten, und waͤhrend ſie mit an⸗ 
ſcheinendem Intereſſe zuhoͤrte, klang es in ihr immer wieder: 
„Alſo Spuk aus Berechnung, Spuk, um dich in Ordnung zu 
halten.“ 

Zuletzt indeſſen vergaß ſie's und ließ ſich unbefangen von 
ihm erzaͤhlen. P Do 


Inzwiſchen war Mitte November herangekommen, und 
der bis zum Sturm ſich ſteigernde Nordweſter ſtand andert⸗ 
halb Tag lang ſo hart auf die Molen, daß die mehr und mehr 
zuruͤckgeſtaute Keſſine das Bollwerk uͤberſtieg und in die Straßen 
trat. Aber nachdem ſich's ausgetobt, legte ſich das Unwetter, 
und es kamen noch ein paar ſonnige Spaͤtherbſttage. „Wer 
weiß, wie lange ſie dauern,“ ſagte Effi zu Crampas, und ſo 
beſchloß man, am naͤchſten Vormittage noch einmal auszu⸗ 
reiten; auch Innſtetten, der einen freien Tag hatte, wollte mit. 
Es ſollte zunaͤchſt wieder bis an die Mole gehen; da wollte 
man dann abſteigen, ein wenig am Strande promenieren und 
ſchließlich im Schutze der Dünen, wo's windſtill war, ein Fruͤh⸗ 
ſtuͤck nehmen. 

Um die feſtgeſetzte Stunde ritt Crampas vor dem land⸗ 
raͤtlichen Haufe vor; Kruſe hielt ſchon das Pferd der gnaͤdigen 
Frau, die ſich raſch in den Sattel hob und noch im Aufſteigen 
Innſtetten entſchuldigte, der nun doch verhindert ſei: letzte 
Nacht wieder großes Feuer in Morgenitz — das dritte ſeit drei 
Wochen, alſo angelegt —, da habe er hingemußt, ſehr zu ſeinem 
Leidweſen, denn er habe ſich auf dieſen Ausritt, der wohl der 
letzte in dieſem Herbſte ſein werde, wirklich gefreut. 


271 


Crampas ſprach fein Bedauern aus, vielleicht nur um was 
zu ſagen, vielleicht aber auch aufrichtig, denn ſo ruͤckſichtslos 
er im Punkte chevaleresker Liebesabenteuer war, ſo ſehr war 
er auch wieder guter Kamerad. Naturlich, alles ganz ober⸗ 
flaͤchlich. Einem Freunde helfen und fuͤnf Minuten ſpaͤter ihn 
betruͤgen, waren Dinge, die ſich mit ſeinem Ehrbegriffe ſehr 
wohl vertrugen. Er tat das eine und das andere mit unglaub⸗ 
licher Bonhomie. 

Der Ritt ging wie gewoͤhnlich durch die Plantage hin. 
Rollo war wieder vorauf, dann kamen Crampas und Effi, 
dann Kruſe. Knut fehlte. 

„Wo haben Sie Knut gelaſſen?“ 

„Er hat einen Ziegenpeter.“ 

„Merkwuͤrdig,“ lachte Effi. „Eigentlich ſah er ſchon immer 
ſo aus.“ 

„Sehr richtig. Aber Sie ſollten ihn jetzt ſehen! Oder doch 
lieber nicht. Denn Ziegenpeter iſt anſteckend, ſchon bloß durch 
Anblick.“ 

„Glaub ich nicht.“ 

„Junge Frauen glauben vieles nicht.“ 

„Und dann glauben ſie wieder vieles, was ſie beſſer nicht 
glaubten.“ 

„An meine Adreſſe?“ 

„Nein.“ 

„Schade.“ 

„Wie dies , ſchade' Sie kleidet. Ich glaube wirklich, Major, 
Sie hielten es fuͤr ganz in der Ordnung, wenn ich Ihnen eine 
Liebeserklaͤrung machte.“ 

„So weit will ich nicht gehen. Aber ich moͤchte den ſehen, 
der ſich dergleichen nicht wuͤnſchte. Gedanken und Wuͤnſche ſind 
zollfrei.“ { 

„Das fragt ſich. Und dann iſt doch immer noch ein Unter: 
ſchied zwiſchen Gedanken und Wuͤnſchen. Gedanken ſind in 


272 


der Regel etwas, das noch im Hintergrunde liegt, Wuͤnſche 
aber liegen meiſt ſchon auf der Lippe.“ 

„Nur nicht gerade dieſen Vergleich.“ 

„Ach, Crampas, Sie find... Sie find...” 

„Ein Narr.“ 

„Nein. Auch darin uͤbertreiben Sie wieder. Aber Sie ſind 
etwas anderes. In Hohen⸗Cremmen ſagten wir immer, und 
ich mit, das Eitelſte, was es gaͤbe, das ſei ein Huſarenfaͤhnrich 
von achtzehn...“ 

„Und jetzt?“ 

„Und jetzt ſag ich, das Eitelſte, was es gibt, iſt ein Landwehr⸗ 
bezirksmajor von zweiundvierzig.“ 

„ . . Wobei die zwei Jahre, die Sie mir gnaͤdigſt erlaſſen, 
alles wieder gut machen, — kuͤſſ' die Hand.“ 

„Ja, kuͤſſ' die Hand. Das iſt fo recht das Wort, das für Sie 
paßt. Das iſt wieneriſch. Und die Wiener, die hab ich kennen 
gelernt in Karlsbad, vor vier Jahren, wo ſie mir vierzehnjaͤh⸗ 


rigem Dinge den Hof machten. Was ich da alles gehört habe!“ 


„Gewiß nicht mehr als recht war.“ 

„Wenn das zutraͤfe, waͤre das, was mir ſchmeicheln ſoll, 
ziemlich ungezogen ... Aber ſehen Sie da die Bojen, wie die 
ſchwimmen und tanzen. Die kleinen roten Fahnen ſind ein⸗ 
gezogen. Immer, wenn ich dieſen Sommer, die paar Mal wo 
ich mich bis an den Strand hinauswagte, die roten Fahnen 
ſah, ſagt ich mir: ii 2 Vineta, da muß es liegen, das ſind 
die Turmſpitzen ... 

„Das macht, weil Sie das N Gedicht kennen.“ 

„Welches?“ 

„Nun, das von Vineta.“ 

„Nein, das kenne ich nicht; ich kenne überhaupt nur wenig. 
Leider.“ 

„Und haben doch Gieshuͤbler und den Journalzirkel! 
übrigens hat Heine dem Gedicht einen anderen Namen ge⸗ 


IV 18 273 


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geben, ich glaube ‚Seegefpenft‘ oder fo ahnlich. Aber Vineta 
hat er gemeint. Und er ſelber — verzeihen Sie, wenn ich Ihnen 
ſo ohne weiteres den Inhalt hier wiedergebe — der Oichter alſo, 
waͤhrend er die Stelle paſſiert, liegt auf einem Schiffsdeck 
und ſieht hinunter und ſieht da ſchmale, mittelalterliche Straßen 
und trippelnde Frauen in Kapotthuͤten, und alle haben ein 
Geſangbuch in Haͤnden und wollen zur Kirche, und alle Glocken 
laͤuten. Und als er das hoͤrt, da faßt ihn eine Sehnſucht, 
auch mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der Kapott⸗ 
huͤte willen, und vor Verlangen ſchreit er auf und will ſich 
hinunterſtuͤrzen. Aber im ſelben Augenblicke packt ihn der 
Kapitaͤn am Bein und ruft ihm zu: „Doktor, ſind Sie des 
Teufels?“ 

„Das iſt ja allerliebſt. Das moͤcht ich leſen. Iſt es lang?“ 

„Nein, es iſt eigentlich kurz, etwas laͤnger als „Du haſt 
Diamanten und Perlen oder ‚Deine weichen Lilienfinger ...“ 
und er beruͤhrte leiſe ihre Hand. „Aber lang oder kurz, welche 
Schilderungskraft, welche Anſchaulichkeit! Er iſt mein Lieb⸗ 
lingsdichter, und ich kann ihn auswendig, ſowenig ich mir 


ſonſt, trotz gelegentlich eigener Verſuͤndigungen, aus der Dich⸗ 


terei mache. Bei Heine liegt es aber anders: alles iſt Leben, 
und vor allem verſteht er ſich auf die Liebe, die doch die Haupt⸗ 
ſache bleibt. Er iſt uͤbrigens nicht einſeitig darin ...“ 

„Wie meinen Sie das?“ 

„Ich meine, er iſt nicht bloß für die Liebe..“ 

„Nun, wenn er dieſe Einſeitigkeit auch haͤtte, das waͤre 
am Ende noch nicht das ſchlimmſte. Wofuͤr iſt er denn ſonſt 
noch?“ 

„Er iſt auch ſehr fuͤr das Romantiſche, was freilich gleich 
nach der Liebe kommt und nach Meinung einiger ſogar damit 
zuſammenfaͤllt. Was ich aber nicht glaube. Denn in ſeinen 
ſpaͤteren Gedichten, die man denn auch die ‚romantifchen‘ 
genannt hat, oder eigentlich hat er es ſelber getan, in dieſen 


274 


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romantiſchen Dichtungen wird in einem fort hingerichtet, 
allerdings vielfach aus Liebe. Aber doch meiſt aus anderen 
groͤberen Motiven, wohin ich in erſter Reihe die Politik, die 
faſt immer groͤblich iſt, rechne. Karl Stuart zum Beiſpiel traͤgt 
in einer dieſer Romanzen ſeinen Kopf unterm Arm, und noch 
fataler iſt die Geſchichte vom Vitzliputzli ...“ 

„Von wem?“ 

„Vom Vitzliputzli. Vitzliputzli iſt naͤmlich ein mexikaniſcher 
Gott, und als die Mexikaner zwanzig oder dreißig Spanier 
gefangen genommen hatten, mußten dieſe zwanzig oder 
dreißig dem Vitzliputzli geopfert werden. Das war da nicht 
anders, Landesſitte, Kultus, und ging auch alles im Hand⸗ 
umdrehen, Bauch auf, Herz raus..“ | 

„Nein, Crampas, ſo dürfen Sie nicht weiter ſprechen. Das 
iſt indezent und degoutant zugleich. Und das alles fo ziemlich 
in demſelben Augenblicke, wo wir fruͤhſtuͤcken wollen.“ 6 

„Ich fuͤr meine Perſon ſehe mich dadurch unbeeinflußt 
und ſtelle meinen Appetit uͤberhaupt nur in Abhaͤngigkeit 
vom Menu.“ 

Waͤhrend dieſer Worte waren ſie, ganz wie's das Pro⸗ 
gramm wollte, vom Strand her bis an eine ſchon halb im 
Schutze der Duͤnen aufgeſchlagene Bank, mit einem aͤußerſt 
primitiven Tiſch davor, gekommen, zwei Pfoſten mit einem 
Brett daruͤber. Kruſe, der voraufgeritten, hatte hier bereits 
ſerviert; Teebroͤtchen und Aufſchnitt von kaltem Braten, 
dazu Rotwein und neben der Flaſche zwei huͤbſche, zierliche Trink⸗ 
glaͤſer, klein und mit Goldrand, wie man ſie in Badeoͤrtern 
kauft oder von Glashuͤtten als Erinnerung mitbringt. 

Und nun ſtieg man ab. Kruſe, der die Zuͤgel ſeines eigenen 
Pferdes um eine Kruͤppelkiefer geſchlungen hatte, ging mit den 
beiden anderen Pferden auf und ab, waͤhrend ſich Crampas und 
Effi, die durch eine ſchmale Duͤnenoͤffnung einen freien Blick auf 
Strand und Mole hatten, vor dem gedeckten Tiſche niederließen. 


18˙ 275 


Über das von den Sturmtagen her noch bewegte Meer 
goß die ſchon halb winterliche Novemberſonne ihr fahles Licht 
aus, und die Brandung ging hoch. Dann und wann kam ein 
Windzug und trieb den Schaum bis dicht an ſie heran. Strand⸗ 
hafer ſtand umher, und das helle Gelb der Immortellen hob 
ſich, trotz der Farbenverwandtſchaft, von dem gelben Sande, 
darauf ſie wuchſen, ſcharf ab. Effi machte die Wirtin. „Es 
tut mir leid, Major, Ihnen dieſe Broͤtchen in einem Korb⸗ 
deckel praͤſentieren zu muͤſſen ...“ 


„Ein Korbdeckel iſt kein Korb...“ 
„. . . Indeſſen Kruſe hat es fo gewollt. Und da biſt du ja ; 
auch, Rollo. Auf dich iſt unſer Vorrat aber nicht eingerichtet. N 


Was machen wir mit Rollo?“ 

„Ich denke, wir geben ihm alles; ich meinerſeits ſchon aus 
Dankbarkeit. Denn ſehen Sie, teuerſte Effi...“ | 

Effi ſah ihn an. 5 

„. . . Denn ſehen Sie, gnaͤdigſte Frau, Rollo erinnert mich 15 
wieder an das, was ich Ihnen noch als Fortſetzung oder Seiten⸗ 
ſtuͤck zum Vitzliputzli erzählen wollte, — nur viel pikanter, weil 
Liebesgeſchichte. Haben Sie mal von einem gewiſſen Pedro 1 
dem Grauſamen gehoͤrt?“ 

„So dunkel.“ 

„Eine Art Blaubartskoͤnig.“ 

„Das iſt gut. Von ſo einem hoͤrt man immer am liebſten, 
und ich weiß noch, daß wir von meiner Freundin Hulda Nie⸗ 
meyer, deren Namen Sie ja kennen, immer behaupteten: 
ſie wiſſe nichts von Geſchichte, mit Ausnahme der ſechs Frauen 
von Heinrich dem Achten, dieſem engliſchen Blaubart, wenn 
das Wort fuͤr ihn reicht. Und wirklich, dieſe ſechs kannte ſie 
auswendig. Und dabei haͤtten Sie hören follen, wie fie die 
Namen ausſprach, namentlich den von der Mutter der Eliſa⸗ 
beth, —ſo ſchrecklich verlegen, als wäre fie nun an der Reihe 
Aber nun bitte, die Geſchichte von Don Pedro...“ 


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276 


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„Nun alſo, an Don Pedros Hofe war ein ſchoͤner, ſchwarzer 
ſpaniſcher Ritter, der das Kreuz von Kalatrava — was ungefaͤhr 
ſo viel bedeutet wie ſchwarzer Adler und pour le mérite zu⸗ 

ſammengenommen — auf feiner Bruſt trug. Dies Kreuz ger 
hoͤrte mit dazu, das mußten ſie immer tragen, und dieſer Kala⸗ 
trava⸗Ritter, den die Königin natürlich heimlich liebte ...“ 

„Warum naluͤrlich?“ 

„Weil wir in Spanien ſind.“ 

„Ach ſo.“ 

„Und dieſer Kalatrava⸗Ritter, ſag ich, hatte einen wunder⸗ 
ſchoͤnen Hund, einen Neufundländer, wiewohl es die noch gar 
nicht gab, denn es war grade hundert Jahre vor der Ent⸗ 
deckung von Amerika. Einen wunderſchoͤnen Hund alſo, ſagen 
wir wie Rollo...“ 

Rollo ſchlug an, als er ſeinen Namen hoͤrte und wedelte mit 
dem Schweif. 

Das ging ſo manchen Tag. Aber das mit der heimlichen 
Liebe, die wohl nicht ganz heimlich blieb, das wurde dem Koͤnige 
doch zu viel, und weil er den ſchoͤnen Kalatrava⸗Ritter uͤber⸗ 
haupt nicht recht leiden mochte, — denn er war nicht bloß 
grauſam, er war auch ein Neidhammel, oder wenn das Wort 
fuͤr einen Koͤnig und noch mehr fuͤr meine liebenswuͤrdige Zu⸗ 
hoͤrerin, Frau Effi, nicht recht paſſen ſollte, wenigſtens ein 
Neidling — fo beſchloß er, den Kalatrava⸗Ritter für die heim; 
liche Liebe heimlich hinrichten zu laſſen.“ 

„Kann ich ihm nicht verdenken.“ 

„Ich weiß doch nicht, meine Gnaͤdigſte. Hoͤren Sie nur 
weiter. Etwas geht ſchon, aber es war zu viel; der Koͤnig, find 
ich, ging um ein Erkleckliches zu weit. Er heuchelte naͤmlich, 
daß er dem Ritter wegen ſeiner Kriegs⸗ und Heldentaten ein 
Feſt veranſtalten wolle, und da gab es denn eine lange, lange Tafel, 
und alle Granden des Reichs ſaßen an dieſer Tafel, und in 
der Mitte ſaß der Koͤnig, und ihm gegenuͤber war der Platz 


277 


für den, dem dies alles galt, alſo für den Kalatrava⸗Ritter, 
fuͤr den an dieſem Tage zu Feiernden. Und weil der, trotzdem 
man ſchon eine ganze Weile ſeiner gewartet hatte, noch immer 
nicht kommen wollte, ſo mußte ſchließlich die Feſtlichkeit ohne 
ihn begonnen werden, und es blieb ein leerer Platz — ein 
leerer Platz gerade gegenuͤber dem Koͤnig.“ 

„Und nun?“ 

„Und nun denken Sie, meine gnaͤdigſte Frau, wie der Koͤnig, 
dieſer Pedro, ſich eben erheben will, um gleisneriſch ſein Be⸗ 
dauern auszuſprechen, daß fein ‚lieber Gaft‘ noch immer fehle, 
da hoͤrt man auf der Treppe draußen einen Aufſchrei der ent⸗ 
ſetzten Dienerſchaften, und ehe noch irgendwer weiß, was ge⸗ 
ſchehen iſt, jagt etwas an der langen Feſtestafel entlang, und 
nun ſpringt es auf den Stuhl und ſetzt ein abgeſchlagenes Haupt 
auf den leergebliebenen Platz, und uͤber eben dieſes Haupt 
hinweg ſtarrt Rollo auf ſein Gegenuͤber, den Koͤnig. Rollo 
hatte ſeinen Herrn auf ſeinem letzten Gang begleitet und im 
ſelben Augenblicke, wo das Beil fiel, hatte das treue Tier das 
fallende Haupt gepackt, und da war er nun, unſer Freund 
Rollo, an der langen Feſtestafel und verklagte den koͤniglichen 
Moͤrder.“ 

Effi war ganz ſtill geworden. Endlich ſagte ſie: „Crampas, 
das iſt in ſeiner Art ſehr ſchoͤn, und weil es ſehr ſchoͤn iſt, will 
ich es Ihnen verzeihen. Aber Sie koͤnnten doch Beſſres und 
zugleich mir Lieberes tun, wenn Sie mir andere Geſchichten 
erzaͤhlten. Auch von Heine. Heine wird doch nicht bloß von 
Vitzliputzli und Don Pedro und Ihrem Rollo — denn meiner 
haͤtte ſo was nicht getan — gedichtet haben. Komm, Rollo! 
Armes Tier, ich kann dich gar nicht mehr anſehen, ohne an den 
Kalatrava⸗Ritter zu denken, den die Koͤnigin heimlich liebte 
Rufen Sie, bitte, Kruſe, daß er die Sachen hier wieder in die 
Halfter ſteckt, und wenn wir zuruͤckreiten, muͤſſen Sie mir 
was anderes erzaͤhlen, ganz was anderes.“ 


278 


Kruſe kam. Als er aber die Glaͤſer nehmen wollte, fagte 
Crampas: „Kruſe, das eine Glas, das da, das laſſen Sie 
ſtehen. Das werde ich ſelber nehmen.“ 

„Zu Befehl, Herr Major.“ 

Effi, die dies mit angehört hatte, ſchuͤttelte den Kopf. 
Dann lachte ſie. „Crampas, was faͤllt Ihnen nur eigent⸗ 
lich ein? Kruſe iſt dumm genug, uͤber die Sache nicht weiter 
nachzudenken, und wenn er daruͤber nachdenkt, ſo findet er 
gluͤcklicherweiſe nichts. Aber das berechtigt Sie doch nicht, 
dies Glas ... dies Dreißigpfennigglas aus der Joſefinen⸗ 
huͤtte .“ 

„Daß Sie ſo ſpoͤttiſch den Preis nennen, laͤßt mich ſeinen 
Wert um ſo tiefer empfinden.“ 

„Immer derſelbe. Sie haben ſo viel von einem Humoriſten, 
aber doch von ganz ſonderbarer Art. Wenn ich Sie recht ver⸗ 
ſtehe, ſo haben Sie vor — es iſt zum Lachen, und ich geniere 
mich faſt, es auszuſprechen — fo haben Sie vor, fi) vor der 
Zeit auf den König von Thule hin auszuſpielen.“ 

Er nickte mit einem Anfluge von Schelmerei. 

„Nun denn, meinetwegen. Jeder traͤgt ſeine Kappe; Sie 
wiſſen, welche. Nur das muß ich Ihnen doch ſagen duͤrfen, 
die Rolle, die Sie mir dabei zudiktieren, iſt mir zu wenig 
ſchmeichelhaft. Ich mag nicht als Reimwort auf Ihren Koͤnig 
von Thule herumlaufen. Behalten Sie das Glas, aber bitte, 
ziehen Sie nicht Schluͤſſe daraus, die mich kompromittieren. 
Ich werde Innſtetten davon erzählen.” i 

„Das werden Sie nicht tun, meine gnaͤdigſte Frau.“ 

„Warum nicht?“ 

„Innſtetten iſt nicht der Mann, ſolche Dinge ſo zu ſehen, 
wie ſie geſehen ſein wollen.“ 

Sie ſah ihn einen Augenblick ſcharf an. Dann aber ſchlug 
ſie verwirrt und faſt verlegen die Augen nieder. 


279 


Achtzehntes Kapitel 


Effi war unzufrieden mit ſich und freute ſich, daß es nun⸗ 
mehr feſtſtand, dieſe gemeinſchaftlichen Ausflüge für die 
ganze Winterdauer auf ſich beruhen zu laſſen. Überlegte ſie, 
was waͤhrend all dieſer Wochen und Tage geſprochen, beruͤhrt 
und angedeutet war, ſo fand ſie nichts, um deſſentwillen ſie ſich 
direkte Vorwuͤrfe zu machen gehabt haͤtte. Crampas war ein 
kluger Mann, welterfahren, humoriſtiſch, frei, frei auch im 
guten, und es waͤre kleinlich und kuͤmmerlich geweſen, wenn 
ſie ſich ihm gegenuͤber aufgeſteift und jeden Augenblick die 
Regeln ſtrengen Anſtandes befolgt haͤtte. Nein, ſie konnte ſich 
nicht tadeln, auf ſeinen Ton eingegangen zu ſein, und doch 
hatte ſie ganz leiſe das Gefuͤhl einer uͤberſtandenen Gefahr 
und begluͤckwuͤnſchte ſich, daß das alles nun mutmaßlich hinter 
ihr laͤge. Denn an ein haͤufigeres Sichſehen en famille war 2 
nicht wohl zu denken, das war durch die Crampasſchen Haus⸗ 
zuſtaͤnde ſo gut wie ausgeſchloſſen, und Begegnungen bei den 
benachbarten adligen Familien, die freilich fuͤr den Winter in 
Sicht ſtanden, konnten immer nur ſehr vereinzelt und ſehr fluͤchtige 
ſein. Effi rechnete ſich dies alles mit wachſender Befriedigung 
heraus und fand ſchließlich, daß ihr der Verzicht auf das, 
was ſie dem Verkehr mit dem Major verdankte, nicht allzu 
ſchwer ankommen wuͤrde. Dazu kam noch, daß Innſtetten ihr 
mitteilte, ſeine Fahrten nach Varzin wuͤrden in dieſem Jahre 
fortfallen: der Fuͤrſt gehe nach Friedrichsruh, das ihm immer 
lieber zu werden ſcheine; nach der einen Seite hin bedauere 
er das, nach der anderen ſei es ihm lieb — er koͤnne ſich nun 
ganz ſeinem Hauſe widmen, und wenn es ihr recht waͤre, ſo 
wollten ſie die italieniſche Reiſe, an der Hand ſeiner Auf⸗ 
zeichnungen, noch einmal durchmachen. Eine ſolche Rekapitu⸗ 
lation ſei eigentlich die Hauptſache, dadurch mache man ſich 1 
alles erſt dauernd zu eigen, und ſelbſt Dinge, die man nur { 


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flüchtig geſehen und von denen man kaum wiſſe, daß man fie 
in ſeiner Seele beherberge, kaͤmen einem durch ſolche nachtraͤg⸗ 
lichen Studien erſt voll zu Bewußtſein und Beſitz. Er führte 
das noch weiter aus und fügte hinzu, daß ihn Gieshuͤbler, 
der den ganzen „italieniſchen Stiefel“ bis Palermo kenne, 
gebeten habe, mit dabei ſein zu duͤrfen. Effi, der ein ganz ge⸗ 
0 woͤhnlicher Plauderabend ohne den „italieniſchen Stiefel“ 
8 (es ſollten ſogar Photographien herumgereicht werden) viel, 
4 viel lieber geweſen waͤre, antwortete mit einer gewiſſen Ger 
= zwungenheit; Innſtetten indeffen, ganz erfüllt von feinem Plane, 
merkte nichts und fuhr fort: „Natuͤrlich iſt nicht bloß Gies⸗ 
huͤbler zugegen, auch Roswitha und Annie muͤſſen dabei ſein, 
g und wenn ich mir dann denke, daß wir den Canal grande hinauf⸗ 
fahren und hoͤren dabei ganz in der Ferne die Gondoliere 
ſingen, während drei Schritte von uns Roswitha ſich über 
Annie beugt und „Buhkuͤken von Halberſtadt' oder fo was 
Auhnliches zum beſten gibt, ſo können das ſchoͤne Winterabende 
werden, und du ſitzeſt dabei und ſtrickſt mir eine große Winter⸗ 
kappe. Was meinſt du dazu, Effi?“ 
Solche Abende wurden nicht bloß geplant, ſie nahmen 
auch ihren Anfang, und ſie wuͤrden ſich, aller Wahrſcheinlich⸗ 
keit nach, über viele Wochen hin ausgedehnt haben, wenn 
nnicht der unſchuldige, harmloſe Gieshuͤbler trotz größter 
Abgeneigtheit gegen zweideutiges Handeln, dennoch im 
Dienſte zweier Herren geſtanden haͤtte. Der eine, dem er 
diente, war Innſtetten, der andere war Crampas, und wenn 
Reer der Innſtettenſchen Aufforderung zu den italieniſchen 
Abenden, ſchon um Effis willen, auch mit aufrichtigſter 
Freude Folge leiſtete, ſo war die Freude, mit der er Crampas 
gehorchte, doch noch eine groͤßere. Nach einem Crampasſchen 
Plane naͤmlich ſollte noch vor Weihnachten „Ein Schritt 
vom Wege“ aufgefuͤhrt werden, und als man vor dem dritten 
titalieniſchen Abend ſtand, nahm Gieshuͤbler die Gelegenheit 


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wahr, mit Effi, die die Rolle der Ella fpielen ſollte, darüber 
zu ſprechen. 

Effi war wie elektriſtert; was wollten Padua, Vicenza 
daneben bedeuten! Effi war nicht fuͤr Aufgewaͤrmtheiten; 
Friſches war es, wonach ſie ſich ſehnte, Wechſel der Dinge. 
Aber als ob eine Stimme ihr zugerufen haͤtte: „Sieh dich vor!“ 
ſo fragte ſie doch, inmitten ihrer freudigen Erregung: „Iſt es 
der Major, der den Plan aufgebracht hat?“ 

„Ja. Sie wiſſen, gnaͤdigſte Frau, daß er einſtimmig in das 
Vergnuͤgungskomitee gewaͤhlt wurde. Wir duͤrfen uns endlich 
einen huͤbſchen Winter in der Reſſource verſprechen. Er iſt ja 
wie geſchaffen dazu.“ 

„Und wird er auch mitſpielen?“ 

„Nein, das hat er abgelehnt. Ich muß ſagen, leider. Denn 
er kann ja alles und wuͤrde den Arthur von Schmettwitz ganz 
vorzuͤglich geben. Er hat nur die Regie uͤbernommen.“ 

„Deſto ſchlimmer.“ 

„Deſto ſchlimmer?“ wiederholte Gieshuͤbler. 

„O, Sie duͤrfen das nicht ſo feierlich nehmen; das iſt nur 
ſo eine Redensart, die eigentlich das Gegenteil bedeutet. Auf 
der anderen Seite freilich, der Major hat ſo was Gewaltſames, 
er nimmt einem die Dinge gern uͤber den Kopf fort. Und man 
muß dann ſpielen, wie er will, und nicht wie man ſelber will.“ 

Sie ſprach noch weiter und verwickelte ſich immer mehr in 
Widerſpruͤche. 


Der „Schritt vom Wege“ kam wirklich zuſtande, und gerade 
weil man nur noch gute vierzehn Tage hatte (die letzte Woche vor 
Weihnachten war ausgeſchloſſen), ſo ſtrengte ſich alles an, und 
es ging vorzuͤglich; die Mitſpielenden, vor allem Effi, ernteten 
reichen Beifall. Crampas hatte ſich wirklich mit der Regie 
begnuͤgt, und fo ſtreng er gegen alle anderen war, fo wenig 
hatte er auf den Proben in Effis Spiel hineingeredet. Ent⸗ 


282 


weder waren ihm von feiten Gieshuͤblers Mitteilungen über 
das mit Effi gehabte Geſpraͤch gemacht worden, oder er hatte 
es auch aus ſich ſelber bemerkt, daß Effi befliſſen war, ſich von 
ihm zuruͤckzuziehen. Und er war klug und Frauenkenner genug, 
um den natuͤrlichen Entwicklungsgang, den er nach ſeinen Er⸗ 
fahrungen nur zu gut kannte, nicht zu ſtoͤren. 

Am Theaterabend in der Reſſource trennte man ſich ſpaͤt, 
und Mitternacht war voruͤber, als Innſtetten und Effi wieder 
zu Haufe bei ſich eintrafen. Johanna war noch auf, um behilf⸗ 
lich zu ſein, und Innſtetten, der auf ſeine junge Frau nicht wenig 
eitel war, erzaͤhlte Johanna, wie reizend die gnaͤdige Frau aus⸗ 
geſehen und wie gut ſie geſpielt habe. Schade, daß er nicht vor⸗ 
her daran gedacht, Kriſtel und ſie ſelber und auch die alte Unke, 
die Kruſe, haͤtten von der Muſikgalerie her ſehr gut zuſehen 
koͤnnen; es ſeien viele dageweſen. Dann ging Johanna, und 
Effi, die muͤde war, legte ſich nieder. Innſtetten aber, der noch 
plaudern wollte, ſchob einen Stuhl heran und ſetzte ſich an das 
Bett ſeiner Frau, dieſe freundlich anſehend und ihre Hand in der 
ſeinen haltend. 

„Ja, Effi, das war ein huͤbſcher Abend. Ich habe mich 
amuͤſiert über das huͤbſche Stuͤck. Und denke dir, der Dichter 
iſt ein Kammergerichtsrat, eigentlich kaum zu glauben. Und 
noch dazu aus Koͤnigsberg. Aber woruͤber ich mich am meiſten 
gefreut, das war doch meine entzuͤckende kleine Frau, die allen 
die Koͤpfe verdreht hat.“ 

„Ach, Geert, ſprich nicht ſo. Ich bin ſchon gerade eitel 
genug.“ 

„Eitel genug, das wird wohl richtig ſein. Aber doch lange 
nicht ſo eitel wie die anderen. Und das iſt zu deinen ſieben 
Schönheiten...“ | 

„Sieben Schönheiten haben alle.” 

„„. . . Ich habe mich auch bloß verſprochen; du kannſt die 
Zahl gut mit ſich ſelbſt multiplizieren.“ 


283 


„Wie galant du biſt, Geert. Wenn ich dich nicht kennte, 
koͤnnt ich mich fuͤrchten. Oder lauert wirklich was dahinter?“ 

„Haſt du ein ſchlechtes Gewiſſen? Selber hinter der Tür 
geſtanden?“ 

„Ach, Geert, ich aͤngſtige mich wirklich.“ Und ſie richtete 
ſich im Bett in die Hoͤh und ſah ihn ſtarr an. „Soll ich noch 
nach Johanna klingeln, daß ſie uns Tee bringt? Du haſt es 
ſo gern vor dem Schlafengehen.“ 

Er kuͤßte ihr die Hand. „Nein, Effi. Nach Mitternacht 
kann auch der Kaiſer keine Taſſe Tee mehr verlangen, und du weißt, 
ich mag die Leute nicht mehr in Anſpruch nehmen als noͤtig. 
Nein, ich will nichts, als dich anſehen und mich freuen, daß ich 
dich habe. So manchmal empfindet man's doch ſtaͤrker, welchen 
Schatz man hat. Du koͤnnteſt ja auch ſo ſein wie die arme Frau 


Crampas; das iſt eine ſchreckliche Frau, gegen keinen freundlich, 


und dich haͤtte ſie vom Erdboden vertilgen moͤgen.“ 

„Ach, ich bitte dich, Geert, das bildeſt du dir wieder ein. 
Die arme Frau! Mir iſt nichts aufgefallen.“ 

„Weil du für derlei keine Augen haſt. Aber es war fo 
wie ich dir ſage, und der arme Crampas war wie befangen 
dadurch und mied dich immer und ſah dich kaum an. Was 
doch ganz unnatuͤrlich iſt; denn erſtens iſt er uͤberhaupt ein 
Damenmann, und nun gar Damen wie du, das iſt ſeine be⸗ 
ſondere Paſſion. Und ich wette auch, daß es keiner beſſer weiß 
als meine kleine Frau ſelber. Wenn ich daran denke, wie, 
Pardon, das Geſchnatter hin und her ging, wenn er morgens 
in die Veranda kam oder wenn wir am Strande ritten oder auf 
der Mole ſpazierengingen. Es iſt, wie ich dir ſage, er traute 
ſich heute nicht, er fuͤrchtete ſich vor ſeiner Frau. Und ich kann 
es ihm nicht verdenken. Die Majorin iſt ſo etwas wie unſere 
Frau Kruſe, und wenn ich zwiſchen beiden waͤhlen muͤßte, ich 
wuͤßte nicht wen.“ 

„Ich wuͤßt es ſchon; es iſt doch ein Unterſchied zwiſchen den 


284 


N 


A ei 3 1 


beiden. Die arme Majorin iſt ungluͤcklich, die Kruſe iſt uns 
heimlich.” 

- „Und da biſt du doch mehr für das Ungluͤckliche?“ 
„Ganz entſchieden.“ 

„Nun hoͤre, das iſt Geſchmackſache. Man merkt, daß du 
noch nicht ungluͤcklich warſt. Übrigens hat Crampas ein Talent, 
die arme Frau zu eskamotieren. Er erfindet immer etwas, 
ſie zu Hauſe zu laſſen.“ 

„Aber heute war ſie doch da.“ 

„Ja, heute. Da ging es nicht anders. Aber ich habe mit 
ihm eine Partie zu Oberfoͤrſter Ring verabredet, er, Gies⸗ 
huͤbler und der Paſtor, auf den dritten Feiertag, und da haͤtteſt 
du ſehen ſollen, mit welcher Geſchicklichkeit er bewies, daß ſie, 
die Frau, zu Hauſe bleiben muͤſſe.“ 

„Sind es denn nur Herren?“ 

„O bewahre. Da wuͤrd ich mich auch bedanken. Du biſt 
mit dabei und noch zwei, drei andere Damen, die von den Guͤtern 
ungerechnet.“ 

„Aber dann iſt es doch auch häßlich von ihm, ich meine von 
Crampas, und fo was beſtraft ſich immer.“ 

„Ja, mal kommt es. Aber ich glaube, unſer Freund haͤlt 
zu denen, die ſich uͤber das, was kommt, keine grauen Haare 
wachſen laſſen.“ 

„Haͤltſt du ihn fuͤr ſchlecht?“ 

„Nein, fuͤr ſchlecht nicht. Beinah im Gegenteil, jedenfalls 
hat er gute Seiten. Aber er iſt ſo'n halber Pole, kein rechter 
Verlaß, eigentlich in nichts, am wenigſten mit Frauen. Eine 
Spielernatur. Er ſpielt nicht am Spieltiſch, aber er haſardiert im 
Leben in einem fort, und man muß ihm auf die Finger ſehen.“ 

„Es iſt mir doch lieb, daß du mir das ſagſt. 3 werde mich 
vorſehen mit ihm.“ 

f „Das tu. Aber nicht zu fie: dann hilft es nichts. Unbe⸗ 
fangenheit iſt immer das beſte, und natuͤrlich das allerbeſte iſt 


285 


Charakter und Feſtigkeit und, wenn ich ſolch ſteifleinenes Wort 
brauchen darf, eine reine Seele.“ 

Sie ſah ihn groß an. Dann ſagte ſie: „Ja, gewiß. Aber 
nun ſprich nicht mehr, und noch dazu lauter Dinge, die mich 
nicht recht froh machen koͤnnen. Weißt du, mir iſt, als hoͤrte 
ich oben das Tanzen. Sonderbar, daß es immer wieder kommt. 
Ich dachte, du haͤtteſt mit dem allen nur ſo geſpaßt.“ 

„Das will ich doch nicht ſagen, Effi. Aber ſo oder ſo, man 
muß nur in Ordnung ſein und ſich nicht zu fuͤrchten brauchen.“ 

Effi nickte und dachte mit einem Male wieder an die Worte, 
die ihr Crampas uͤber ihren Mann als „Erzieher“ geſagt hatte. 


Der heilige Abend kam und verging aͤhnlich wie das Jahr 
vorher; aus Hohen⸗-Cremmen kamen Geſchenke und Briefe; 
Gieshuͤbler war wieder mit einem Huldigungsvers zur Stelle, 


und Vetter Brieſt ſandte eine Karte: Schneelandſchaft mit 


Telegraphenſtangen, auf deren Draht geduckt ein Voͤgelchen 
ſaß. Auch fuͤr Annie war aufgebaut: ein Baum mit Lichtern, 
und das Kind griff mit ſeinen Haͤndchen danach. Innſtetten, 
unbefangen und heiter, ſchien ſich ſeines haͤuslichen Gluͤcks zu 
freuen und beſchaͤftigte ſich viel mit dem Kinde. Roswitha 
war erſtaunt, den gnaͤdigen Herrn ſo zaͤrtlich und zugleich ſo 
aufgeraͤumt zu ſehen. Auch Effi ſprach viel und lachte viel. 
es kam ihr aber nicht aus innerſter Seele. Sie fuͤhlte ſich be⸗ 
druͤckt und wußte nur nicht, wen ſie dafuͤr verantwortlich machen 
ſollte, Innſtetten oder ſich ſelber. Von Crampas war kein 
Weihnachtsgruß eingetroffen; eigentlich war es ihr lieb, aber 
auch wieder nicht, feine Huldigungen erfüllten fie mit einem 
gewiſſen Bangen, und ſeine Gleichguͤltigkeiten verſtimmten 
ſie; ſie ſah ein, es war nicht alles ſo, wie's ſein ſollte. 

„Du biſt ſo unruhig,“ ſagte Innſtetten nach einer Weile. 

„Ja. Alle Welt hat es ſo gut mit mir gemeint, am meiſten 


- 


duz das bedruckt mich, weil ich fühle, daß ich es nicht verdiene.“ 


286 


ie) Se u, 
ed 


„Damit darf man ſich nicht quälen, Effi. Zuletzt iſt es doch 
ſo: was man empfaͤngt, das hat man auch verdient.“ 

Effi hoͤrte ſcharf hin, und ihr ſchlechtes Gewiſſen ließ ſie ſich 

ſelber fragen, ob er das 9 in ſo zweideutiger Form 
geſagt habe. 

Spaͤt gegen Abend kam Paſtor Lindequiſt, um zu gratu⸗ 
lieren und noch wegen der Partie nach der Oberförfterei Uvagla 
hin anzufragen, die natürlich eine Schlittenpartie werden muͤſſe. 
Crampas habe ihm einen Platz in ſeinem Schlitten angeboten, 
aber weder der Major noch ſein Burſche, der wie alles, auch das 
Kutſchieren uͤbernehmen ſolle, kenne den Weg, und ſo wuͤrde 
es ſich vielleicht empfehlen, die Fahrt gemeinſchaftlich zu machen, 
wobei dann der landraͤtliche Schlitten die Tete zu nehmen und 
der Crampasſche zu folgen haͤtte. Wahrſcheinlich auch der 
Gieshuͤblerſche. Denn mit der Wegkenntnis Mirambos, dem 
ſich unerklaͤrlicherweiſe Freund Alonzo, der doch ſonſt fo vor; 
ſichtig, anvertrauen wolle, ſtehe es wahrſcheinlich noch 
ſchlechter als mit der des ſommerſproſſigen Treptower Ulanen. 
Innſtetten, den dieſe kleinen Verlegenheiten erheiterten, war 
mit Lindequiſts Vorſchlage durchaus einverſtanden und ordnete 
die Sache dahin, daß er puͤnktlich um zwei Uhr uͤber den Markt⸗ 
platz fahren und ohne alles Saͤumen die Fuͤhrung des Zuges 
in die Hand nehmen werde. 

Nach dieſem Übereinkommen wurde denn auch verfahren, 
und als Innſtetten punkt zwei Uhr den Marktplatz paſſierte, 
gruͤßte Crampas zunaͤchſt von ſeinem Schlitten aus zu Effi 
hinuͤber und ſchloß ſich dann dem Innſtettenſchen an. Der 
Paſtor ſaß neben ihm. Gieshuͤblers Schlitten, mit Gies huͤbler 
ſelbſt und Doktor Hannemann, folgte, jener in einem eleganten 
Buͤffelrock mit Marderbeſatz, dieſer in einem Baͤrenpelz, dem 

man anſah, daß er wenigſtens dreißig Dienſtjahre zaͤhlte. 
Hannemann war naͤmlich in ſeiner Jugend Schiffschirurgus 
auf einem Groͤnlandfahrer geweſen. Mirambo ſaß vorn, etwas 


287 


N 


aufgeregt wegen Unkenntnis im Kutſchieren, ganz wie Linde⸗ 
quiſt vermutet hatte. 

Schon nach zwei Minuten war man an Utpatels Muͤhle 
vorbei. 

Zwiſchen Keſſin und Uvagla (wo, der Sage nach, ein Wen⸗ 
dentempel geſtanden) lag ein nur etwa tauſend Schritt breiter, 
aber wohl anderthalb Meilen langer Waldſtreifen, der an feiner 
rechten Laͤngsſeite das Meer, an ſeiner linken, bis weit an den 
Horizont hin, ein großes, uͤberaus fruchtbares und gut ange⸗ 
bautes Stuͤck Land hatte. Hier, an der Binnenſeite, flogen jetzt 
die drei Schlitten hin, in einiger Entfernung ein paar alte 
Kutſchwagen vor ſich, in denen, aller Wahrſcheinlichkeit nach, 
an dere nach der Oberfoͤrſterei hin eingeladene Gaͤſte ſaßen. 
Einer dieſer Wagen war an ſeinen altmodiſch hohen Raͤdern 
deutlich zu erkennen, es war der Papenhagenſche. Natürlich). 
Guͤldenklee galt als der beſte Redner des Kreiſes (noch beſſen 
als Borcke, ja ſelbſt beſſer als Graſenabb) und durfte bei Feſt⸗ 
lichkeiten nicht leicht fehlen. 

Die Fahrt ging raſch — auch die herrſchaftlichen Kutſcher 
ſtrengten ſich an und wollten ſich nicht uͤberholen laſſen —, 
ſo daß man ſchon um drei vor der Oberfoͤrſterei hielt. Ring, 
ein ſtattlicher, militaͤriſch dreinſchauender Herr von Mitte 
fünfzig, der den erſten Feldzug in Schleswig noch unter Wrangel 
und Bonin mitgemacht und ſich bei Erſtuͤrmung des Dane⸗ 
werks ausgezeichnet hatte, ſtand in der Tuͤr und empfing ſeine 
Gaͤſte, die, nachdem fie abgelegt und die Frau des Hauſes br 
gruͤßt hatten, zunaͤchſt vor einem langgedeckten Kaffeetiſche Platz 
nahmen, auf dem kunſtvoll aufgeſchichtete Kuchenpyramiden 
ſtanden. Die Oberfoͤrſterin, eine von Natur ſehr aͤngſtliche, 
zum mindeſten aber ſehr befangene Frau, zeigte ſich auch als 
Wirtin ſo, was den uͤberaus eitlen Oberfoͤrſter, der fuͤr Sicher⸗ 
heit und Schneidigkeit war, ganz augenſcheinlich verdroß. um 
Gluck kam fein Unmut zu keinem Ausbruch, denn von dem, 


288 


was feine Frau vermiſſen ließ, hatten feine Töchter deſto mehr, 
bild huͤbſche Backfiſche von vierzehn und dreizehn, die ganz nach dem 
Vater ſchlugen. Beſonders die aͤltere, Cora, kokettierte ſofort mit 
Innſtetten und Crampas, und beide gingen auch darauf ein. Effi 
aͤrgerte ſich daruͤber und ſchaͤmte ſich dann wieder, daß ſie ſich 
geärgert habe. Sie ſaß neben Sidonie von Graſenabb und ſagte: 
„Sonderbar, ſo bin ich auch geweſen, als ich vierzehn war.“ 

Effi rechnete darauf, daß Sidonie dies beſtreiten oder doch 
wenigſtens Einſchraͤnkungen machen wuͤrde. Statt deſſen ſagte 
dieſe: „Das kann ich mir denken.“ 

„Und wie der Vater ſie verzieht,“ fuhr Effi halb verlegen, 
und nur, um doch was zu ſagen, fort. 

Sidonie nickte. „Da liegt es. Keine Zucht. Das iſt die 
Signatur unſerer Zeit.“ 

Effi brach nun ab. 

Der Kaffee war bald genommen, und man ſtand auf, um 
noch einen halbſtuͤndigen Spaziergang in den umliegenden 
Wald zu machen, zunaͤchſt auf ein Gehege zu, drin Wild ein⸗ 
gezaͤunt war. Cora öffnete das Gatter, und kaum, daß fie 
eingetreten, ſo kamen auch ſchon die Rehe auf ſie zu. Es war 
eigentlich reizend, ganz wie ein Maͤrchen. Aber die Eitelkeit 
des jungen Dinges, das ſich bewußt war, ein lebendes Bild zu 
ſtellen, ließ doch einen reinen Eindruck nicht aufkommen, 
am wenigſten bei Effi. „Nein,“ ſagte ſie zu ſich ſelber, „ſo bin 
ich doch nicht geweſen. Vielleicht hat es mir auch an Zucht 
gefehlt, wie dieſe furchtbare Sidonie mir eben andeutete, 
vielleicht auch anderes noch. Man war zu Haus zu guͤtig gegen 
mich, man liebte mich zu ſehr. Aber das darf ich doch wohl ſagen, 
ich habe mich nie geziert. Das war immer Huldas Sache. Darum 
gefiel ſie mir auch nicht, als ich dieſen Sommer ſie wiederſah.“ 

Auf dem Ruͤckwege vom Walde nach der Oberfoͤrſterei 
begann es zu ſchneien. Crampas geſellte ſich zu Effi und ſprach 
ihr ſein Bedauern aus, daß er noch nicht Gelegenheit gehabt 


IV 19 289 


Bew! 


habe, fie zu begrüßen. Zugleich wies er auf die großen ſchweren 
Schneeflocken, die fielen, und ſagte: „Wenn das ſo weiter 
geht, ſo ſchneien wir hier ein.“ 

„Das waͤre nicht das Schlimmſte. Mit dem Eingeſchneit⸗ 
werden verbinde ich von langer Zeit her eine freundliche Vor⸗ 
ſtellung, eine Vorſtellung von Schutz und Beiſtand.“ 

„Das iſt mir neu, meine gnaͤdigſte Frau.“ 

„Ja,“ fuhr Effi fort und verſuchte zu lachen, „mit den 
Vorſtellungen iſt es ein eigen Ding, man macht ſie ſich nicht 
bloß nach dem, was man perſoͤnlich erfahren hat, auch nach 
dem, was man irgendwo gehoͤrt oder ganz zufaͤllig weiß. 
Sie ſind ſo beleſen, Major, aber mit einem Gedichte — freilich 
keinem Heineſchen, keinem „Seegeſpenſt' und keinem „Vitzli⸗ 
putzli“ — bin ich Ihnen, wie mir ſcheint, doch voraus. Dies 
Gedicht heißt die ‚Gottesmauer“, und ich hab es bei unſerm 
Hohen⸗Cremmner Paſtor vor vielen, vielen Jahren, als ich 
noch ganz klein war, auswendig gelernt.“ 

„Gottes mauer,“ wiederholte Crampas. „Ein huͤbſcher 
Titel, und wie verhaͤlt es ſich damit?“ 

„Eine kleine Geſchichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo 
Krieg, ein Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die ſich vor 
dem Feinde maͤchtig fuͤrchtete, betete zu Gott, er moͤge doch 
‚eine Mauer um fie bauen“, um fie vor dem Landesfeinde zu 
ſchuͤtzen. Und da ließ Gott das Haus einſchneien, und der 
Feind zog daran voruͤber.“ a 

Crampas war ſichtlich betroffen und wechſelte das Geſpraͤch. 

Als es dunkelte, waren alle wieder in der Oberfoͤrſterei zuruͤck. 


Neunzehntes Kapitel 


Geeich nach ſieben ging man zu Tiſch, und alles freute 
ſich, daß der Weihnachtsbaum, eine mit zahlloſen Silber⸗ 


290 


= : 5 


N 


5 kugeln bedeckte Tanne, noch einmal angeſteckt wurde. Crampas, 


der das Ringſche Haus noch nicht kannte, war helle Bewunde⸗ 


rung. Der Damaſt, die Weinkuͤhler, das reiche Silbergeſchirr, 


alles wirkte herrſchaftlich, weit über oberfoͤrſterliche Durch⸗ 


ſchnittsverhaͤltniſſe hinaus, was darin feinen Grund hatte, 
daß Rings Frau, ſo ſcheu und verlegen ſie war, aus einem 
reichen Danziger Kornhändlerhaufe ſtammte. Von da her 
ruͤhrten auch die meiſten der ringsumher hängenden Bilder: 
der Kornhaͤndler und ſeine Frau, der Marienburger Remter 
und eine gute Kopie nach dem beruͤhmten Memlingſchen Altar⸗ 
bilde in der Danziger Marienkirche. Kloſter Oliva war zweimal 
da, einmal in Ol und einmal in Kork geſchnitzt. Außerdem 
befand ſich über dem Buͤfett ein ſehr nachgedunkeltes Porträt 
des alten Nettelbeck, das noch aus dem beſcheidenen Mobiliar 
des erſt vor anderthalb Jahren verſtorbenen Ringſchen Amts⸗ 
vorgaͤngers herruͤhrte. Niemand hatte damals bei der wie ge⸗ 
woͤhnlich ſtattfindenden Auktion das Bild des Alten haben 
wollen, bis Innſtetten, der ſich uͤber dieſe Mißachtung aͤrgerte, 
darauf geboten hatte. Da hatte ſich denn auch Ring patriotiſch 
beſonnen, und der alte Kolbergverteidiger war der Oberfoͤrſterei 
verblieben. 

Das Nettelbeck⸗Bild ließ ziemlich viel zu wuͤnſchen uͤbrig; 
ſonſt aber verriet alles, wie ſchon angedeutet, eine beinahe an 
Glanz ſtreifende Wohlhabenheit, und dem entſprach denn auch 
das Mahl, das aufgetragen wurde. Jeder hatte mehr oder 
weniger ſeine Freude daran, mit Ausnahme Sidoniens. 


Dieſe ſaß zwiſchen Innſtetten und Lindequiſt und ſagte, als 


ſie Coras anſichtig wurde: „Da iſt ja wieder dies unausſtehliche 
Balg, dieſe Cora. Sehen Sie nur, Innſtetten, wie ſie die kleinen 
Weinglaͤſer praͤſentiert, ein wahres Kunſtſtuͤck, ſie koͤnnte jeden 
Augenblick Kellnerin werden. Ganz unertraͤglich. Und dazu 
die Blicke von Ihrem Freunde Crampas! Das iſt ſo die rechte 
Saat! Ich frage Sie, was ſoll dabei herauskommen?“ 


10“ 29 


Innſtetten, der ihr eigentlich zuſtimmte, fand trotzdem den 
Ton, in dem das alles geſagt wurde, ſo verletzend herbe, daß er 
ſpoͤttiſch bemerkte: „Ja, meine Gnaͤdigſte, was dabei heraus⸗ 
kommen ſoll? Ich weiß es auch nicht“ — worauf ſich Sidonie 
von ihm ab⸗ und ihrem Nachbar zur Linken zuwandte: „Sagen 
Sie, Paſtor, iſt dieſe vierzehnjaͤhrige Kokette ſchon im Unterricht 
bei Ihnen?“ 

„Ja, mein gnaͤdigſtes Fraͤulein.“ 

„Dann muͤſſen Sie mir die Bemerkung verzeihen, daß Sie 
fie nicht in die richtige Schule genommen haben. Ich weiß 
wohl, es haͤlt das heutzutage ſehr ſchwer, aber ich weiß auch, 
daß die, denen die Fuͤrſorge fuͤr junge Seelen obliegt, es viel⸗ 
fach an dem rechten Ernſte fehlen laſſen. Es bleibt dabei, die 
Hauptſchuld tragen die Eltern und Erzieher.“ 

Lindequiſt, denſelben Ton anſchlagend wie Innſtetten, 
antwortete, daß das alles ſehr richtig, der Geiſt der Zeit aber zu 
maͤchtig ſei. 

„Geiſt der Zeit!“ ſagte Sidonie. „Kommen Sie mir nicht 
damit. Das kann ich nicht hören, das iſt der Ausdruck hoͤchſter 
Schwaͤche, Bankrotterklaͤrung. Ich kenne das; nie ſcharf zur 
faſſen wollen, immer dem Unbequemen aus dem Wege gehen. 
Denn Pflicht iſt unbequem. Und ſo wird nur allzuleicht ver⸗ 
geſſen, daß das uns anvertraute Gut auch mal von uns zuruͤck⸗ 
gefordert wird. Eingreifen, lieber Paſtor, Zucht. Das Fleiſch iſt 
ſchwach, gewiß; aber ...“ 

In dieſem Augenblicke kam ein engliſches Roaſtbeef, von 
dem Sidonie ziemlich ausgiebig nahm, ohne Lindequiſts 
Laͤcheln dabei zu bemerken. Und weil ſie's nicht bemerkte, ſo 
durfte es auch nicht wundernehmen, daß ſie mit vieler Unbe⸗ 
fangenheit fortfuhr: „Es kann uͤbrigens alles, was Sie hier 
ſehen, nicht wohl anders ſein; alles iſt ſchief und verfahren von 
Anfang an. Ring, Ring — wenn ich nicht irre, hat es druͤben 
in Schweden oder da herum mal ein Sagenkoͤnig dieſes Namens 


292 


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— Ne. 1 
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gegeben. Nun fehen Sie, benimmt er ſich nicht, als ob er von 
dem abſtamme; und ſeine Mutter, die ich noch gekannt habe, 
war eine Plaͤttfrau in Koͤslin.“ 

„Ich kann darin nichts Schlimmes finden.“ 

„Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und jedenfalls gibt 
es Schlimmeres. Aber ſoviel muß ich doch von Ihnen, als 
einem geweihten Diener der Kirche, gewaͤrtigen duͤrfen, daß 
Sie die geſellſchaftlichen Ordnungen gelten laſſen. Ein Ober⸗ 
foͤrſter iſt ein bißchen mehr als ein Foͤrſter, und ein Foͤrſter hat 
nicht ſolche Weinkuͤhler und ſolch Silberzeug; das alles iſt unge⸗ 
hoͤrig und zieht dann ſolche Kinder groß wie dies Fraͤulein Cora.“ 
Sidonie, jedesmal bereit, irgend was Schreckliches zu 
prophezeien, wenn ſie, vom Geiſt uͤberkommen, die Schalen 
ihres Zornes ausſchuͤttete, wuͤrde ſich auch heute bis zum 
Kaſſandrablick in die Zukunft geſteigert haben, wenn nicht in 
eben dieſem Augenblicke die dampfende Punſchbowle — womit 
die Weihnachtsreunions bei Ring immer abſchloſſen — auf 
der Tafel erſchienen waͤre, dazu Krausgebackenes, das, geſchickt 
uͤbereinandergetuͤrmt, noch weit uͤber die vor einigen Stunden 
aufgetragene Kaffeekuchenpyramide hinauswuchs. Und nun 
trat auch Ring ſelbſt, der ſich bis dahin etwas zuruͤckgehalten 
hatte, mit einer gewiſſen ſtrahlenden Feierlichkeit in Aktion 
und begann die vor ihm ſtehenden Glaͤſer, große geſchliffene 
Roͤmer, in virtuoſem Bogenſturz zu fuͤllen, ein Einſchenke⸗ 
kunſtſtuͤck, das die ſtets ſchlagfertige Frau von Padden, die 
heute leider fehlte, mal als „Ringſche Fuͤllung en cascade“ 
bezeichnet hatte. Rotgolden woͤlbte ſich dabei der Strahl, 
und kein Tropfen durfte verloren gehen. So war es auch heute 
wieder. Zuletzt aber, als jeder, was ihm zukam, in Haͤnden hielt 
— auch Cora, die ſich mittlerweile mit ihrem rotblonden Wellen⸗ 
haar auf „Onkel Crampas“ Schoß geſetzt hatte —, erhob ſich 
der alte Papenhagner, um, wie herkoͤmmlich bei Feſtlichkeiten 


der Art, einen Toaſt auf feinen lieben Oberfoͤrſter auszubringen. 


293 


„Es gaͤbe viele Ringe,“ fo etwa begann er, „Jahresringe, 
Gardinenringe, Trauringe, und was nun gar — denn auch 
davon duͤrfe ſich am Ende wohl ſprechen laſſen — die Ver⸗ 
lobungsringe angehe, ſo ſei gluͤcklicherweiſe die Gewaͤhr ge⸗ 
geben, daß einer davon in kuͤrzeſter Friſt in dieſem Hauſe ſicht⸗ 
bar werden und den Ringfinger (und zwar hier in einem 
doppelten Sinne den Nine eines kleinen hübſchen 
Paͤtſchelchens zieren werde ...“ 

„Unerhoͤrt,“ raunte Sidonie dem Paſtor zu. 

„Ja, mein Freunde,“ fuhr Guͤldenklee mit gehobener 
Stimme fort, „viele Ringe gibt es, und es gibt ſogar eine 
Geſchichte, die wir alle kennen, die die Geſchichte von den 
„drei Ringen‘ heißt, eine Judengeſchichte, die, wie der ganze 
liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil ge⸗ 
ſtiftet hat und noch ſtiftet. Gott beſſere es. Und nun laſſen Sie 
mich ſchließen, um Ihre Geduld und Nachſicht nicht uͤber Ge⸗ 
buͤhr in Anſpruch zu nehmen. Ich bin nicht fuͤr dieſe drei 
Ringe, meine Lieben, ich bin vielmehr fuͤr einen Ring, fuͤr 
einen Ring, der ſo recht ein Ring iſt wie er ſein ſoll, ein Ring, 
der alles Gute, was wir in unſerm altpommerſchen Keſſiner 
Kreiſe haben, alles, was noch mit Gott fuͤr Koͤnig und Vater⸗ 
land einſteht — und es find ihrer noch einige (lauter Jubel) —, 
an dieſem ſeinem gaſtlichen Tiſch vereinigt ſieht. Fuͤr dieſen 
Ring bin ich. Er lebe hoch!“ 

Alles ſtimmte ein und umdraͤngte Ring, der, ſolange das dau⸗ 
erte, das Amt des, Einſchenkens en cascade an den ihm gegenuͤber⸗ 
ſitzenden Crampas abtreten mußte; der Hauslehrer aber ſtuͤrzte 
von ſeinem Platz am unteren Ende der Tafel an das Klavier und 
ſchlug die erſten Takte des Preußenliedes an, worauf alles ſtehend 
und feierlich einfiel: „Ich bin ein Preuße ... will ein Preuße ſein.“ 

„Es iſt doch etwas Schoͤnes,“ ſagte gleich nach der erſten 
Strophe der alte Borcke zu Innſtetten, en was hat man in 
anderen Laͤndern nicht.“ 


294 


, 6 u e when, 


„Sie follten ſich nic zunſtetten, der von ſolchem Patriotis⸗ 
nase viel hielt, „in anderen Ländern hat man was an⸗ 
deres.“ g 

Man ſang alle Strophen durch, dann hieß es, die Wagen 
ſeien vorgefahren, und gleich danach erhob ſich alles, um die 
Pferde nicht warten zu laſſen. Denn dieſe Ruͤckſicht „auf die 


Pferde“ ging auch im Kreiſe Keſſin allem anderen vor. Im 


Hausflur ſtanden zwei huͤbſche Maͤgde, Ring hielt auf der⸗ 
gleichen, um den Herrſchaften beim Anziehen ihrer Pelze be⸗ 
hilflich zu ſein. Alles war heiter angeregt, einige mehr als das, 
und das Einſteigen in die verſchiedenen Gefaͤhrte ſchien ſich 
ſchnell und ohne Stoͤrung vollziehen zu ſollen, als es mit einem 
Male hieß, der Gieshuͤblerſche Schlitten ſei nicht da. Gies⸗ 
huͤbler ſelbſt war viel zu artig, um gleich Unruhe zu zeigen oder 
gar Laͤrm zu machen; endlich aber, weil doch wer das Wort 
nehmen mußte, fragte Crampas, „was es denn eigentlich ſei?“ 

„Mirambo kann nicht fahren,“ ſagte der Hofknecht; „das 
linke Pferd hat ihm beim Anſpannen vor das Schienbein ge⸗ 
ſchlagen. Er liegt im Stall und ſchreit.“ 

Nun wurde natuͤrlich nach Doktor Hannemann gerufen, 
der denn auch hinausging und nach fuͤnf Minuten mit echter 
Chirurgenruhe verſicherte: „Ja, Mirambo muͤſſe zuruͤckbleiben; 
es ſei vorlaͤufig in der Sache nichts zu machen als ſtill liegen 
und fühlen. Übrigens von Bedenklichem keine Rede.“ Das war 
nun einigermaßen ein Troſt, aber ſchaffte doch die Verlegen⸗ 
heit, wie der Gieshuͤblerſche Schlitten zuruͤckzufahren ſei, nicht 
aus der Welt, bis Innſtetten erklaͤrte, daß er fuͤr Mirambo 
einzutreten und das Zwiegeſtirn von Doktor und Apotheker 
perſoͤnlich gluͤcklich heimzuſteuern gedenke. Lachend und unter 
ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den verbindlichſten aller 


Landraͤte, der ſich, um hilfreich zu ſein, ſogar von ſeiner jungen 


Frau trennen wolle, wurde dem Vorſchlage zugeſtimmt, und 
Innſtetten, mit Gieshuͤbler und dem Doktor im Fond, nahm 


295 


jeht wieder die Tete. Ben, unc BA et, Gehrer, 
mittelbar. Und als gleich danach auch Kruſe mit de. 
raͤtlichen Schlitten vorfuhr, trat Sidonie laͤchelnd an Effi heran 
und bat dieſe, da ja nun ein Platz frei ſei, mit ihr fahren zu 
duͤrfen. „In unſerer Kutſche iſt es immer ſo ſtickig; mein Vater 
liebt das. Und außerdem, ich moͤchte ſo gern mit Ihnen plau⸗ 
dern. Aber nur bis Quappendorf. Wo der Morgnitzer Weg 
abzweigt, ſteig ich aus und muß dann wieder in unſern un⸗ 
bequemen Kaſten. Und Papa raucht auch noch.“ 

Effi war wenig erfreut uͤber dieſe Begleitung und haͤtte 
die Fahrt lieber allein gemacht; aber ihr blieb keine Wahl und 
ſo ſtieg denn das Fraͤulein ein, und kaum daß beide Damen 
ihre Plaͤtze genommen hatten, ſo gab Kruſe den Pferden auch 
ſchon einen Peitſchenknips, und von der oberfoͤrſterlichen Rampe 
her, von der man einen praͤchtigen Ausblick auf das Meer hatte, 
ging es, die ziemlich ſteile Duͤne hinunter, auf den Strandweg 
zu, der, eine Meile lang, in beinahe gerader Linie bis an das 
Keſſiner Strandhotel, und von dort aus, rechts einbiegend, 
durch die Plantage hin, in die Stadt fuͤhrte. Der Schneefall 
hatte ſchon ſeit ein paar Stunden aufgehoͤrt, die Luft war friſch, N 
und auf das weite dunkelnde Meer fiel der matte Schein der 
Mondſichel. Kruſe fuhr hart am Waſſer hin, mitunter den 
Schaum der Brandung durchſchneidend, und Effi, die etwas 
froͤſtelte, wickelte ſich feſter in ihren Mantel und ſchwieg noch 
immer und mit Abſicht. Sie wußte recht gut, daß das mit 
der „ſtickigen Kutſche“ bloß Vorwand geweſen und daß ſich 
Sidonie nur zu ihr geſetzt hatte, um ihr etwas Unangenehmes 
zu ſagen. Und das kam immer noch fruͤh genug. Zudem 
war ſie wirklich muͤde, vielleicht von dem Spaziergang im Walde, 
vielleicht auch von dem oberfoͤrſterlichen Punſch, dem ſie, auf 
Zureden der neben ihr ſitzenden Frau von Flemming, tapfer 
zugeſprochen hatte. Sie tat denn auch, als ob ſie ſchliefe, ſchloß 
die Augen und neigte den Kopf immer mehr nach links. 


296 


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„Sie follten fich nicht fo ſehr nach links beugen, meine 
gnaͤdigſte Frau. Faͤhrt der Schlitten auf einen Stein, ſo fliegen 
Sie hinaus. Ihr Schlitten hat ohnehin kein Schutzleder und, 
wie ich ſehe, auch nicht einmal die Haken dazu.“ 

„Ich kann die Schutzleder nicht leiden; ſie haben ſo was 
Proſaiſches. Und dann, wenn ich hinausfloͤge, mir waͤr es 
recht, am liebſten gleich in die Brandung. Freilich ein etwas 
kaltes Bad, aber was tut's ... Übrigens hören Sie nichts?“ 

„Nein.“ 

„Hoͤren Sie nicht etwas wie Muſik?“ 

„Orgel?“ 

„Nein, nicht Orgel. Da wuͤrd ich denken, es ſei das Meer. 
Aber es iſt etwas anderes, ein unendlich feiner Ton, faſt wie 
menſchliche Stimme ..“ 

„Das ſind Sinnestaͤuſchungen,“ ſagte Sidonie, die jetzt 
den richtigen Einſetzemoment gekommen glaubte. „Sie ſind 
nervenkrank. Sie hören Stimmen. Gebe Gott, daß Sie auch 
die richtige Stimme hoͤren.“ 

„Ich höre... nun, gewiß, es iſt Torheit, ich weiß, ſonſt 
wuͤrd ich mir einbilden, ich hätte die Meerfrauen fingen hören . . + 
Aber, ich bitte Sie, was iſt das? Es blitzt ja bis hoch in den 
Himmel hinauf. Das muß ein Nordlicht ſein.“ 

„Ja,“ ſagte Sidonie. „Gnaͤdigſte Frau tun ja, als ob es ein 
Weltwunder waͤre. Das iſt es nicht. Und wenn es dergleichen 
wäre, wir haben uns vor Naturkultus zu hüten. Übrigens 
ein wahres Gluͤck, daß wir außer Gefahr ſind, unſern Freund 
Oberfoͤrſter, dieſen eitelſten aller Sterblichen, uͤber dies Nord⸗ 
licht ſprechen zu hoͤren. Ich wette, daß er ſich einbilden wuͤrde, 
das tue ihm der Himmel zu Gefallen, um ſein Feſt noch feſt⸗ 
licher zu machen. Er iſt ein Narr. Guͤldenklee konnte Beſſeres 
tun, als ihn feiern. Und dabei ſpielt er ſich auf den Kirchlichen 
aus und hat auch neulich eine Altardecke geſchenkt. Vielleicht, 


daß Cora daran mitgeſtickt hat. Dieſe Unechten ſind ſchuld an 


297 


allem, denn ihre Weltlichkeit liegt immer oben auf und wird 
denen mit angerechnet, die's ernſt mit dem Heil ihrer Seele 
meinen.“ 

„Es iſt ſo ſchwer, ins Herz zu ſehen! E 

„Ja. Das iſt es. Aber bei manchem iſt es auch ganz leicht.“ 
Und dabei ſah ſie die junge Frau mit beinahe ungezogener 
Eindringlichkeit an.“ 

Effi ſchwieg und wandte ſich ungeduldig zur Seite. 

„Bei manchem, ſag ich, iſt es ganz leicht,“ wiederholte 
Sidonie, die ihren Zweck erreicht hatte und deshalb ruhig 
laͤchelnd fortfuhr: „und zu dieſen leichten Raͤtſeln gehoͤrt unſer 
Oberfoͤrſter. Wer ſeine Kinder ſo erzieht, den beklag ich, aber 
das eine Gute hat es, es liegt bei ihm alles klar da. Und wie 
bei ihm ſelbſt, ſo bei den Toͤchtern. Cora geht nach Amerika 
und wird Millionaͤrin oder Methodiſtenpredigerin; in jedem 
Fall iſt ſie verloren. Ich habe noch keine Vierzehnjaͤhrige ge⸗ 
ſehen ...“ 

In dieſem Augenblicke hielt der Schlitten, und als ſich 
beide Damen umſahen, um in Erfahrung zu bringen, was es 
denn eigentlich ſei, bemerkten ſie, daß rechts von ihnen, in etwa 
dreißig Schritt Abſtand, auch die beiden anderen Schlitten 
hielten — am weiteſten nach rechts der von Innſtetten gefuͤhrte, 


näher heran der Crampasſche. V 


„Was iſt?“ fragte Effi, 

Kruſe wandte ſich halb herum und ſagte: „Der Schloon, 
gnaͤdge Frau.“ 

„Der Schloon? Was iſt das? Ich ſehe nichts.“ 


Kruſe wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er aus⸗ 


drucken wollte, daß die Frage leichter geſtellt als beantwortet 
ſei. Worin er auch recht hatte. Denn was der Schloon ſei, das 
war nicht ſo mit drei Worten zu ſagen. Kruſe fand aber in ſeiner 
Verlegenheit alsbald Hilfe bei dem gnaͤdigen Fraͤulein, das hier 
mit allem Beſcheid wußte und natuͤrlich auch mit dem Schloon. 


298 


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„Ja, meine gnädigſte Frau,“ ſagte Sidonie, „da ſteht es 


ſchlimm. Für mich hat es nicht viel auf ſich, ich komme bequem 
durch; denn wenn erſt die Wagen heran ſind, die haben hohe 


Raͤder, und unſere Pferde ſind außerdem daran gewoͤhnt. Aber mit 
ſolchem Schlitten iſt es was anderes; die verſinken im Schloon, 
und Sie werden wohl oder uͤbel einen Umweg machen muͤſſen.“ 

„Verſinken! Ich bitte Sie, mein gnaͤdigſtes Fraͤulein, ich ſehe 
noch immer nicht klar. Iſt denn der Schloon ein Abgrund oder 
irgendwas, drin man mit Mann und Maus zugrunde gehen 
muß? Ich kann mir fo was hierzulande gar nicht denken.“ 

„Und doch iſt es ſo was, nur freilich im kleinen; dieſer 
Schloon iſt eigentlich bloß ein kuͤmmerliches Rinnſal, das hier 
rechts vom Gothener See her herunterkommt und ſich durch 
die Duͤnen ſchleicht. Und im Sommer trocknet es mitunter 
ganz aus, und Sie fahren dann ruhig druͤber hin und wiſſen es 
nicht einmal.“ 

„Und im Winter?“ 

„Ja, im Winter, da iſt es was anderes; nicht immer, aber 
doch oft. Da wird es dann ein Soog.“ 

„Mein Gott, was ſind das nur alles fuͤr Namen und 
Woͤrter!“ 

„ . Da wird es ein Soog, und am ſtaͤrkſten immer dann, 
wenn der Wind nach dem Lande hin ſteht. Dann druͤckt der 
Wind das Meerwaſſer in das kleine Rinnſal hinein, aber nicht 
ſo, daß man es ſehen kann. Und das iſt das Schlimmſte von 


der Sache, darin ſteckt die eigentliche Gefahr. Alles geht naͤm⸗ 


lich unterirdiſch vor ſich, und der ganze Strandſand iſt dann bis 
tief hinunter mit Waſſer durchſetzt und gefuͤllt. Und wenn 
man dann uͤber ſolche Sandſtelle weg will, die keine mehr iſt, 
dann ſinkt man ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor waͤre.“ 

„Das kenn ich,“ ſagte Effi lebhaft. „Das iſt wie in unſrem 
Luch,“ und inmitten all ihrer Angſtlichkeit wurde ihr mit einem 
Male ganz wehmuͤtig⸗freudig zu Sinn. 


299 


Waͤhrend das Geſpraͤch noch fo ging und ſich fortſetzte, 
war Crampas aus ſeinem Schlitten ausgeſtiegen und auf den 
am aͤußerſten Fluͤgel haltenden Gieshuͤblerſchen zugeſchritten, 
um hier mit Innſtetten zu verabreden, was nun wohl eigentlich 
zu tun ſei. Knut, ſo vermeldete er, wolle die Durchfahrt ris⸗ 
kieren, aber Knut ſei dumm und verſtehe nichts von der Sache; 
nur ſolche, die hier zu Hauſe ſeien, muͤßten die Entſcheidung 
treffen. Innſtetten — ſehr zu Crampas Überraſchung — war 
auch fuͤrs „Riskieren“, es muͤſſe durchaus noch mal verſucht 
werden ... er wiſſe ſchon, die Geſchichte wiederhole ſich jedes⸗ 
mal: die Leute hier haͤtten einen Aberglauben und vorweg eine 
Furcht, waͤhrend es doch eigentlich wenig zu bedeuten habe. 
Nicht Knut, der wiſſe nicht Beſcheid, wohl aber Kruſe ſolle noch 
einmal einen Anlauf nehmen und Crampas derweilen bei den 
Damen einſteigen (ein kleiner Ruͤckſitz ſei ja noch da), um bei 
der Hand zu ſein, wenn der Schlitten umkippe. Das ſei doch 
ſchließlich das Schlimmſte, was geſchehen koͤnne. 

Mit dieſer Innſtettenſchen Botſchaft erſchien jetzt Crampas 
bei den beiden Damen und nahm, als er lachend ſeinen Auftrag 
ausgeführt hatte, ganz nach empfangener Order den kleinen 
Sitzplatz ein, der eigentlich nichts als eine mit Tuch uͤberzogene 
Leiſte war, und rief Kruſe zu: „Nun, vorwaͤrts, Kruſe.“ 

Dieſer hatte denn auch die Pferde bereits um hundert 
Schritte zuruͤckgezoppt und hoffte, ſcharf anfahrend, den 
Schlitten gluͤcklich durchbringen zu koͤnnen; im ſelben Augenblick 
aber, wo die Pferde den Schloon auch nur beruͤhrten, ſanken 
ſie bis uͤber die Knoͤchel in den Sand ein, ſo daß ſie nur mit 
Muͤhe nach ruͤckwaͤrts wieder heraus konnten. 

„Es geht nicht,“ ſagte Crampas, und Kruſe nickte. 

Waͤhrend ſich dies abſpielte, waren endlich auch die Kutſchen 
herangekommen, die Graſenabbſche vorauf, und als Sidonie, 
nach kurzem Dank gegen Effi, ſich verabſchiedet und dem ſeine 
tuͤrkiſche Pfeife rauchenden Vater gegenuͤber ihren Ruͤckplatz 


300 


ngenommen hatte, ging es mit dem Wagen ohne weiteres 
uf den Schloon zu; die Pferde ſanken tief ein, aber die Raͤder 
eßen alle Gefahr leicht uͤberwinden, und ehe eine halbe Minute 
oruͤber war, trabten auch ſchon die Graſenabbs drüben weiter. 
die anderen Kutſchen folgten. Effi ſah ihnen nicht ohne Neid 
ach. Indeſſen nicht lange, denn auch für die Schlittenfahrer 
zar in der zwiſchenliegenden Zeit Rat geſchafft worden, und 
war einfach dadurch, daß ſich Innſtetten entſchloſſen hatte, 
att aller weiteren Forcierung, das friedlichere Mittel eines 
Umwegs zu wählen. Alſo genau das, was Sidonie gleich 
anfangs in Sicht geſtellt hatte. Vom rechten Fluͤgel her klang 
des Landrats beſtimmte Weiſung heruͤber, vorlaͤufig diesſeits 
zu bleiben und ihm durch die Duͤnen hin bis an eine weiter 
hinauf gelegene Bohlenbruͤcke zu folgen. Als beide Kutſcher, 
Knut und Kruſe, ſo verſtaͤndigt waren, trat der Major, der, 
um Sidonie zu helfen, gleichzeitig mit dieſer ausgeſtiegen war, 
wieder an Effi heran und ſagte: „Ich kann Sie nicht allein 
laſſen, gnaͤdge Frau.“ 

Effi war einen Augenblick unſchluͤſſig, ruͤckte dann aber raſch 
von der einen Seite nach der anderen hinuͤber und Crampas 
nahm links neben ihr Platz. 

All dies haͤtte vielleicht mißdeutet werden koͤnnen, Crampas 
ſelbſt aber war zu ſehr Frauenkenner, um es ſich bloß in Eitel⸗ 
keit zurechtzulegen. Er ſah deutlich, daß Effi nur tat, was, 
nach Lage der Sache, das einzig Richtige war. Es war unmoͤglich 
für fie, ſich feine Gegenwart zu verbitten. Und fo ging es denn 
im Fluge den beiden anderen Schlitten nach, immer dicht an 
dem Waſſerlaufe hin, an deſſen anderem Ufer dunkle Wald⸗ 
maſſen aufragten. Effi ſah hinuͤber und nahm an, daß ſchließ⸗ 
lich an dem landeinwaͤrts gelegenen Außenrande des Waldes 
hin die Weiterfahrt gehen wuͤrde, genau alſo den Weg entlang, 
auf dem man in fruͤher Nachmittagsſtunde gekommen war. 
Innſtetten aber hatte ſich inzwiſchen einen anderen Plan ge⸗ 


301 


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macht, und im ſelben Augenblicke, wo fein Schlitten die Bohlen 
bruͤcke paffierte, bog er, ſtatt den Außenweg zu wählen, in einen 
ſchmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmaſſe 
hindurchfuͤhrte. Effi ſchrak zuſammen. Bis dahin waren 
Luft und Licht um ſie her geweſen, aber jetzt war es damit 
vorbei, und die dunklen Kronen woͤlbten ſich uͤber ihr. Ein 
Zittern uͤberkam fie, und fie [hob die Finger feſt ineinander, 
um ſich einen Halt zu geben. Gedanken und Bilder jagten ſich, 
und eines dieſer Bilder war das Muͤtterchen in dem Gedichte, 
das die „Gottesmauer“ hieß, und wie das Muͤtterchen, ſo 
betete auch ſie jetzt, daß Gott eine Mauer um ſie her bauen 
moͤge. Zwei, drei Male kam es auch uͤber ihre Lippen, aber 
mit einem Male fuͤhlte ſie, daß es tote Worte waren. Sie fuͤrchtete 
ſich und war doch zugleich wie in einem Jae ben und wollte 
auch nicht heraus. 

„Effi,“ klang es jetzt leis an ihr Ohr, und ſie hoͤrte, daß 
ſeine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und loͤſte die 
Finger, die fie noch immer geſchloſſen hielt, und uͤberdeckte fie 
mit heißen Kuͤſſen. Es war ihr, als wandle ſie eine Ohnmacht an. 

Als ſie die Augen wieder oͤffnete, war man aus dem Walde 
heraus, und in geringer Entfernung vor ſich hoͤrte ſie das 
Gelaͤut der voraufeilenden Schlitten. Immer vernehmlicher 
klang es, und als man, dicht vor Utpatels Muͤhle, von den 
Duͤnen her in die Stadt einbog, lagen rechts die kleinen Haͤuſer 
mit ihren Schneedaͤchern neben ihnen. 

Effi blickte ſich um, und im naͤchſten Augenblicke hielt der 
Schlitten vor dem landraͤtlichen Hauſe. 


Zwanzigſtes Kapitel 


Innſtetten, der Effi, als er ſie aus dem Schlitten hob, 
ſcharf beobachtet, aber doch ein Sprechen über die ſonderbare 


302 


* 


zu zweien vermieden hatte, war am anderen Morgen 
if und ſuchte ſeiner Verſtimmung, die noch nachwirkte, 
es ging Herr zu werden. 

1 haft gut geſchlafen?“ ſagte er, als Effi zum Fruͤh⸗ 


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„ 


hl dir. Ich kann dasſelbe von mir nicht ſagen. Ich 
daß du mit dem Schlitten im Schloon verunglüdt 

Crampas muͤhte ſich, dich zu retten; ich muß es ſo 
aber er verſank mit dir.“ 

ſprichſt das alles ſo ſonderbar, Geert. Es verbirgt 

Jaorwurf dahinter, und ich ahne weshalb.“ 

merkwuͤrdig.“ 


ft nicht einverſtanden damit, daß Crampas kam und 
Hilfe anbot.“ 


773 
ins. Sidonien und mir. Du mußt durchaus ver⸗ 
en, daß der Major in deinem Auftrage kam. Und 
erſt gegenüber ſaß, beilaͤufig jaͤmmerlich genug auf der 
malen Leiſte, ſollte ich ihn da ausweiſen, als die 
kamen und mit einem Male die Fahrt weiter 
hätte mich lächerlich gemacht, und dagegen biſt du 
findlich. Erinnere dich, daß wir unter deiner Zus 
ſiele Male gemeinſchaftlich ſpazierengeritten find, 
lte ich nicht gemeinſchaftlich mit ihm fahren? Es 
hieß es bei uns zu Haus, einem Edelmanne Miß⸗ 
zeigen.“ 
Edelmanne,“ ſagte Innſtetten mit Betonung. 
keiner? Du haſt ihn ſelbſt einen Kavalier genannt, 
n perfekten Kavalier.“ 
fuhr Innſtetten fort und ſeine Stimme wurde 
er, trotzdem ein leiſer Spott noch darin nachklang. 
„das iſt er, und ein perfekter Kavalier, das iſt er nun 


303 


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ſchon ganz gewiß. Aber Edelmann! Meine liebe Effi, ein 
Edelmann ſieht anders aus. Haſt du ſchon etwas Edles an 
ihm bemerkt? Ich nicht.“ 

Effi ſah vor ſich hin und ſchwieg. 

„Es ſcheint, wir find gleicher Meinung. Im übrigen, 
wie du ſchon ſagteſt, ich bin ſelber ſchuld; von einem Fauxpas 
mag ich nicht ſprechen, das iſt in dieſem Zuſammenhange kein 
gutes Wort. Alſo ſelber ſchuld, und es ſoll nicht wieder vor⸗ 
kommen, ſoweit ich's hindern kann. Aber auch du, wenn ich 
dir raten darf, ſei auf deiner Hut. Er iſt ein Mann der Ruͤck⸗ 
ſichtsloſigkeiten und hat ſo ſeine Anſichten uͤber junge Frauen. 
Ich kenne ihn von fruͤher.“ 

„Ich werde mir deine Worte geſagt ſein laſſen. Nur ſo 
viel, ich glaube, du verkennſt ihn.“ 
„Ich verkenne ihn nicht.“ 

„Oder mich,“ ſagte ſie mit einer Kraftanſtrengung und ver⸗ 
ſuchte ſeinem Blick zu begegnen. 

„Auch dich nicht, meine liebe Effi. Du biſt eine reizende 
Heine Frau, aber Feſtigkeit iſt nicht eben deine Spezialität,” 

Er erhob ſich, um zu gehen. Als er bis an die Tür gegangen 
war, trat Friedrich ein, um ein Gieshuͤblerſches Billett abzu⸗ 
geben, das natuͤrlich an die gnaͤdige Frau gerichtet war. 

Effi nahm es. „Eine Geheimkorreſpondenz mit Gies⸗ 
huͤbler,“ ſagte ſie; „Stoff zu neuer Eiferſucht für meinen ge⸗ 
ſtrengen Herrn. Oder nicht?“ 

„Nein, nicht ganz, meine liebe Effi. Ich begehe die Torheit, 
zwiſchen Crampas und Gieshuͤbler einen Unterſchied zu machen. 
Sie ſind ſozuſagen nicht von gleichem Karat; nach Karat be⸗ 
rechnet man naͤmlich den reinen Goldeswert, unter Umſtaͤnden 
auch der Menſchen. Mir perſoͤnlich, um auch das noch zu ſagen, 
iſt Gieshuͤblers weißes Jabot, trotzdem kein Menſch mehr 
Jabots traͤgt, erheblich lieber als Crampas' rotblonder Sap⸗ 
peurbart. Aber ich bezweifle, daß dies weiblicher Geſchmack iſt.“ 


304 


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Du haͤltſt ung für ſchwaͤcher, als wir find.” 

Eine Troͤſtung von praktiſch außerordentlicher Gering⸗ 
zkeit. Aber laſſen wir das. Lies lieber.“ 

Ind Effi las: „Darf ich mich nach der gnaͤdgen Frau 

den erkundigen? Ich weiß nur, daß Sie dem Schloon 
lich entronnen ſind; aber es blieb auch durch den Wald 
immer noch Faͤhrlichkeit genug. Eben kommt Doktor 
nemann von Uvagla zuruͤck und beruhigt mich über 
ambo; geſtern habe er die Sache fuͤr bedenklicher angeſehen, 
er uns habe ſagen wollen, heute nicht mehr. Es war eine 
nde Fahrt. — In drei Tagen feiern wir Silveſter. Auf 
Feſtlichkeit wie die vorjaͤhrige muͤſſen wir verzichten; 
einen Ball haben wir natürlich, und Sie erſcheinen zu 
n würde die Tanzwelt begluͤcken und nicht am wenigſten 
en reſpektvollſt ergebenen Alonzo G.“ 

Effi lachte. „Nun, was ſagſt du?“ 

„Nach wie vor nur das eine, daß ich dich lieber mit Gies⸗ 

er als mit Crampas ſehe.“ 

„Weil du den Crampas zu ſchwer und den Gieshuͤbler zu 

t nimmſt.“ 

Innſtetten drohte ihr ſcherzhaft mit dem Finger. 


Drei Tage ſpaͤter war Silveſter. Effi erſchien in einer 
nden Balltoilette, einem Geſchenk, das ihr der Weih⸗ 
tstiſch gebracht hatte; fie tanzte aber nicht, ſondern nahm 
u Platz bei den alten Damen, für die, ganz in der Nähe der 
ikempore, die Fauteuils geſtellt waren. Von den adeligen 
ülien, mit denen Innſtettens vorzugsweiſe verkehrten, war 
tand da, weil kurz vorher ein kleines Zerwuͤrfnis mit dem 
iſchen Reſſourcenvorſtand, der, namentlich ſeitens des 
ı Güldenklee, mal wieder „deſtruktiver Tendenzen“ be; 
digt worden war, ſtattgefunden hatte; drei, vier andere 
je Familien aber, die nicht Mitglieder der Reſſource, 


305 


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fondern immer nur geladene Gaͤſte waren und deren Güter an 
der anderen Seite der Keſſine lagen, waren aus zum Teil 
weiter Entfernung uͤber das Flußeis gekommen und freuten 
ſich, an dem Feſte teilnehmen zu koͤnnen. Effi ſaß zwiſchen 


der alten Ritterſchaftsraͤtin von Padden und einer etwas 


juͤngeren Frau von Titzewitz. Die Ritterſchaftsraͤtin, eine vor⸗ 
zuͤgliche alte Dame, war in allen Stuͤcken ein Original und 
ſuchte das, was die Natur, beſonders durch ſtarke Backenknochen⸗ 
bildung, nach der wendiſch⸗heidniſchen Seite hin für fie getan 
hatte, durch chriſtlich⸗germaniſche Glaubensſtrenge wieder in 
Ausgleich zu bringen. In dieſer Strenge ging ſie ſoweit, daß 
ſelbſt Sidonie von Graſenabb eine Art esprit fort neben ihr 
war, wogegen ſie freilich — vielleicht weil ſich die Radegaſter 
und die Swantowiter Linie des Hauſes in ihr vereinigten — 
uͤber jenen alten Paddenhumor verfuͤgte, der von langer Zeit 
her wie ein Segen auf der Familie ruhte und jeden, der mit 
derſelben in Beruͤhrung kam, auch wenn es Gegner in Politik 
und Kirche waren, herzlich erfreute. 

„Nun, Kind,“ ſagte die Ritterſchaftsraͤtin, „wie geht es 
Ihnen denn eigentlich?“ 


„Gut, gnaͤdigſte Frau; ich habe einen ſehr ausgezeichneten 


Mann.“ a 

„Weiß ich. Aber das hilft nicht immer. Ich hatte auch 
einen ausgezeichneten Mann. Wie ſteht es hier? Keine An⸗ 
fechtungen?“ 

Effi erſchrak und war zugleich wie geruͤhrt. Es lag etwas 
ungemein Erquickliches in dem freien und natuͤrlichen Ton, 
in dem die alte Dame ſprach, und daß es eine ſo fromme Frau 
war, das machte die Sache nur noch erquicklicher.“ 

„Ach, gnaͤdigſte Frau...“ 

„Da kommt es ſchon. Ich kenne das. Immer dasſelbe. 
Darin aͤndern die Zeiten nichts. Und vielleicht iſt es auch recht 
gut ſo. Denn worauf es ankommt, meine liebe junge Frau, 


306 


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das iſt das Kämpfen. Man muß immer ringen mit dem 
naturlichen Menſchen. Und wenn man ſich dann fo unter hat 
und beinah ſchreien moͤchte, weil's weh tut, dann jubeln die 
lieben Engel!“ | 

„Ach, gnaͤdigſte Frau. Es iſt oft recht ſchwer.“ 

„Freilich iſt es ſchwer. Aber je ſchwerer, deſto beſſer. Dar⸗ 
über muͤſſen Sie ſich freuen. Das mit dem Fleiſch, das bleibt, 
und ich habe Enkel und Enkelinnen, da ſeh ich es jeden Tag. 

Aber im Glauben ſich unterkriegen, meine liebe Frau, darauf 
kommt es an, das iſt das Wahre. Das hat uns unſer alter 
Martin Luther zur Erkenntnis gebracht, der Gottesmann. 
Kennen Sie ſeine Tiſchreden?“ 

„Nein, gnaͤdigſte Frau.“ 

„Die werde ich Ihnen ſchicken.“ 

In dieſem Augenblicke trat Major Crampas an Effi heran 
und bat, ſich nach ihrem Befinden erkundigen zu duͤrfen. Effi 

war wie mit Blut uͤbergoſſen; aber ehe ſie noch antworten 
konnte, ſagte Crampas: „Darf ich Sie bitten, gnaͤdigſte Frau, 
mich den Damen vorſtellen zu wollen?“ 

Effi nannte nun Crampas' Namen, der ſeinerſeits ſchon 
vorher vollkommen orientiert war und in leichtem Geplauder 
alle Padbens und Titzewitze, von denen er je gehört hatte, 
Revue paſſieren ließ. Zugleich entſchuldigte er ſich, den Herr⸗ 
ſchaften jenſeits der Keſſine noch immer nicht ſeinen Beſuch 
gemacht und ſeine Frau vorgeſtellt zu haben; aber es ſei 
ſonderbar, welche trennende Macht das Waſſer habe. Es ſei 
dasſelbe wie mit dem Canal La Manche ..“ 

„Wie?“ fragte die alte Titzewitz. 

Crampas ſeinerſeits hielt es fuͤr unangebracht, Aufklaͤrungen 
zu geben, die doch zu nichts gefuͤhrt haben wuͤrden, und fuhr 
fort: „Auf zwanzig Deutſche, die nach Frankreich gehen, 

kommt noch nicht einer, der nach England geht. Das macht das 
Waſſer; ich wiederhole, das Waſſer hat eine ſcheidende Kraft.“ 


20* 5 


Frau von Padden, die darin mit feinem Inſtinkt etwas 
Anzuͤgliches witterte, wollte fuͤr das Waſſer eintreten, Crampas 
aber ſprach mit immer wachſendem Redefluß weiter und lenkte 
die Aufmerkſamkeit der Damen auf ein ſchoͤnes Fräulein von 
Stojentin, „das ohne Zweifel die Ballkoͤnigin“ ſei, wobei ſein 
Blick uͤbrigens Effi bewundernd ſtreifte. Dann empfahl er 
ſich raſch unter Verbeugung gegen alle drei.“ 

„Schoͤner Mann,“ ſagte die Padden. „Verkehrt er in 
Ihrem Hauſe?“ 

Fluͤchtig.“ 

„Wirklich,“ wiederholte die Padden, „ein ſchoͤner Mann. 
Ein bißchen zu ſicher. Und Hochmut kommt vor dem Fall 
Aber ſehen Sie nur, da tritt er wirklich mit der Grete Stojentin 
an. Eigentlich iſt er doch zu alt; wenigſtens Mitte vierzig.“ 

„Er wird vierundvierzig.“ 

„Ei, ei, Sie ſcheinen ihn ja gut zu kennen.“ 


Es kam Effi ſehr zu paß, daß das neue Jahr, gleich in feinem 
Anfang, allerlei Aufregungen brachte. Seit Silveſternacht 
ging ein ſcharfer Nordoſt, der ſich in den naͤchſten Tagen faſt 
bis zum Sturm ſteigerte, und am 3. Januar nachmittags 
hieß es, daß ein Schiff draußen mit der Einfahrt nicht zuſtande 
gekommen und hundert Schritt vor der Mole geſcheitert ſei; 
es ſei ein engliſches, von Sunderland her, und ſoweit ſich er⸗ 
kennen laſſe, ſieben Mann an Bord; die Lotſen koͤnnten beim 
Ausfahren, trotz aller Anſtrengung, nicht um die Mole herum, 
und vom Strande aus ein Boot abzulaſſen, daran ſei nun 
vollends nicht zu denken, die Brandung ſei viel zu ſtark. Das 


klang traurig genug. Aber Johanna, die die Nachricht brachte 


hatte doch auch Troſt bei der Hand: Konſul Eſchrich, mit den 
Rettungsapparat und der Raketenbatterie, ſei ſchon unterwegs 
und es wuͤrde gewiß gluͤcken; die Entfernung ſei nicht voll ſo 
weit wie anno 75, wo's doch auch gegangen, und ſie haͤtten 


308 


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damals ſogar den Pudel mit gerettet, und es wäre ordentlich 
rührend geweſen, wie ſich das Tier gefreut und die Kapitaͤns⸗ 


frau und das liebe, kleine Kind, nicht viel groͤßer als Anniechen, 
immer wieder mit ſeiner roten Zunge geleckt habe. 


„Geert, da muß ich mit hinaus, das muß ich ſehen,“ hatte 
Effi ſofort erklärt, und beide waren aufgebrochen, um nicht 
zu ſpaͤt zu kommen, und hatten denn auch den rechten Moment 
abgepaßt; denn im Augenblick, als ſie, von der Plantage her, 
den Strand erreichten, fiel der erſte Schuß, und ſie ſahen ganz 
deutlich, wie die Rakete mit dem Fangſeil unter dem Sturm⸗ 
gewoͤlk hinflog und über das Schiff weg jenſeits niederfiel. 
Alle Hände regten ſich ſofort an Bord, und nun holten fie, 
mit Hilfe der kleinen Leine, das dickere Tau ſamt dem Korb 
heran, und nicht lange, ſo kam der Korb in einer Art Kreislauf 
wieder zuruͤck, und einer der Matroſen, ein ſchlanker, bildhuͤbſcher 
Menſch mit einer wachsleinenen Kappe, war geborgen an Land 
und wurde neugierig ausgefragt, waͤhrend der Korb aufs neue 
ſeinen Weg machte, zunaͤchſt den zweiten und dann den dritten 
heranzuholen und ſo ſort. Alle wurden gerettet, und Effi haͤtte 
ſich, als ſie nach einer halben Stunde mit ihrem Manne wieder 
heim ging, in die Duͤnen werfen und ſich ausweinen moͤgen. 
Ein ſchoͤnes Gefuͤhl hatte wieder Platz in ihrem Herzen ge⸗ 
funden, und es begluͤckte ſie unendlich, daß es ſo war. 

Das war am 3. geweſen. Schon am 5. kam ihr 
eine neue Aufregung, freilich ganz anderer Art. Innſtetten 
hatte Gieshuͤbler, der natuͤrlich auch Stadtrat und Magiſtrats⸗ 
mitglied war, beim Herauskommen aus dem Rathauſe ge⸗ 
troffen und im Geſpraͤche mit ihm erfahren, daß ſeitens des 
Kriegsminiſteriums angefragt worden ſei, wie ſich die Stabt, 
behörden eventuell zur Garniſonsfrage zu ſtellen gedaͤchten? 
Bei noͤtigem Entgegenkommen, Alfo bei Bereitwilligteit zu 
Stall⸗ und Kaſernenbauten, koͤnnten ihnen zwei Schwadronen 


Huſaren zugeſagt werden. „Nun, Effi, was ſagſt du dazu?“ — 


309 
1 


Effi war wie benommen. All das unſchuldige Glück ihrer 
Kinderjahre ſtand mit einem Male wieder vor ihrer Seele, 
und im Augenblick war es ihr, als ob rote Huſaren — denn es 
waren auch rote wie daheim in Hohen⸗Cremmen — fo recht 
eigentlich die Hüter von Paradies und Hau ſeien. Und 
dabei ſchwieg ſie noch immer. 

„Du ſagſt ja nichts, Effi.“ 

„Ja, ſonderbar, Geert. Aber es begluͤckt mich fo, daß ich 
vor Freude nichts ſagen kann. Wird es denn auch ſein? 
Werden ſie denn auch kommen?“ 

„Damit hat's freilich noch gute Wege, ja, Gies huͤbler 
meinte ſogar, die Vaͤter der Stadt, ſeine Kollegen, verdienten 
es gar nicht. Statt einfach über die Ehre, und wenn nicht über 
die Ehre, ſo doch wenigſtens uͤber den Vorteil einig und gluͤcklich 5 
zu fein, wären fie mit allerlei ‚Wenns‘ und ‚Ubers‘ gekommen 
und hätten geknauſert wegen der neuen Bauten; ja, Pfeffer 
kuͤchler Michelſen habe ſogar geſagt, es verderbe die Sitten der 
Stadt, und wer eine Tochter habe, der moͤge ſich vorſehen und 
Gitterfenſter anſchaffen.“ 

„Es iſt nicht zu glauben. Ich habe nie manierlichere Leute 
geſehen als unſere Huſaren; wirklich, Geert. Nun, du weißt 
es ja ſelbſt. Und nun will dieſer Michelſen alles vergittern. 
Hat er denn Toͤchter?“ 

„Gewiß; ſogar drei. Aber ſie ſind ſaͤmtlich hors concours.“ 

Effi lachte ſo herzlich, wie ſie ſeit lange nicht mehr gelacht 
hatte. Doch es war von keiner Dauer, und als Innſtetten ging 
und ſie allein ließ, ſetzte ſie ſich an die Wiege des Kindes, und 
ihre Traͤnen fielen auf die Kiſſen. Es brach wieder uͤber ſie 
herein, und ſie fuͤhlte, daß ſie wie eine Gefangene ſei und nicht 
mehr heraus koͤnne. i 

Sie litt ſchwer darunter und wollte ſich befreien. Aber 
wiewohl ſie ſtarker Empfindungen faͤhig war, ſo war ſie doch 
keine ſtarke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten 


e r ee eee 


= 
= 


310 


Anwandlungen gingen wieder voruͤber. So trieb ſie denn 


= weiter, heute, weil ſie's nicht ändern konnte, morgen, weil 
ſie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle 
hatte feine Macht über fie. 


So kam es, daß fie fih, von Natur frei und offen, in ein 
verſtecktes Komoͤdienſpiel mehr und mehr hineinlebte. Mit⸗ 
unter erſchrak ſie, wie leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb 


ſie ſich gleich: fie ſah alles klar und beſchöͤnigte nichts. Einmal 
trat fie ſpaͤt abends vor den Spiegel in ihrer Schlafſtube; 


die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo ſchlug 
draußen an, und im ſelben Augenblick war es ihr, als ſaͤhe ihr 
wer uͤber die Schulter. Aber ſie beſann ſich raſch. „Ich weiß 
ſchon, was es iſt; es war nicht der,“ und ſie wies mit dem 
Finger nach dem Spukzimmer oben. „Es war was anderes 
mein Gewiſſen ... Effi, du biſt verloren.“ 

Es ging aber doch weiter ſo, die Kugel war im Rollen, und 
was an einem Tage geſchah, machte das Tun des andern zur 
Notwendigkeit. 

Um die Mitte des Monats kamen Einladungen aufs Land. 
Aber die dabei innezuhaltende Reihenfolge hatten ſich die vier 
Familien, mit denen Innſtettens vorzugsweiſe verkehrten, 
geeinigt: die Borckes ſollten beginnen, die Flemmings und 
Graſenabbs folgten, die Guͤldenklees ſchloſſen ab. Immer eine 


Woche dazwiſchen. Alle vier Einladungen kamen am ſelben 


Tage; ſie ſollten erſichtlich den Eindruck des Ordentlichen und 
Wohlerwogenen machen, auch wohl den einer beſonderen 
freundſchaftlichen Zuſammengehoͤrigkeit. 

„Ich werde nicht dabei ſein, Geert, und du mußt mich der 
Kur halber, in der ich nun ſeit Wochen ſtehe, von vornherein 
entſchuldigen.“ 

Innſtetten lachte. „Kur. Ich ſoll es auf die Kur ſchieben. 
Das iſt das Vorgebliche; das Eigentliche heißt: du willſt 
nicht.“ 


3117 


„Nein, es iſt doch mehr Ehrlichkeit dabei, als du zugeben 
willſt. Du haſt ſelbſt gewollt, daß ich den Doktor zu Rate ziehe. 
Das hab ich getan, und nun muß ich doch ſeinem Rate folgen. 
Der gute Doktor, er haͤlt mich fuͤr bleichſüͤchtig, ſonderbar 
genug, und du weißt, daß ich jeden Tag von dem Eiſenwaſſer 
trinke. Wenn du dir ein Borckeſches Diner dazu vorſtellſt, 
vielleicht mit Preßkopf und Aal in Aſpik, ſo mußt du den Ein⸗ 
druck haben, es waͤre mein Tod. Und ſo wirſt du dich doch zu 
deiner Effi nicht ſtellen wollen. Freilich mitunter iſt es mir ...“ 

„Ich bitte dich, Effi ...“ 

„ . . Übrigens freu ich mich, und das iſt das einzige Gute 
dabei, dich jedesmal, wenn du faͤhrſt, eine Strecke Wegs be⸗ 
gleiten zu koͤnnen, bis an die Muͤhle gewiß oder bis an den 
Kirchhof oder auch bis an die Waldecke, da, wo der Morgnitzer 
Querweg einmuͤndet. Und dann ſteig ich ab und ſchlendere 
wieder zuruͤck. In den Duͤnen iſt es immer am ſchoͤnſten.“ 

Innſtetten war einverſtanden, und als drei Tage ſpaͤter 
der Wagen vorfuhr, ſtieg Effi mit auf und gab ihrem Manne 
das Geleit bis an die Waldecke. „Hier laß halten, Geert. 
Du faͤhrſt nun links weiter, ich gehe rechts bis an den Strand 
und durch die Plantage zuruck. Es iſt etwas weit, aber doch 
nicht zu weit. Doktor Hannemann ſagt mir jeden Tag, Be⸗ 
wegung ſei alles, Bewegung und friſche Luft. Und ich glaube 
beinah, daß er recht hat. Empfiehl mich all den Herrſchaften; 
nur bei Sidonie kannſt du ſchweigen.“ 

Die Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis an die Wald⸗ 
ecke begleitete, wiederholten ſich allwoͤchentlich; aber auch in der 
zwiſchenliegenden Zeit hielt Effi darauf, daß ſie der aͤrztlichen 
Verordnung ſtreng nachkam. Es verging kein Tag, wo ſie nicht 
ihren vorgeſchriebenen Spaziergang gemacht haͤtte, meiſt nach⸗ 
mittags, wenn ſich Innſtetten in ſeine Zeitungen zu vertiefen 
begann. Das Wetter war ſchoͤn, eine milde, friſche Luft, der 

Himmel bedeckt. Sie ging in der Regel allein und ſagte zu 


312 


W 


Roswitha: „Noswitha, ich gehe nun alſo die Chauffee hinunter 


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F ͤ as a 


und dann rechts an den Platz mit dem Karuſſell; da will ich 
auf dich warten, da hole mich ab. Und dann gehen wir durch 
die Birkenallee oder durch die Reeperbahn wieder zuruͤck. 
Aber komme nur, wenn Annie ſchlaͤft. Und wenn fie nicht 
ſchlaͤft, ſo ſchicke Johanna. Oder laß es lieber ganz; es iſt nicht 
nötig, ich finde mich ſchon zurecht.“ 

Den erſten Tag, als es ſo verabredet war, trafen ſie ſich 
auch wirklich. Effi ſaß auf einer an einem langen Holzſchuppen 
ſich hinziehenden Bank und ſah nach einem niedrigen Fachwerk⸗ 


hauſe hinuͤber, gelb mit ſchwarz geſtrichenen Balken, einer Wirt⸗ 


ſchaft fuͤr kleine Buͤrger, die hier ihr Glas Bier tranken oder 
Solo ſpielten. Es dunkelte noch kaum, die Fenſter aber waren 
ſchon hell, und ihr Lichtſchimmer fiel auf die Schneemaſſen und 
etliche zur Seite ſtehende Baͤume. „Sieh, Roswitha, wie ſchoͤn 
das aus ſieht.“ 

Ein paar Tage wiederholte ſich das. Meiſt aber, wenn 
Roswitha bei dem Karuſſell und dem Holzſchuppen ankam, 
war niemand da, und wenn ſie dann zuruͤckkam und in den 
Hausflur eintrat, kam ihr Effi ſchon entgegen und ſagte: „Wo 
du nur bleibſt, Roswitha, ich bin ſchon lange wieder hier.“ 

In dieſer Art ging es durch Wochen hin. Das mit den 
Huſaren hatte ſich wegen der Schwierigkeiten, die die Buͤrger⸗ 
ſchaft machte, ſo gut wie zerſchlagen; aber da die Verhand⸗ 
lungen noch nicht geradezu abgeſchloſſen waren und neuer⸗ 
dings durch eine andere Behoͤrde, das Generalkommando, 
gingen, ſo war Crampas nach Stettin berufen worden, wo 
man ſeine Meinung in dieſer Angelegenheit hoͤren wollte. 
Von dort ſchrieb er den zweiten Tag an Innſtetten: „Pardon, 
Innſtetten, daß ich mich auf franzoͤſiſch empfohlen. Es kam 
alles ſo ſchnell. Ich werde uͤbrigens die Sache hinauszuſpinnen 


ſuchen, denn man iſt froh, einmal draußen zu fein. Empfehlen 


Sie mich der gnaͤdigen Frau, meiner liebenswuͤrdigen Goͤnnerin.“ 


313 


Er las es Effi vor. Dieſe blieb ruhig. Endlich ſagte = 
„Es iſt recht gut fo.” 

„Wie meinſt du das?“ f i 
„Daß er fort iſt. Er ſagt eigentlich immer dasſelbe. Wenn 
er wieder da iſt, wird er wenigſtens vorübergehend was Neues 

zu ſagen haben.“ 

Innſtettens Blick flog ſcharf uͤber ſie hin. Aber er ſah nichts, 
und ſein Verdacht beruhigte ſich wieder. „Ich will auch fort,“ 
ſagte er nach einer Weile, „ſogar nach Berlin; vielleicht kann 
ich dann, wie Crampas, auch mal was Neues mitbringen. 
Meine liebe Effi will immer gern was Neues hoͤren; ſie lang⸗ 
weilt ſich in unſerm guten Keſſin. Ich werde gegen acht Tage 
fort ſein, vielleicht noch einen Tag laͤnger. Und aͤngſtige dich 
nicht ... es wird ja wohl nicht wiederkommen ... du weißt 
ſchon, das da oben... Und wenn doch, du haft ja Rollo und 
Ros witha.“ 

Effi laͤchelte vor ſich hin, und es miſchte ſich etwas von 
Wehmut mit ein. Sie mußte des Tages gedenken, wo Cram⸗ 
pas ihr zum erſten Male geſagt hatte, daß er mit dem Spuk 
und ihrer Furcht eine Komoͤdie > fpiele. Der große Erzieher! Aber 
hatte er nicht recht? War die Komödie nicht am Platz? Und 
allerhand Widerſtreitendes, Gutes und Boͤſes, ging ihr durch 
den Kopf. 

Den dritten Tag reiſte Innſtetten ab. 

Über das, was er in Berlin vorhabe, hatte er nichts geſagt. 


Einundzwanzigſtes Kapitel 


Innſtetten war erſt vier Tage fort, als Crampas von 
Stettin wieder eintraf und die Nachricht brachte, man haͤtte 
hoͤheren Orts die Abſicht, zwei Schwadronen nach Keſſin zu 
legen, endguͤltig fallen laſſen; es gaͤbe ſo viele kleine Staͤdte, 


314 


die ſich um eine Kavalleriegarniſon, und nun gar um Bluͤcher⸗ 
ſche Huſaren, bewuͤrben, daß man gewohnt ſei, bei ſolchem Ans 
erbieten einem herzlichen Entgegenkommen, aber nicht einem 
4 N zoͤgernden zu begegnen. Als Crampas dies mitteilte, machte 
der Magiſtrat ein ziemlich verlegenes Geſicht; nur Gieshuͤbler, 
weil er der Philiſterei feiner Kollegen eine Niederlage goͤnnte, 
triumphierte. Seitens der kleinen Leute griff beim Bekannt⸗ 
werden der Nachricht eine gewiſſe Verſtimmung Platz, ja ſelbſt 
einige Konſuls mit Töchtern waren momentan unzufrieden; 
im ganzen aber kam man raſch uͤber die Sache hin, vielleicht 
weil die nebenherlaufende Frage, „was Innſtetten in Berlin 
vorhabe“, die Keſſiner Bevoͤlkerung oder doch wenigſtens 
die Honoratiorenſchaft der Stadt mehr intereſſierte. Dieſe 
wollte den überaus wohlgelittenen Landrat nicht gern vers 
lieren, und doch gingen darüber ganz ausſchweifende Gerüchte, 
die von Gieshuͤbler, wenn er nicht ihr Erfinder war, wenigſtens 
genährt und weiterverbreitet wurden. Unter anderem hieß es, 
Innſtetten wuͤrde als Fuͤhrer einer Geſandtſchaft nach Marokko 
gehen, und zwar mit Geſchenken, unter denen nicht bloß 
die herkoͤmmliche Vaſe mit Sansſouci und dem Neuen Palais, 
ſondern vor allem auch eine große Eis maſchine ſei. Das letztere 
erſchien mit Ruͤckſicht auf die marokkaniſchen Temperaturver⸗ 
haͤltniſſe ſo wahrſcheinlich, daß das Ganze geglaubt wurde. 
Effi hoͤrte auch davon. Die Tage, wo ſie ſich daruͤber er⸗ 
heitert haͤtte, lagen noch nicht allzuweit zuruͤck; aber in der 
Seelenſtimmung, in der ſie ſich ſeit Schluß des Jahres befand, 
war ſie nicht mehr faͤhig, unbefangen und ausgelaſſen uͤber 
derlei Dinge zu lachen. Ihre Geſichtszuͤge hatten einen ganz 
anderen Ausdruck angenommen, und das halb ruͤhrend, halb 
ſchelmiſch Kindliche, was fie noch als Frau gehabt hatte, war 
hin. Die Spaziergaͤnge nach dem Strand und der Plantage, 
* die ſie, waͤhrend Crampas in Stettin war, aufgegeben hatte, 
nahm ſie nach ſeiner Ruͤckkehr wieder auf und ließ ſich auch 


315 


durch unguͤnſtige Witterung nicht davon abhalten. Es wurde 


wie früher beſtimmt, daß ihr Roswitha bis an den Ausgang 


der Reeperbahn oder bis in die Nähe des Kirchhofs entgegen⸗ 
kommen ſolle, ſie verfehlten ſich aber noch haͤufiger als fruͤher. 


„Ich koͤnnte dich ſchelten, Roswitha, daß du mich nie findeſt. 


Aber es hat nichts auf ſich; ich aͤngſtige mich nicht mehr, auch 
nicht einmal am Kirchhof, und im Walde bin ich noch keiner 
Menſchenſeele begegnet.“ 

Es war am Tage vor Innſtettens Ruͤckkehr von Berlin, 
daß Effi das ſagte. Roswitha machte nicht viel davon und be⸗ 
ſchaͤftigte ſich lieber damit, Girlanden über den Türen anzu⸗ 
bringen; auch der Haifiſch bekam einen Fichtenzweig und ſah 
noch merkwuͤrdiger aus als gewoͤhnlich. Effi ſagte: „Das 
iſt recht, Roswitha; er wird ſich freuen uͤber all das Gruͤn, 
wenn er morgen wieder da iſt. Ob ich heute wohl noch gehe? 
Doktor Hannemann beſteht darauf und meint in einem fort, 
ich nahme es nicht ernſt genug, ſonſt müßte ich beſſer ausſehen; 
ich habe aber keine rechte Luſt heut, es nieſelt und der Himmel 
iſt fo grau.“ NER 

„Ich werde der gnaͤdgen Frau den Regenmantel bringen.“ 

„Das tu! Aber komme heute nicht nach, wir treffen uns 
ja doch nicht,“ und ſie lachte. „Wirklich, du biſt gar nicht findig, 
Roswitha. Und ich mag nicht, daß du dich erkaͤlteſt und alles 
um nichts.“ 

Roswitha blieb denn auch zu Haus, und weil Annie ſchlief, 
ging ſie zu Kruſes, um mit der Frau zu plaudern. „Liebe Frau 
Kruſe,“ ſagte Sie, „Sie wollten mir ja das mit dem Chineſen 
noch erzaͤhlen. Geſtern kam die Johanna dazwiſchen, die tut 
immer ſo vornehm, fuͤr die iſt ſo was nicht. Ich glaube aber 
doch, daß es was geweſen iſt, ich meine mit dem Chineſen und 
mit Thomſens Nichte, wenn es nicht ſeine Enkelin war.“ 

Die Kruſe nickte. 

„Entweder,“ fuhr Roswitha fort, „war es eine ungluͤckliche 


316 


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ee 
8 


. Siebe (die Kruſe nickte wieder), oder es kann auch eine gluͤckliche 
geweſen ſein und der Chineſe konnte es bloß nicht aushalten, 
daß es alles mit einem Mal ſo wieder vorbei ſein ſollte. Denn 


ebenſo mit ihnen fein wie mit uns.“ 


„Alles,“ verſicherte die Kruſe und wollte dies eben durch 


ihre Geſchichte beſtaͤtigen, als ihr Mann eintrat und ſagte: 


„Mutter, du koͤnnteſt mir die Flaſche mit dem Lederlack geben; 


N ich muß doch das Sielenzeug blank haben, wenn der Herr morgen 
wieder da iſt; der ſieht alles, und wenn er auch nichts ſagt, 
ſo merkt man doch, daß er's geſehen hat.“ 


„Ich bring es Ihnen raus, Kruſe,“ ſagte Roswitha. 
„Ihre Frau will mir bloß noch was erzaͤhlen; aber es is gleich 
aus, und dann komm ich und bring es.“ 

Roswitha, die Flaſche mit dem Lack in der Hand, kam denn 


auch ein paar Minuten danach auf den Hof hinaus und ftellte 


fih neben das Sielenzeug, das Kruſe eben über den Gartens 
zaun gelegt hatte. „Gott,“ ſagte er, während er ihr die Flaſche 
aus der Hand nahm, „viel hilft es ja nicht, es nieſelt in einem 
weg, und die Blaͤnke vergeht doch wieder. Aber ich denke, alles 
muß ſeine Ordnung haben.“ 

„Das muß es. Und dann, Kruſe, es iſt ja doch auch ein 
richtiger Lack, das kann ich gleich ſehen, und was ein richtiger 
Lack iſt, der klebt nicht lange, der muß gleich trocknen. Und 
wenn es dann morgen nebelt oder naß faͤllt, dann ſchadet es 
nich mehr. Aber das muß ich doch ſagen, das mit dem Chineſen 
is eine merkwuͤrdige Geſchichte.“ 

Kruſe lachte. „Unſinn is es, Roswitha. Und meine Frau, 
ſtatt aufs Richtige zu ſehen, erzaͤhlt immer ſo was, un wenn 
ich ein reines Hemd anziehen will, fehlt ein Knopp. Un ſo is 
es nu ſchon ſo lange wir hier ſind. Sie hat immer bloß ſolche 
Geſchichten in ihrem Kopp und dazu das ſchwarze Huhn. Un 
das ſchwarze Huhn legt nich mal Eier. Un am Ende wovon 


317 


ſoll es auch Eier legen? Es kommt ja nich raus und vons 
bloße Kikeriki kann doch ſo was nich kommen. Das is von 
keinem Huhn nich zu verlangen.“ 

„Hoͤren Sie, Kruſe, das werde ich Ihrer Frau wieder er⸗ 
zaͤhlen. Ich habe Sie immer fuͤr einen anſtaͤndigen Menſchen 
gehalten, und nun ſagen Sie ſo was wie das da von Kikeriki. 
Die Mannsleute find doch immer noch ſchlimmer als man 
denkt. Un eigentlich muͤßt ich nu gleich den Pinſel hier nehmen 
und Ihnen einen ſchwarzen Schnurrbart anmalen.“ 

„Nu von Ihnen, Roswitha, kann man ſich das ſchon ge; 
fallen laſſen,“ und Kruſe, der meiſt den Wuͤrdigen ſpielte, 
ſchien in einen mehr und mehr ſchaͤkrigen Ton uͤbergehen zu 
wollen, als er ploͤtzlich der gnaͤdigen Frau anſichtig wurde, 
die heute von der anderen Seite der Plantage herkam und in 
ebendieſem Augenblicke den Gartenzaun paſſierte. 

„Guten Tag, Roswitha, du biſt ja ſo ausgelaſſen. Was 
macht denn Annie?“ 

„Sie ſchlaͤft, gnaͤdge Frau.“ 

Aber Roswitha, als ſie das ſagte, war doch rot geworden 
und ging, raſch abbrechend, auf das Haus zu, um der gnaͤdigen 
Frau beim Umkleiden behilflich zu ſein. Denn ob Johanna da 
war, das war die Frage. Die ſteckte jetzt viel auf dem ‚Amt‘ 
druͤben, weil es zu Haus weniger zu tun gab, und Friedrich und 
Chriſtel waren ihr zu langweilig und wußten nie was. 

Annie ſchlief noch. Effi beugte ſich uͤber die Wiege, ließ 
ſich dann Hut und Regenmantel abnehmen und ſetz auf 
das kleine Sofa in ihrer Schlafſtube. Das feuchte Haar ſtrich 
ſie langſam zuruͤck, legte die Fuͤße auf einen niedrigen Stuhl, den 
Roswitha herangeſchoben, und ſagte, waͤhrend ſie ſichtlich das 
Ruhebehagen nach einem ziemlich langen Spaziergange genoß: 
„Ich muß dich darauf aufmerkſam machen, Roswitha, daß 
Kruſe verheiratet iſt.“ 

„Ich weiß, gnaͤdge Frau.“ 


318 


6+ͤà—— — 
. * 


Ja, was weiß man nicht alles und handelt doch, als ob 
man es nicht wüßte. Das kann nie was werden.“ 
es ſoll ja auch nichts werden, gnaͤdge Frau.“ 
„„denn wenn du denkſt, fie ſei krank, da machſt du die 
Rechnung ohne den Wirt. Die Kranken leben am laͤngſten. 
Und dann hat ſie das ſchwarze Huhn. Vor dem huͤte dich, 
das weiß alles und plaudert alles aus. Ich weiß nicht, ich 
habe einen Schauder davor. Und ich wette, daß das alles da 
oben mit dem Huhn zuſammenhängt.“ 
VUAch, das glaub ich nicht. Aber ſchrecklich iſt es doch. Und Kruſe, 
der immer gegen ſeine Frau iſt, kann es mir nicht ausreden.“ 
ö „Was ſagte der?“ 
„Er ſagte, es ſeien bloß Maͤuſe.“ 
„Nun, Maͤuſe, das iſt auch gerade ſchlimm genug. Ich kann 
keine Maͤuſe leiden. Aber ich ſah ja deutlich, wie du mit dem 
Kruſe ſchwatzteſt und vertraulich tateſt, und ich glaube ſogar, 
du wollteſt ihm einen Schnurrbart anmalen. Das iſt doch ſchon 
ſehr viel. Und nachher ſitzeſt du da. Du biſt ja noch eine ſchmucke 
Perſon und haſt ſo was. Aber ſieh dich vor, ſoviel kann ich dir 
bloß ſagen. Wie war es denn eigentlich das erſtemal mit dir? 
Iſt es fo, daß du mir's erzählen kannſt?“ 
Ach, ich kann ſchon. Aber ſchrecklich war es. Und weil 
es ſo ſchrecklich war, drum koͤnnen gnaͤdge Frau auch ganz 
ruhig ſein, von wegen dem Kruſe. Wem es ſo gegangen iſt wie 
mir, der hat genug davon und paßt auf. Mitunter traͤume ich 
noch davon, und dann bin ich den andern Tag wie zerſchlagen. 
Solche grauſame Angſt ...“ 
5 Effi hatte ſich aufgerichtet und ſtuͤtzte den Kopf auf ihren Arm. 
„Nun erzaͤhle. Wie kann es denn geweſen ſein? Es iſt ja mit ku 
das weiß ich noch von Haufe her, immer dieſelbe Geſchichte ...“ 
x „Ja, zuerſt is es wohl immer dasſelbe, und ich will mir 
8 auch nicht einbilden, daß es mit mir was Beſonderes war, 
ganz und gar nicht. Aber wie ſie's mir dann auf den Kopf 


7 


319 


zuſagten und ich mit einem Male fagen mußte: ‚ja, es iſt fo,‘ 
ja, das war ſchrecklich. Die Mutter, na, das ging noch, aber 
der Vater, der die Dorfſchmiede hatte, der war ſtreng und 
wuͤtend, und als er's hoͤrte, da kam er mit einer Stange auf 
mich los, die er eben aus dem Feuer genommen hatte, und wollte 
mich umbringen. Und ich ſchrie laut auf und lief auf den Boden 
und verſteckte mich, und da lag ich und zitterte und kam erſt 
wieder nach unten, als ſie mich riefen und ſagten, ich ſolle nur 
kommen. Und dann hatte ich noch eine juͤngere Schweſter, 
die wies immer auf mich hin und ſagte „Pfui!. Und dann, 
wie das Kind kommen ſollte, ging ich in eine Scheune nebenan, 
weil ich mir's bei uns nicht getraute. Da fanden mich fremde 
Leute halb tot und trugen mich ins Haus und in mein Bett. 
Und den dritten Tag nahmen ſie mir das Kind fort, und als 
ich nachher fragte, wo es ſei, da hieß es, es ſei gut aufgehoben. 
Ach, gnaͤdigſte Frau, die heilge Mutter Gottes bewahre Sie 
vor ſolchem Elend.“ 

Effi fuhr auf und ſah Roswitha mit großen Augen an. 
Aber ſie war doch mehr erſchrocken als empoͤrt. „Was du nur 
ſprichſt! Ich bin ja doch eine verheiratete Frau. So was darfſt 
du nicht ſagen, das iſt ungehörig, das paßt ſich nicht.“ 

„Ach, gnaͤdigſte Frau 

„Erzaͤhle mir lieber, was 8 dir 8 Das Kind hatten 
fie dir genommen. Soweit warſt du...“ 

„Und dann, nach ein paar Tagen, da kam wer aus Erfurt, 4 
der fuhr bei dem Schulzen vor und fragte: ‚ob da nicht eine 
Amme ſei“. Da ſagte der Schulze ‚ja‘. Gott lohne es ihm, 
und der fremde Herr nahm mich gleich mit, und von da an hab 
ich beſſre Tage gehabt; ſelbſt bei der Regiſtratorin war es 
doch immer noch zum Aushalten, und zuletzt bin ich zu Ihnen 
gekommen, gnaͤdige Frau. Und das war das Beſte, das Aller⸗ 
beſte.“ Und als ſie das ſagte, trat ſie an das Sofa heran und 
kuͤßte Effi die Hand. 


320 


Roswitha, du mußt mir nicht immer die Hand küffen, 
ich mag das nicht. Und nimm dich nur in acht mit dem Kruſe. 
Diu biſt doch ſonſt eine fo gute und verſtaͤndige Perſon ... Mit 
einem Ehemanne .. das tut nie gut.“ 

„Ach, gnaͤdge Frau, Gott und ſeine Heiligen fuͤhren uns 
wunderbar, und das Ungluͤck, das uns trifft, das hat doch auch 
ſein Gluͤck. Und wen es nicht beſſert, dem is nich zu helfen 
Ich kann eigentlich die Mannsleute gut leiden ...“ 

„Siehſt du, Roswitha, ſiehſt du.“ f 

„Aber wenn es mal wieder ſo uͤber mich kaͤme, mit dem 
Kruſe, das is ja nichts, und ich koͤnnte nicht mehr anders, da 
lief ich gleich ins Waſſer. Es war zu ſchrecklich. Alles. Und 
was nur aus dem armen Wurm geworden is? Ich glaube 
nicht, daß es noch lebt; ſie haben es umkommen laſſen, aber ich 
bin doch ſchuld.“ Und ſie warf ſich vor Annies Wiege nieder 
und wiegte das Kind hin und her und ſang in einem fort ihr 
„Buhkuͤken von Halberſtadt“. 

5 „Laß,“ ſagte Effi. „Singe nicht mehr; ich habe Kopfweh. 
Aber bringe mir die Zeitungen. Oder hat Gieshuͤbler vielleicht 
die Journale geſchickt?“ f 

D das hat er. Und die Modezeitung lag obenauf. Da 
haben wir drin geblaͤttert, ich und Johanna, eh ſie ruͤber 
ging. Johanna aͤrgert ſich immer, daß ſie ſo was nicht haben 
kann. Soll ich die Modezeitung bringen?“ 

„Ja, die bringe und bring auch die Lampe.“ 

Roswitha ging, und Effi, als ſie allein war, ſagte: „Womit 
man ſich nicht alles hilft? Eine huͤbſche Dame mit einem Muff 
und eine mit einem Halbſchleier; Modepuppen. Aber es iſt das 
Beſte, mich auf andere Gedanken zu bringen.“ 


WE 
EEE 


Im Laufe des andern Vormittags kam ein Telegramm 
von Innſtetten, worin er mitteilte, daß er erſt mit dem zweiten 


Zuge kommen, alſo nicht vor Abend in Keſſin eintreffen werde. 


IV ar 321 


Der Tag verging in ewiger Unruhe; gluͤcklicherweiſe kam Gies⸗ 
huͤbler im Laufe des Nachmittags und half uͤber eine Stunde 
weg. Endlich um ſieben Uhr fuhr der Wagen vor, Effi trat 
hinaus und man begruͤßte ſich. Innſtetten war in einer ihm 
ſonſt fremden Erregung, und ſo kam es, daß er die Verlegenheit 
nicht ſah, die ſich in Effis Herzlichkeit miſchte. Drinnen im Flur 
brannten die Lampen und Lichter, und das Teezeug, das 
Friedrich ſchon auf einen der zwiſchen den Schraͤnken ſtehenden 
Tiſche geſtellt hatte, reflektierte den Lichterglanz. 

„Das ſieht ja ganz ſo aus wie damals, als wir hier ankamen. 
Weißt du noch, Effi?“ 

Sie nickte. 

„Nur der Haifiſch mit feinem Fichtenzweig verhaͤlt ſich 
heute ruhiger, und auch Rollo ſpielt den Zuruͤckhaltenden und 
legt mir nicht mehr die Pfoten auf die Schulter. Was iſt das 
mit dir, Rollo?“ 

Rollo ſtrich an ſeinem Herrn vorbei und wedelte. 

„Der iſt nicht recht zufrieden, entweder mit mir nicht oder 
mit andern. Nun, ich will annehmen, mit mir. Jedenfalls 
laß uns eintreten.“ Und er trat in fein Zimmer und bat Effi, 
waͤhrend er ſich aufs Sofa niederließ, neben ihm Platz zu 
nehmen. „Es war ſo huͤbſch in Berlin, uͤber Erwarten; aber 
in all meiner Freude habe ich mich immer zuruͤckgeſehnt. Und 
wie gut du ausſiehſt! Ein bißchen blaß und auch ein bißchen 
veraͤndert, aber es kleidet dich.“ 

Effi wurde rot. 

„Und nun wirſt du auch noch rot. Aber es iſt, wie ich dir 
ſage. Du hatteſt ſo was von einem verwoͤhnten Kind, ui einem 
Male fiehft du aus wie eine Frau.“ 

„Das hoͤr ich gern, Geert, aber ich glaube, du 5 es 
nur ſo.“ 

„Nein, nein, du kannſt es dir gutſchreiben, wenn es etwas 
Gutes iſt ...“ 


322 


„Ich daͤchte doch.“ 
„Und nun rate, von wem ich dir Gruͤße bringe.“ 
„Das iſt nicht ſchwer, Geert. Außerdem, wir Frauen, zu 


denen ich mich, ſeitdem du wieder da biſt, ja rechnen darf 


(und ſie reichte ihm die Hand und lachte), wir Frauen, wir 
raten leicht. Wir ſind nicht ſo ſchwerfaͤllig wie ihr.“ 

„Nun von wem?“ 

„Nun natuͤrlich von Vetter Brieſt. Er iſt ja der einzige, 
den ich in Berlin kenne, die Tanten abgerechnet, die du nicht 
aufgeſucht haben wirſt und die viel zu neidiſch ſind, um mich 
gruͤßen zu laſſen. Haſt du nicht auch gefunden, alle alten Tanten 
ſind neidiſch?“ 

„Ja, Effi, das iſt wahr. Und daß du das ſagſt, das iſt ganz 
meine alte Effi wieder. Denn du mußt wiſſen, die alte Effi, 


die noch ausſah wie ein Kind, nun, die war auch nach meinem 


Geſchmack. Grad ſo wie die jetzige gnaͤdge Frau.“ 

„Meinſt du? Und wenn du dich zwiſchen beiden entſcheiden 
ſollteſt ...“ 

„Das iſt eine Doktorfrage, darauf laſſe ich mich nicht ein. 
Aber da bringt Friedrich den Tee. Wie hat's mich nach dieſer 
Stunde verlangt! Und hab es auch ausgeſprochen, ſogar zu 
deinem Vetter Brieſt, als wir bei Dreſſel ſaßen und in Cham⸗ 
pagner dein Wohl tranken ... Die Ohren muͤſſen dir ge⸗ 
Hungen haben... Und weißt du, was dein Vetter dabei 
ſagte?“ 

„Gewiß etwas Albernes. Darin iſt er groß.“ 

„Das iſt der ſchwaͤrzeſte Undank, den ich all mein Lebtag 
erlebt habe. ‚Laffen wir Effi leben, ſagte er, meine ſchoͤne 
Couſine .. Wiſſen Sie, Innſtetten, daß ich Sie am liebſten 
fordern und totſchießen moͤchte? Denn Effi iſt ein Engel, 
und Sie haben mich um dieſen Engel gebracht. Und dabei 
ſah er ſo ernſt und wehmuͤtig aus, daß man's beinah haͤtte 


glauben koͤnnen.“ 


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1 2 FR 5 
4 3 1 


„O, dieſe Stimmung kenn ich an ihm. Bei der wievielten 
wart ihr?“ f 

„Ich hab es nicht mehr gegenwaͤrtig, und vielleicht haͤtte 
ich es auch damals nicht mehr ſagen koͤnnen. Aber das glaub 
ich, daß es ihm ganz ernſt war. Und vielleicht waͤre es auch das 
Richtige geweſen. Glaubſt du nicht, daß du mit ihm haͤtteſt 
leben koͤnnen?“ 


„Leben koͤnnen? Das iſt wenig, Geert. Aber beinah moͤcht 


ich ſagen, ich haͤtte auch nicht einmal mit ihm leben koͤnnen.“ 

„Warum nicht? Er iſt wirklich ein liebenswuͤrdiger und 
netter Menſch und auch ganz geſcheit.“ 

„Ja, das iſt er...” 

Der..." 

„Aber er ift dalbrig. Und das ift keine Eigenſchaft, die wir 
Frauen lieben, auch nicht einmal dann, wenn wir noch halbe 
Kinder ſind, wohin du mich immer gerechnet haſt und vielleicht, 
trotz meiner Fortſchritte, auch jetzt noch rechneſt. Das Dalbrige, 
das iſt nicht unſere Sache. Maͤnner muͤſſen Maͤnner ſein.“ 

„Gut, daß du das ſagſt. Alle Teufel, da muß man ſich ja 
zuſammennehmen. Und ich kann von Gluͤck ſagen, daß ich 
von ſo was, das wie Zuſammennehmen ausſieht oder wenig⸗ 
ſtens ein Zuſammennehmen in Zukunft fordert, ſo gut wie 
direkt herkomme ... Sage, wie denkſt du dir ein Miniſterium?“ 

„Ein Miniſterium? Nun, das kann zweierlei ſein. Es 
koͤnnen Menſchen ſein, kluge, vornehme Herren, die den Staat 


regieren, und es kann auch bloß ein Haus ſein, ein Palazzo, 


ein Palazzo Strozzi oder Pitti oder, wenn die nicht paſſen, 
irgendein anderer. Du ſiehſt, ich habe meine italieniſche Reiſe 
nicht umſonſt gemacht.“ — 

„Und koͤnnteſt du dich entſchließen, in ſolchem Palazzo zu 
wohnen? Ich meine in ſolchem Miniſterium?“ 

„Um Gottes willen, Geert, ſie haben dich doch nicht zum 
Miniſter gemacht? Gieshuͤbler ſagte ſo was. Und der Fuͤrſt 


324 


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* 


4 kann alles. Gott, der hat es am Ende durchgeſetzt, und ich bin 
erſt achtzehn.“ 


Innſtetten lachte. „Nein, Effi, nicht Miniſter, ſoweit ſind 


wir noch nicht. Aber vielleicht kommen noch allerhand Gaben 
in mir heraus, und dann iſt es nicht unmoͤglich.“ 


„Alſo jetzt noch nicht, noch nicht Miniſter?“ 
„Nein. Und wir werden, die Wahrheit zu ſagen, auch nicht 
einmal in einem Miniſterium wohnen, aber ich werde taͤglich ins 


2 Miniſterium gehen, wie ich jetzt in unſer Landratsamt gehe, 
und werde dem Miniſter Vortrag halten und mit ihm reiſen, 


wenn er die Provinzialbehoͤrden inſpiziert. Und du wirſt eine 


Miniſterialraͤtin ſein und in Berlin leben, und in einem halben 


Jahre wirſt du kaum noch wiſſen, daß du hier in Keſſin geweſen 
biſt und nichts gehabt haſt als Gieshuͤbler und die Duͤnen und 
die Plantage.“ 

Effi ſagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer 
groͤßer; um ihre Mundwinkel war ein nervoͤſes Zucken, und ihr 


ganzer zarter Koͤrper zitterte. Mit einem Male aber glitt ſie von 


ihrem Sitze vor Innſtetten nieder, umklammerte ſeine Knie und 
ſagte in einem Tone, wie wenn fie betete: „Gott ſei Dank!“ 
Innſtetten verfaͤrbte ſich. Was war das? Etwas, was 


ſeit Wochen fluͤchtig, aber doch immer ſich erneuernd uͤber ihn 


kam, war wieder da und ſprach ſo deutlich aus ſeinem Auge, 
daß Effi davor erſchrak. Sie hatte ſich durch ein ſchoͤnes Gefuͤhl, 
das nicht viel was andres als ein Bekenntnis ihrer Schuld 
war, hinreißen laſſen und dabei mehr geſagt, als ſie ſagen durfte. 
Sie mußte das wieder ausgleichen, mußte was finden, irgend⸗ 
einen Ausweg, es koſte, was es wolle. 

„Steh auf, Effi. Was haſt du?“ 

Effi erhob ſich raſch. Aber ſie nahm ihren Platz auf dem 
Sofa nicht wieder ein, ſondern ſchob einen Stuhl mit hoher 
Lehne heran, augenſcheinlich, weil ſie nicht 1 genug fuͤhlte, 


ſich ohne Stuͤtze zu halten. 


325 


— ** 


„Was haſt du?“ wiederholte Innſtetten. „Ich dachte, du 
haͤtteſt hier gluͤckliche Tage verlebt. Und nun rufſt du „Gott 
fei Dank', als ob dir hier alles nur ein Schrecknis geweſen 
waͤre. War ich dir ein Schrecknis? Oder war es was andres? 
Sprich?“ 

„Daß du noch fragen kannſt, Geert,“ ſagte ſie, waͤhrend 
fie mit einer aͤußerſten Anſtrengung das Zittern ihrer Stimme 
zu bezwingen ſuchte. „Gluͤckliche Tage! Ja, gewiß, gluͤckliche 
Tage, aber doch auch andre. Nie bin ich die Angſt hier ganz 
los geworden, nie. Noch keine vierzehn Tage, daß es mir wieder 
uͤber die Schulter ſah, dasſelbe Geſicht, derſelbe fahle Teint. 
Und dieſe letzten Naͤchte, wo du fort warſt, war es auch wieder 
da, nicht das Geſicht, aber es ſchlurrte wieder, und Rollo 
ſchlug wieder an, und Roswitha, die's auch gehoͤrt, kam an 
mein Bett und ſetzte ſich zu mir, und erſt, als es ſchon daͤm⸗ 
merte, ſchliefen wir wieder ein. Es iſt ein Spukhaus, und ich 
hab es auch glauben ſollen, das mit dem Spuk, — denn du 
biſt ein Erzieher. Ja, Geert, das biſt du. Aber laß es ſein, 
wie's will, ſoviel weiß ich, ich habe mich ein ganzes Jahr lang 
und laͤnger in dieſem Hauſe gefuͤrchtet, und wenn ich von hier 
fortkomme, ſo wird es, denk ich, von mir abfallen, > ich 
werde wieder frei ſein.“ 

Innſtetten hatte kein Auge von ihr gelaſſen und war jedem 
Worte gefolgt. Was ſollte das heißen: „du biſt ein Erzieher?“ 
und dann das andere, was vorausging: „und ich hab es auch 
glauben ſollen, das mit dem Spuk.“ Was war das alles? 
Wo kam das her? Und er fuͤhlte ſeinen leiſen Argwohn ſich 
wieder regen und feſter einniſten. Aber er hatte lange ge⸗ 
nug gelebt, um zu wiſſen, daß alle Zeichen truͤgen, und daß 
wir in unſrer Eiferſucht, trotz ihrer hundert Augen, oft noch 
mehr in die Irre gehen, als in der Blindheit unſres Ver⸗ 
trauens. Es konnte ja ſo ſein, wie ſie ſagte. Und wenn es ſo 
war, warum ſollte ſie nicht ausrufen: „Gott ſei Dank!“ 


326 


— 


TEEN TE 


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Und fo, raſch alle Möglichkeiten ins Auge fallend, wurde 
er feines Argwohns wieder Herr und reichte ihr die Hand 
uͤber den Tiſch hin: „Verzeih mir, Effi, aber ich war fo ſehr 
uͤberraſcht von dem allen. Freilich wohl meine Schuld. Ich 
bin immer zu ſehr mit mir beſchaͤftigt geweſen. Wir Maͤnner 
ſind alle Egoiſten. Aber das ſoll nun anders werden. Ein 
Gutes hat Berlin gewiß: Spukhaͤuſer gibt es da nicht. Wo 
ſollen die auch herkommen? Und nun laß uns hinubergehen, 
daß ich Annie ſehe; Roswitha verklagt mich ſonſt als einen 
unzaͤrtlichen Vater.“ 

Effi war unter dieſen Worten allmaͤhlich ruhiger geworden, 
und das Gefuͤhl, aus einer ſelbſtgeſchaffenen Gefahr ſich gluͤck⸗ 
lich befreit zu haben, gab ihr ihre Spannkraft und gute Haltung 
wieder zuruͤck. Br 


Zweiundzwanzigſtes Kapitel 


Am andern Morgen nahmen beide gemeinſchaftlich ihr 
etwas verſpaͤtetes Fruͤhſtuͤck. Innſtetten hatte ſeine Miß⸗ 
ſtimmung und Schlimmeres uͤberwunden, und Effi lebte ſo 
ganz dem Gefuͤhl ihrer Befreiung, daß ſie nicht bloß die Faͤhig⸗ 
keit einer gewiſſen erkuͤnſtelten guten Laune, ſondern faſt auch 
ihre fruͤhere Unbefangenheit wiedergewonnen hatte. Sie war 
noch in Keſſin, und doch war ihr ſchon zumute, als laͤge es weit 
hinter ihr. 

. „Ich habe mir's uͤberlegt, Effi,“ ſagte Innſtetten, „du 
haſt nicht fo ganz unrecht mit allem, was du gegen unſer Haus 
hier geſagt haſt. Fuͤr Kapitaͤn Thomſen war es gerade gut 
genug, aber nicht fuͤr eine junge, verwoͤhnte Frau; alles alt⸗ 
modiſch, kein Platz. Da follft du's in Berlin beffer haben, auch 
einen Saal, aber einen andern als hier, und auf Flur und 
Treppe hohe bunte Glasfenſter, Kaiſer Wilhelm mit Zepter 


327 


und Krone oder auch was Kirchliches, heilige Eliſabeth oder 
Jungfrau Maria. Sagen wir Jungfrau Maria, das ſind wir 
Roswitha ſchuldig.“ 

Effi lachte. „So ſoll es ſein. Aber wer ſucht uns eine Woh⸗ 
nung? Ich kann doch nicht Vetter Brieſt auf die Suche ſchicken. 
Oder gar die Tanten! Die finden alles gut genug.“ 

„Ja, das Wohnungſuchen. Das macht einem keiner zu 
Dank. Ich denke, da mußt du ſelber hin.“ 

„Und wann meinſt du?“ 

„Mitte März.“ | 

„O, das iſt viel zu ſpaͤt, Geert, dann iſt ja alles fort. Die 
guten Wohnungen werden ſchwerlich auf uns warten!“ 

„Iſt ſchon recht. Aber ich bin erſt ſeit geſtern wieder hier 
und kann doch nicht fagen ‚reife morgen‘, Das würde mich 
ſchlecht kleiden und paßte mir auch wenig; ich bin froh, daß ich 
dich wieder habe.“ 

„Nein,“ ſagte ſie, waͤhrend ſie das Kaffeegeſchirr, um eine 
aufſteigende Verlegenheit zu verbergen, ziemlich geraͤuſchvoll 
zuſammenruͤckte, „nein, ſo ſoll's auch nicht ſein, nicht heut und 
nicht morgen, aber doch in den naͤchſten Tagen. Und wenn 
ich etwas finde, ſo bin ich raſch wieder zuruͤck. Aber noch eins, 
Roswitha und Annie muͤſſen mit. Am ſchoͤnſten waͤr es, du 
auch. Aber ich ſehe ein, das geht nicht. Und ich denke, die 
Trennung ſoll nicht lange dauern. Ich weiß auch ſchon, wo ich 
miete.“ 

„Nun?“ 

„Das bleibt mein Geheimnis. Ich will auch ein Geheimnis 
haben. Damit will ich dich dann uͤberraſchen.“ 

In dieſem Augenblick trat Friedrich ein, um die Poſtſachen 
abzugeben. Das meiſte war Dienſtliches und Zeitungen. „Ah, 
da iſt auch ein Brief fuͤr dich,“ ſagte Innſtetten. „Und wenn 
ich nicht irre, die Handſchrift der Mama.“ 

Effi nahm den Brief. „Ja, von der Mama. Aber das ifl 


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8 ja nicht der Frieſacker Poſtſtempel; ſieh nur, das heißt ja deut⸗ 
lich Berlin.“ 


„Freilich,“ lachte Innſtetten. „Du tuſt, als ob es ein Wun⸗ 


der ware. Die Mama wird in Berlin fein und hat ihrem Lieb⸗ 
lung von ihrem Hotel aus einen Brief geſchrieben.“ 


„Ja,“ ſagte Effi, „ſo wird es ſein. Aber ich aͤngſtige mich 


ö doch beinah und kann keinen rechten Troſt darin finden, daß 
Hulda Niemeyer immer ſagte: wenn man ſich aͤngſtigt, iſt es 


beſſer, als wenn man hofft. Was meinſt du dazu?“ 

„Fuͤr eine Paſtorstochter nicht ganz auf der Hoͤhe. Aber 
nun lies den Brief. Hier iſt ein Papiermeſſer.“ 

Effi ſchnitt das Kuvert auf und las: Meine liebe Effi. 
Seit 24 Stunden bin ich hier in Berlin; Konſultationen bei 
Schweigger. Als er mich ſieht, begluͤckwuͤnſcht er mich, und als 
ich erſtaunt ihn frage, wozu, erfahr ich, daß Miniſterialdirektor 


2 Wuͤllersdorf eben bei ihm geweſen und ihm erzählt habe: Inn⸗ 


ſtetten ſei ins Miniſterium berufen. Ich bin ein wenig aͤrgerlich, 


daß man dergleichen von einem Dritten erfahren muß. Aber 


in meinem Stolz und meiner Freude ſei Euch verziehen. Ich 
habe es uͤbrigens immer gewußt (ſchon als J. noch bei den 
Rathenowern war), daß etwas aus ihm werden wuͤrde. Nun 
kommt es Dir zugute. Naturlich müßt Ihr eine Wohnung 
haben und eine andere Einrichtung. Wenn Du, meine liebe 
Effi, glaubſt, meines Rates dabei beduͤrfen zu koͤnnen, ſo 
komme, ſo raſch es Dir Deine Zeit erlaubt. Ich bleibe acht Tage 
hier in Kur, und wenn es nicht anſchlaͤgt, vielleicht noch etwas 
länger; Schweigger druͤckt ſich unbeſtimmt darüber aus. Ich 
habe eine Privatwohnung in der Schadowſtraße genommen; 


neben dem meinigen ſind noch Zimmer frei. Was es mit 


meinem Auge iſt, daruͤber muͤndlich; vorlaͤufig beſchaͤftigt mich 
nur Eure Zukunft. Brieſt wird unendlich gluͤcklich ſein, er tut 
immer ſo gleichguͤltig gegen dergleichen, eigentlich haͤngt er 
aber mehr daran als ich. Gruͤße Innſtetten, kuͤſſe Annie, die 


329 


Du vielleicht mitbringſt. Wie immer Deine Dich zärtlich liebende 
Mutter Luiſe von B. 

Effi legte den Brief aus der Hand und ſagte nichts. Was 
ſie zu tun habe, das ſtand bei ihr feſt; aber ſie wollte es nicht 
ſelber ausſprechen, Innſtetten ſollte damit kommen, und dann 
wollte ſie zoͤgernd ja ſagen. 

Innſtetten ging auch wirklich in die Falle. „Nun, Effi, 
du bleibſt ſo ruhig.“ 

„Ach, Geert, es hat alles ſo ſeine zwei Seiten. Auf der 
einen Seite begluͤckt es mich, die Mama wiederzuſehen, und 
vielleicht ſogar ſchon in wenig Tagen. Aber es ſpricht auch ſo 
vieles dagegen.“ 

„Was?“ 

„Die Mama, wie du weißt, iſt ſehr beſtimmt und kennt 
nur ihren eigenen Willen. Dem Papa gegenuͤber hat ſie alles 
durchſetzen koͤnnen. Aber ich moͤchte gern eine Wohnung haben, 
die nach meinem Geſchmack iſt, und eine neue Einrichtung, 
die mir gefaͤllt.“ 

Innſtetten lachte. „Und das iſt alles?“ 

„Nun, es waͤre gerade genug. Aber es iſt nicht alles.“ 
Und nun nahm ſie ſich zuſammen und ſah ihn an und ſagte: 
„Und dann, Geert, ich moͤchte nicht gleich wieder von dir fort.“ 

„Schelm, das ſagſt du ſo, weil du meine Schwaͤche kennſt. 
Aber wir ſind alle ſo eitel, und ich will es glauben. Ich will es 
glauben und doch zugleich auch den Heroiſchen ſpielen, den Ent⸗ 
ſagenden. Reiſe, ſobald du's fuͤr noͤtig haͤltſt und vor deinem 
Herzen verantworten kannſt.“ 


„So darfſt du nicht ſprechen, Geert. Was heißt das vor | 


meinem Herzen verantworten“. Damit ſchiebſt du mir, halb 
gewaltſam, eine Zaͤrtlichkeitsrolle zu, und ich muß dir dann 
aus reiner Koketterie ſagen: „Ach, Geert, dann reife ich nie.“ 
Oder doch ſo etwas Ahnliches.“ 

Innſtetten drohte ihr mit dem Finger. „Effi, du biſt mir 


330 


Ep 


zu fein. Ich dachte immer, du waͤrſt ein Kind, und ſehe nun, 


daß du das Maß haſt wie alle andern. Aber laſſen wir das, 


oder wie dein Papa immer ſagte: ‚das iſt ein zu weites Feld“. 
Sage lieber, wann willſt du fort?“ 


„Heute haben wir Dienstag. Sagen wir alſo Freitag mittag 
mit dem Schiff. Dann bin ich am Abend in Berlin.“ 

„Abgemacht. Und wann zuruͤck?“ 

„Nun, ſagen wir Montag abend. Das ſind dann drei 
Tage.“ 

„Geht nicht. Das iſt zu fruͤh. In drei Tagen kannſt du's 


nicht zwingen. Und ſo raſch laͤßt dich die Mama auch nicht 


Port.“ 

„Alſo auf Diskretion.“ 

„Gut.“ 

Und damit erhob ſich Innſtetten, um nach dem Landrats⸗ 
amte hinuͤberzugehen. 


Die Tage bis zur Abreiſe vergingen wie im Fluge. Ros⸗ 


witha war ſehr gluͤcklich. „Ach, gnaͤdigſte Frau, Keſſin, nun 


ja . . „aber Berlin iſt es nicht. Und die Pferdebahn. Und wenn 
es dann ſo klingelt und man nicht weiß, ob man links oder rechts 
ſoll, und mitunter iſt mir ſchon geweſen, als ginge alles grad 
uͤber mich weg. Nein, ſo was iſt hier nicht. Ich glaube, manchen 
Tag ſehen wir keine ſechs Menſchen. Und immer bloß die 
Duͤnen und draußen die See. Und das rauſcht und rauſcht, aber 
weiter iſt es auch nichts.“ 

„Ja, Roswitha, du haſt recht. Es rauſcht und rauſcht 
immer, aber es iſt kein richtiges Leben. Und dann kommen 


einem allerhand dumme Gedanken. Das kannſt du doch nicht 


beſtreiten, das mit dem au war nicht in der Richtigkeit.“ 
„Ach, gnaͤdigſte Frau ...“ 
„Nun, ich will nicht weiter nachforſchen. Du wirst es na⸗ 


| kuͤrlich nicht zugeben. Und nimm nur nicht zu wenig Sachen 


331 


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N 8 


mit. Deine Sachen kannſt du eigentlich ganz mitnehmen und 
Annies auch.“ 

„Ich denke, wir kommen noch mal wieder.“ 

„Ja, ich. Der Herr wuͤnſcht es. Aber ihr koͤnnt vielleicht 
dableiben, bei meiner Mutter. Sorge nur, daß ſie Anniechen 
nicht zu ſehr . Gegen mich war ſie mitunter ſtreng, 
aber ein Enkelkind. 

„Und dann iſt Anniethen ja auch ſo zum Anbeißen. Da 
muß ja jeder zaͤrtlich ſein.“ 

Das war am Donnerstag, am Tage vor der Abreife. 
Innſtetten war uͤber Land gefahren und wurde erſt gegen 


Abend zuruͤckerwartet. Am Nachmittag ging Effi in die Stadt, 


bis auf den Marktplatz, und trat hier in die Apotheke und bat 
um eine Flaſche Sal volatile. „Man weiß nie, mit wem man 
reift,” ſagte fie zu dem alten Gehilfen, mit dem fie auf dem 
Plauderfuße ſtand und der fie anſchwaͤrmte wie Gies huͤbler 
ſelbſt. 

„Iſt der Herr Doktor zu Hauſe?“ fragte ſie weiter, als ſie 
das Flaͤſchchen eingeſteckt hatte. 


„Gewiß, gnaͤdigſte Frau; er iſt hier nebenan und lieſt die 


Zeitungen.“ 

„Ich werde ihn doch nicht ſtoͤren?“ 

„O, nie.“ 

Und Effi trat ein. Es war eine kleine, hohe Stube, mit 
Regalen rings herum, auf denen allerlei Kolben und Re⸗ 
torten ſtanden; nur an der einen Wand befanden ſich alpha⸗ 
betiſch geordnete, vorn mit einem Eiſenringe verſehene Kaͤſten, 
in denen die Rezepte lagen. 

Gieshuͤbler war begluͤckt und verlegen. „Welche Ehre. 
Hier unter meinen Retorten. Darf ich die gnaͤdige Frau auf⸗ 
fordern, einen Augenblick Platz zu nehmen?“ 


„Gewiß, lieber Gieshuͤbler. Aber auch wirklich nur einen 


Augenblick. Ich will Ihnen Adieu ſagen.“ 
332 


3 


„Huber meine gnadigſte Frau, Sie kommen ja doch wieder. 
Ich habe gehört, nur auf drei, vier Tage ...“ 

W Ja, lieber Freund, ich ſoll wiederkommen, und es iſt fogar 
verabredet, daß ich ſpaͤteſtens in einer Woche wieder in Keſſin 
bin. Aber ich koͤnnte doch auch nicht wiederkommen. Muß 
ich Ihnen ſagen, welche tauſend Möglichkeiten es gibt... 
Ich ſehe, Sie wollen mir ſagen, daß ich noch zu jung fe... 
auch Junge können ſterben. Und dann fo vieles andre noch. 
Und da will ich doch lieber Abſchied nehmen von Ihnen, als 
waͤr es für immer.“ 

„Aber meine gnaͤdigſte Frau ...“ 

„Als wär es für immer. Und ich will Ihnen danken, 
lieber Gies huͤbler. Denn Sie waren das Beſte hier; natürlich, 
weil Sie der Beſte waren. Und wenn ich hundert Jahr alt 
wuͤrde, fo werde ich Sie nicht vergeſſen. Ich habe mich hier 
mitunter einſam gefuͤhlt, und mitunter war mir ſo ſchwer 
ums Herz, ſchwerer als Sie wiſſen koͤnnen; ich habe es nicht 
immer richtig eingerichtet; aber wenn ich Sie geſehen habe, 
vom erſten Tage an, dann habe ich mich immer wohler gefuͤhlt 
und auch beſſer.“ 

„Aber meine gnaͤdigſte Frau.“ 

„ uUnd dafur wollte ich Ihnen danken. Ich habe mir eben 
ein Flaͤſchchen mit Sal volatile gekauft; im Coupe find mit⸗ 
unter ſo merkwuͤrdige Menſchen und wollen einem nicht mal 
erlauben, daß man ein Fenſter aufmacht; und wenn mir dann 
vielleicht — denn es ſteigt einem ja ordentlich zu Kopf, ich meine 
das Salz — die Augen uͤbergehen, dann will ich an Sie denken. 
N Adieu, lieber Freund, und grüßen Sie Ihre Freundin, die Trip⸗ 
pelli. Ich habe in den letzten Wochen oͤfter an ſie gedacht und 
an Fuͤrſt Kotſchukoff. Ein eigentuͤmliches Verhaͤltnis bleibt 
es doch. Aber ich kann mich hineinfinden ... Und laſſen Sie 
einmal von ſich hoͤren. Oder ich werde ſchreiben.“ 
Damit ging Effi. Gieshübler begleitete fie bis auf den 


333 


Ei Ser LEI 


Platz hinaus. Er war wie benommen, fo ſehr, daß er über 


manches Raͤtſelhafte, was ſie geſprochen, ganz hinwegſah. 


Sn ging wieder nach Haus. „Bringen Sie mir die Lampe, 
Johanna,“ ſagte ſie, „aber in mein Schlafzimmer. Und dann 
eine Taſſe Tee. Ich hab es ſo kalt und kann nicht warten, bis 
der Herr wieder da iſt.“ 

Beides kam. Effi ſaß ſchon an ihrem kleinen Schreibtiſch, 
einen Briefbogen vor ſich, die Feder in der Hand. „Bitte, 
Johanna, den Tee auf den Tiſch da.“ 

Als Johanna das Zimmer wieder verlaſſen hatte, ſchloß Effi 
ſich ein, ſah einen Augenblick in den Spiegel und ſetzte ſich dann 
wieder. Und nun ſchrieb ſie: „Ich reiſe morgen mit dem Schiff, 
und dies ſind Abſchiedszeilen. Innſtetten erwartet mich in wenig 
Tagen zuruͤck, aber ich komme nicht wieder ... Warum ich nicht 
wiederkomme, Sie wiſſen es ... Es wäre das beſte geweſen, 
ich haͤtte dies Stuͤck Erde nie geſehen. Ich beſchwoͤre Sie, dies 
nicht als einen Vorwurf zu faſſen; alle Schuld iſt bei mir. Blick 
ich auf Ihr Haus .., Ihr Tun mag entſchuldbar fein, nicht 
das meine. Meine Schuld iſt ſehr ſchwer, aber vielleicht kann ich 
noch heraus. Daß wir hier abberufen wurden, iſt mir wie ein 
Zeichen, daß ich noch zu Gnaden angenommen werden kann. 


13 — 8 


Vergeſſen Sie das Geſchehene, vergeſſen Sie mich. Ihre Effi.“ « 
Sie überflog die Zeilen noch einmal, am fremdeſten war 


ihr das „Sie“; aber auch das mußte fein; es ſollte ausdrucken, 
daß keine Bruͤcke mehr da ſei. Und nun ſchob ſie die Zeilen 
in ein Kuvert und ging auf ein Haus zu, zwiſchen dem Kirchhof 


und der Waldecke. Ein duͤnner Rauch ſtieg aus dem halb ein⸗ 


gefallenen Schornſtein. Da gab ſie die Zeilen ab. 

Als ſie wieder zuruͤck war, war Innſtetten ſchon da, und 
fie ſetzte ſich zu ihm und erzählte ihm von Gies huͤbler und 
dem Sal volatile. 

Innſtetten lachte. „Wo haſt du nur dein Latein her, Effi?“ 


334 


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Das Schiff, ein leichtes Segelſchiff (die Dampfboote gingen 


nur ſommers), fuhr um zwoͤlf. Schon eine Viertelſtunde 


vorher waren Effi und Innſtetten an Bord; auch Roswitha 


und Annie. 


Das Gepaͤck war groͤßer, als es fuͤr einen auf ſo wenig 


| Tage geplanten Ausflug geboten erſchien. Innſtetten ſprach 
mit dem Kapitaͤn; Effi, in einem Regenmantel und hellgrauen 


2 ee 


Reiſehut, ſtand auf dem Hinterdeck, nahe am Steuer, und 


muſterte von hier aus das Bollwerk und die huͤbſche Haͤuſer⸗ 


reihe, die dem Zuge des Bollwerks folgte. Gerade der Lan⸗ 


dungs bruͤcke gegenüber lag Hoppenſacks Hotel, ein drei Stock 
hohes Gebaͤude, von deſſen Giebeldach eine gelbe Flagge, 
mit Kreuz und Krone darin, ſchlaff in der ſtillen, etwas nebe⸗ 
ligen Luft herniederhing. Effi ſah eine Weile nach der Flagge 
hinauf, ließ dann aber ihr Auge wieder abwaͤrts gleiten und 
verweilte zuletzt auf einer Anzahl von Perſonen, die neugierig 
am Bollwerk umherſtanden. In dieſem Augenblicke wurde 
gelaͤutet. Effi war ganz eigen zumut; das Schiff ſetzte ſich 
langſam in Bewegung, und als ſie die Landungsbruͤcke noch 


; einmal muſterte, fah fie, daß Crampas in vorderſter Reihe 


5 


ſtand. Sie erſchrak bei ſeinem Anblick und freute ſich doch auch. 
Er ſeinerſeits, in feiner ganzen Haltung verändert, war ſichtlich 
bewegt und gruͤßte ernſt zu ihr hinuͤber, ein Gruß, den ſie eben⸗ 


ſo, aber doch zugleich in großer Freundlichkeit, erwiderte; dabei 


lag etwas Bittendes in ihrem Auge. Dann ging ſie raſch auf 
die Kajuͤte zu, wo ſich Roswitha mit Annie ſchon eingerichtet 
hatte. Hier in dem etwas ſtickigen Raume blieb ſie, bis man 
aus dem Fluß in die weite Bucht des Breitling eingefahren 
war; da kam Innſtetten und rief ſie nach oben, daß ſie ſich an 
dem herrlichen Anblick erfreue, den die Landſchaft gerade an 


dieſer Stelle bot. Sie ging dann auch hinauf. Über dem 


Waſſerſpiegel hingen graue Wolken, und nur dann und wann 
ſchoß ein halb umſchleierter Sonnenblick aus dem Gewoͤlk 


335 


ar a. WET“! N 
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* 


hervor. Effi gedachte des Tages, wo fie, vor jetzt gerade Fuͤnf⸗ 
viertelſahren, im offenen Wagen am Ufer eben dieſes Breit⸗ 
lings hin entlang gefahren war. Eine kurze Spanne Zeit, und 
das Leben oft ſo ſtill und einſam. Und doch, was war alles 
ſeitdem geſchehen! 

So fuhr man die Waſſerſtraße hinauf und war um zwei 
an der Station oder doch ganz in der Naͤhe derſelben. Als man 
gleich danach das Gaſthaus des „Fuͤrſten Bismarck“ paſſierte, 
ſtand auch Golchowski wieder an der Tür und verſaͤumte 
nicht, den Herrn Landrat und die gnaͤdige Frau bis an die 
Stufen der Boͤſchung zu geleiten. Oben war der Zug noch nicht 
angemeldet, und Effi und Innſtetten ſchritten auf dem Bahn⸗ 
ſteig auf und ab. Ihr Geſpraͤch drehte ſich um die Wohnungs⸗ 
frage; man war einig uͤber den Stadtteil, und daß es zwiſchen 
dem Tiergarten und dem Zoologiſchen Garten ſein muͤſſe. 
„Ich will den Finkenſchlag hoͤren und die Papageien auch, 
ſagte Innſtetten, und Effi ſtimmte ihm zu. 

Nun aber hoͤrte man das Signal, und der Zug lief ein; 
der Bahnhofsinſpektor war voller Entgegenkommen, und Effi 
erhielt ein Coupe fuͤr ſich. 

Noch ein Händedrud, ein Wehen mit dem Tuch, und der 
Zug ſetzte ſich wieder in Bewegung. 


Dreiundzwanzigſtes Kapitel 


Auf dem Friedrichſtraßen⸗Bahnhofe war ein Gedraͤnge; 
aber trotzdem, Effi hatte ſchon vom Coupé aus die Mama er⸗ 
kannt und neben ihr den Vetter Brieſt. Die Freude des Wieder⸗ 
ſehens war groß, das Warten in der Gepaͤckhalle ſtellte die Ge⸗ 
duld auf keine allzu harte Probe, und nach wenig mehr als 
fuͤnf Minuten rollte die Droſchke neben dem Pferdebahngleiſe 
hin in die Dorotheenſtraße hinein und auf die Schadowſtraße 


336 


70 


5 7 


zu, am deren mächfigelegener Ecke ſich die „Penſion“ befand. 
Ros witha war entzuͤckt und freute ſich uͤber Annie, die die Haͤnd⸗ 
chen nach den Lichtern ausſtreckte. 
Nun war man da. Effi erhielt ihre zwei Zimmer, die nicht, 
wie erwartet, neben denen der Frau von Brieſt, aber doch 
auf demſelben Korridor lagen, und als alles ſeinen Platz und 
Stand hatte und Annie in einem Bettchen mit Gitter gluͤcklich 
untergebracht war, erſchien Effi wieder im Zimmer der Mama, 
einem kleinen Salon mit Kamin, drin ein ſchwaches Feuer 
brannte; denn es war mildes, beinah warmes Wetter. Auf 
dem runden Tiſche mit gruͤner Schirmlampe waren drei Ku⸗ 
verts gelegt, und auf einem Nebentiſchchen ſtand das Teezeug. 
„Du wohnſt ja reizend, Mama,“ ſagte Effi, während fie 
dem Sofa gegenuͤber Platz nahm, aber nur um ſich gleich da⸗ 
nach an dem Teetiſch zu ſchaffen zu machen. „Darf ich wieder 
die Rolle des Teefraͤuleins uͤbernehmen?“ 
„Gewiß, meine liebe Effi. Aber nur fuͤr Dagobert und dich 
ſelbſt. Ich meinerſeits muß verzichten, was mir beinah ſchwer 
flaͤllt.“ 
„Ich verſteh, deiner Augen halber. Aber nun ſage mir, 
Mama, was iſt es damit? In der Droſchke, die noch dazu ſo 
klapperte, haben wir immer nur von Innſtetten und unſerer 
großen Karriere geſprochen, viel zu viel, und das geht nicht 
ſo weiter; glaube mir, deine Augen ſind mir wichtiger, und 
1 in einem finde ich ſie, Gott ſei Dank, ganz unveraͤndert, du 
ſiehſt mich immer noch ſo freundlich an wie fruͤher.“ Und ſie 
eilte auf die Mama zu und kuͤßte ihr die Hand. 

„Effi, du biſt fo ſtuͤrmiſch. Ganz die alte.“ 
„Ach nein, Mama. Nicht die alte. Ich wollte, es wäre fo. 
Man andert ſich in der Ehe.“ 
Vetter Brieft lachte. „Couſine, ich merke nicht viel davon; 
da biſt noch huͤbſcher geworden, das iſt alles. Und mit dem 
Stuͤrmiſchen wird es wohl auch noch nicht vorbei ſein.“ 


f IV 22 337 


x 


„Ganz der Vetter,“ verſicherte die Mama; Effi felbft aber 
wollte davon nichts hoͤren und ſagte: „Dagobert, du biſt alles, 
nur kein Menſchenkenner. Es iſt ſonderbar. Ihr Offiziere ſeid 


keine guten Menſchenkenner, die jungen gewiß nicht. Ihr guckt 


euch immer nur ſelber an oder eure Rekruten, und die von 


der Kavallerie haben auch noch ihre Pferde. Die wiſſen nun 
vollends nichts.“ 


„Aber Couſine, wo haſt du denn dieſe ganze Weisheit her? 8 


Du kennſt ja keine Offiziere. Keſſin, ſo habe ich geleſen, hat ja 
auf die ihm zugedachten Huſaren verzichtet, ein Fall, der 
uͤbrigens einzig in der Weltgeſchichte daſteht. Und willſt du von 
alten Zeiten ſprechen? Du warſt ja noch ein halbes Kind, als die 
Rathenower zu euch heruͤberkamen.“ 

„Ich koͤnnte dir erwidern, daß Kinder am beſten beobachten. 
Aber ich mag nicht, das ſind ja alles bloß Allotria. Ich will 
wiſſen, wie's mit Mamas Augen ſteht.“ 

Frau von Brieſt erzaͤhlte nun, daß es der Augenarzt fuͤr 
Blutandrang nach dem Gehirn ausgegeben habe. Daher 
kaͤme das Flimmern. Es muͤſſe mit Diaͤt gezwungen werden; 
Bier, Kaffee, Tee — alles geſtrichen und gelegentlich eine lo⸗ 
kale Blutentziehung, dann wuͤrde es bald beſſer werden. „Er 
ſprach ſo von vierzehn Tagen. Aber ich kenne die Doktor⸗ 


angaben; vierzehn Tage heißt ſechs Wochen, und ich werde noch 


hier ſein, wenn Innſtetten kommt und ihr in eure neue Woh⸗ 
nung einzieht. Ich will auch nicht leugnen, daß das das Beſte 
von der Sache iſt und mich uͤber die mutmaßlich lange Kur⸗ 
dauer ſchon vorweg troͤſtet. Sucht euch nur recht was Huͤbſches. 
Ich habe mir Landgrafen⸗ oder Keithſtraße gedacht, elegant 
und doch nicht allzu teuer. Denn ihr werdet euch einſchraͤnken 


muͤſſen. Innſtettens Stellung iſt ſehr ehrenvoll, aber ſie wirft 


nicht allzuviel ab. Und Brieſt klagt auch. Die Preiſe gehen 
herunter, und er erzählt mir jeden Tag, wenn nicht Schutzzoͤlle 
kaͤmen, fo muͤſſ' er mit einem Bettelſack von Hohen⸗Cremmen 


338 


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3 


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abziehen. Du weißt, er uͤbertreibt gern. Aber nun lange zu, 
Dagobert, und wenn es ſein kann, erzaͤhle uns was Huͤbſches. 
Krankheitsberichte ſind immer langweilig, und die liebſten 
Menſchen hoͤren bloß zu, weil es nicht anders geht. Effi wird 
wohl auch gern eine Geſchichte hoͤren, etwas aus den Fliegen⸗ 
den Blaͤttern oder aus dem Kladderadatſch. Er ſoll aber nicht 
mehr ſo gut ſein.“ 

„O, er iſt noch ebenſo gut wie fruͤher. Sie haben immer 
noch Strudelwitz und Prudelwitz, und da macht es ſich von 
ſelber.“ 

„Mein Liebling iſt Karlchen Mießnick und Wippchen von 
Bernau.“ 

„Ja, das ſind die Beſten. Aber Wippchen, der uͤbrigens 
— Pardon, ſchoͤne Couſine — keine Kladderadatſchfigur iſt, 
Wippchen hat gegenwärtig nichts zu tun, es iſt ja kein Krieg 
mehr. Leider. Unſereins moͤchte doch auch mal an die Reihe 
kommen und hier dieſe ſchreckliche Leere,“ und er ſtrich vom 
Knopfloch nach der Achſel hinuͤber, „endlich loswerden.“ 

„Ach, das ſind ja bloß Eitelkeiten. Erzaͤhle lieber. Was 
iſt denn jetzt dran?“ 

„Ja, Couſine, das iſt ein eigen Ding. Das iſt nicht für 
jedermann. Jetzt haben wir naͤmlich die Bibelwitze.“ 

„Die Bibelwitze? Was ſoll das heißen? ... Bibel und 
Witze gehören nicht zuſammen.“ 

„Eben deshalb ſagte ich, es ſei nicht fuͤr jedermann. Aber 
ob zulaͤſſig oder nicht, ſie ſtehen jetzt hoch im Preiſe. Modeſache, 


wie Kiebitzeier.“ 


„Nun, wenn es nicht zu toll iſt, ſo gib uns eine Probe. 
Geht es?“ 

„Gewiß geht es. Und ich moͤchte ſogar hinzuſetzen duͤrfen, 
du triffſt es beſonders gut. Was jetzt nämlich kurſiert, iſt etwas 
hervorragend Feines, weil es als Kombination auftritt und in 
die einfache Bibelſtelle noch das dativiſch Wrangelſche mit ein⸗ 


22° 339 


I 


miſcht. Die Frageſtellung — alle dieſe Witze treten naͤmlich 
in Frageform auf — iſt uͤbrigens in vorliegendem Falle von 
großer Simplizitaͤt und lautet: ‚Wer war der erſte Kutſcher? 
Und nun rate.“ 

„Nun, vielleicht Apollo.“ 

„Sehr gut. Du biſt doch ein Daus, Effi. Ich waͤre nicht 
darauf gekommen. Aber trotzdem, du triffſt damit nicht ins 
Schwarze.“ 

„Nun, wer war es denn?“ 

„Der erſte Kutſcher war ‚Leid‘. Denn ſchon im Buche Hiob 
heißt es: ‚Leid ſoll mir nicht widerfahren“, oder auch ‚wieder 
fahren‘ in zwei Woͤrtern und mit einem e.“ 

Effi wiederholte kopfſchuͤttelnd den Satz, auch die Zube⸗ 
merkung, konnte ſich aber trotz aller Muͤhe nicht drin zurecht⸗ 
finden; ſie gehoͤrte ganz ausgeſprochen zu den Bevorzugten, die 
für derlei Dinge durchaus kein Organ haben, und fo kam denn 
Vetter Brieſt in die nicht beneidenswerte Situation, immer erneut 
erſt auf den Gleichklang und dann auch wieder auf den Unterſchied 
von „widerfahren“ und ‚wieder fahren‘ hinweiſen zu muͤſſen. 

„Ach, nun verſteh ich. Und du mußt mir verzeihen, daß es 
ſo lange gedauert. Aber es iſt wirklich zu dumm.“ 

„Ja, dumm iſt es,“ ſagte Dagobert kleinlaut. 

„Dumm und unpaffend und kann einen Berlin ordent⸗ 
lich verleiden. Da geht man nun aus Keſſin fort, um wieder 
unter Menſchen zu ſein, und das erſte, was man hoͤrt, iſt ein 
Bibelwitz. Auch Mama ſchweigt, und das ſagt genug. Sa will 
dir aber doch den Ruͤckzug erleichtern ...“ 

„Das tu, Couſine.“ 

„ . den Ruͤckzug erleichtern und es ganz ernſthaft als 


ein gutes Zeichen nehmen, daß mir, als erſtes hier, von meinem 


Vetter Dagobert geſagt wurde: Leid ſoll mir nicht widerfahren! 
Sonderbar, Vetter, ſo ſchwach die Sache als Witz iſt, ich bin 
dir doch dankbar dafuͤr.“ 


340 


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Dagobert, kaum aus der Schlinge heraus, verſuchte über 
Effis Feierlichkeit zu ſpoͤtteln, ließ aber ab davon, als er ſah, 
daß es ſie verdroß. 

Bald nach zehn Uhr brach er auf und verſprach am anderen 

Cage wiederzukommen, um nach den Befehlen zu fragen. 

Und gleich nachdem er gegangen, zog ſich auch Effi in ihre 


i Zimmer zuruͤck. 


Am andern Tage war das ſchoͤnſte Wetter, und Mutter 
und Tochter brachen fruͤh auf, zunaͤchſt nach der Augenklinik, 
wo Effi im Vorzimmer verblieb und ſich mit dem Durchblaͤttern 
eines Albums beſchaͤftigte. Dann ging es nach dem Tiergarten 
und bis in die Naͤhe des „Zoologiſchen,“ um dort herum nach 
einer Wohnung zu ſuchen. Es traf ſich auch wirklich ſo, daß 
man in der Keithſtraße, worauf ſich ihre Wuͤnſche von Anfang 
an gerichtet hatten, etwas durchaus Paſſendes ausfindig 
machte, nur daß es ein Neubau war, feucht und noch unfertig. 
„Es wird nicht gehen, liebe Effi,“ ſagte Frau von Brieſt, „ſchon 
einfach Geſundheitsruͤckſichten werden es verbieten. Und dann 
ein Geheimrat iſt kein Trockenwohner.“ 

Effi, ſo ſehr ihr die Wohnung gefiel, war um ſo einver⸗ 
ſtandener mit dieſem Bedenken, als ihr an einer raſchen Er⸗ 
ledigung uͤberhaupt nicht lag, ganz im Gegenteil: „Zeit ge⸗ 
wonnen, alles gewonnen,“ und ſo war ihr denn ein Hinaus⸗ 
ſchieben der ganzen Angelegenheit eigentlich das Liebſte, was 
ihr begegnen konnte. „Wir wollen dieſe Wohnung aber doch 


im Auge behalten, Mama, ſie liegt ſo ſchoͤn und iſt im weſent⸗ 


lichen das, was ich mir gewuͤnſcht habe.“ Dann fuhren beide 
Damen in die Stadt zuruͤck, aßen im Reſtaurant, das man 
ihnen empfohlen, und waren am Abend in der Oper, wozu 
der Arzt unter der Bedingung, daß Frau von Brieſt mehr 
hoͤren als ſehen wolle, die Erlaubnis gegeben hatte. 

Die naͤchſten Tage nahmen einen aͤhnlichen Verlauf; man 


341 


„6 


war aufrichtig erfreut, ſich wieder zu haben und nach fo langer 
Zeit wieder ausgiebig miteinander plaudern zu koͤnnen. Effi, 
die ſich nicht bloß auf Zuhoͤren und Erzaͤhlen, ſondern, wenn ihr 
am wohlſten war, auch auf Mediſieren ganz vorzuͤglich ver⸗ 
ſtand, geriet mehr als einmal in ihren alten Übermut, und die 
Mama ſchrieb nach Hauſe, wie gluͤcklich ſie ſei, das „Kind“ wieder 
ſo heiter und lachluſtig zu finden; es wiederhole ſich ihnen allen 
die ſchoͤne Zeit von vor faſt zwei Jahren, wo man die Aus⸗ 
ſtattung beſorgt habe. Auch Vetter Brieſt ſei ganz der alte. 
Das war nun auch wirklich der Fall, nur mit dem Unterſchiede, 
daß er ſich ſeltener ſehen ließ als vordem, und auf die Frage 
nach dem „Warum“ anſcheinend ernſthaft verſicherte: „Du biſt 
mir zu gefaͤhrlich, Couſine.“ Das gab dann jedesmal ein Lachen 
bei Mutter und Tochter, und Effi ſagte: „Dagobert, du biſt 
freilich noch ſehr jung, aber zu ſolcher Form des Courmachens 
doch nicht mehr jung genug.“ 

So waren ſchon beinah vierzehn Tage vergangen. Inn⸗ 
ſtetten ſchrieb immer dringlicher und wurde ziemlich ſpitz, faſt 
auch gegen die Schwiegermama, ſo daß Effi einſah, ein wei⸗ 
teres Hinausſchieben ſei nicht mehr gut möglich, und es muͤſſe 
nun wirklich gemietet werden. Aber was dann? Bis zum 
Umzuge nach Berlin waren immer noch drei Wochen, und 
Innſtetten drang auf raſche Ruͤckkehr. Es gab alſo nur ein 
Mittel: ſie mußte wieder eine Komoͤdie ſpielen, mußte krank 
werden. 

Das kam ihr aus mehr als einem Grunde nicht leicht an; 
aber es mußte ſein, und als ihr das feſtſtand, ſtand ihr auch 
feſt, wie die Rolle, bis in die kleinſten Einzelheiten hinein, ge⸗ 
ſpielt werden muͤſſe. 

„Mama, Innſtetten, wie du ſiehſt, wird uͤber mein Aus⸗ 
bleiben empfindlich. Ich denke, wir geben alſo nach und mieten 
heute noch. Und morgen reiſe ich. Ach, es wird mir ſo ſchwer, 
mich von dir zu trennen.“ 


342 


0 


Frau von Brieſt war einverſtanden. „Und welche Woh⸗ 
nung wirſt du waͤhlen?“ 

„Natuͤrlich die erſte, die in der Keithſtraße, die mir von An⸗ 
fang an ſo gut gefiel und dir auch. Sie wird wohl noch nicht 
ganz ausgetrocknet ſein, aber es iſt ja das Sommerhalbjahr, 
was einigermaßen ein Troſt iſt. Und wird es mit der Feuchtig⸗ 
keit zu arg und kommt ein bißchen Rheumatismus, ſo hab ich 
ja ſchließlich immer noch Hohen⸗-Cremmen.“ 

„Kind, beruf es nicht; ein Rheumatismus iſt mitunter da, 
man weiß nicht wie.“ 

Dieſe Worte der Mama kamen Effi ſehr zu paß. Sie 
mietete denſelben Vormittag noch und ſchrieb eine Karte an 
Innſtetten, daß fie den nächften Tag zurückwolle. Gleich danach 
wurden auch wirklich die Koffer gepackt und alle Vorbereitungen 
getroffen. Als dann aber der andere Morgen da war, ließ 
Effi die Mama an ihr Bett rufen und ſagte: „Mama, ich kann 
nicht reiſen. Ich habe ein ſolches Reißen und Ziehen, es ſchmerzt 
mich uͤber den ganzen Ruͤcken hin, und ich glaube beinah, es iſt 
ein Rheumatismus. Ich haͤtte nicht gedacht, daß das ſo ſchmerz⸗ 
haft ſei.“ 

„Siehſt du, was ich dir geſagt habe; man ſoll den Teufel 
nicht an die Wand malen. Geſtern haſt du noch leichtſinnig 
darüber geſprochen, und heute iſt es ſchon da. Wenn ich Schweig⸗ 
ger ſehe, werde ich ihn fragen, was du tun ſollſt.“ 

„Nein, nicht Schweigger. Der iſt ja ein Spezialiſt. Das 
geht nicht, und er koͤnnt es am Ende uͤbelnehmen, in ſo was 
anderem zu Rate gezogen zu werden. Ich denke, das beſte iſt, 
wir warten es ab. Es kann ja auch voruͤbergehen. Ich werde 
den ganzen Tag uͤber von Tee und Sodawaſſer leben, und 
wenn ich dann tranſpiriere, komm ich vielleicht druͤber hin.“ 

Frau von Brieſt druͤckte ihre Zuſtimmung aus, beſtand aber 


darauf, daß ſie ſich gut verpflege. Daß man nichts genießen 


muͤſſe, wie das fruͤher Mode war, das ſei ganz falſch und ſchwaͤche 
343 


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bloß; in dieſem Punkte ſtehe ſie ganz zu der jungen 7 N 


tuͤchtig eſſen. 

Effi ſog ſich nicht wenig Troſt aus dieſen Anſchauungen, 
ſchrieb ein Telegramm an Innſtetten, worin fie von dem „letz 
digen Zwiſchenfall“ und einer aͤrgerlichen, aber doch nur mo⸗ 
mentanen Behinderung ſprach, und ſagte dann zu Roswitha: 
„Roswitha, du mußt mir nun auch Bücher beſorgen; es wird 
nicht ſchwer halten, ich will alte, ganz alte.“ 

„Gewiß, gnaͤdge Frau. Die Leihbibliothek iſt ja gleich hier 
nebenan. Was ſoll ich beſorgen?“ 

„Ich will es aufſchreiben, allerlei zur Auswahl, denn mit⸗ 
unter haben ſie nicht das eine, was man grade haben will.“ 


Roswitha brachte Bleiſtift und Papier, und Effi ſchrieb auf: 


Walter Scott, Jvanhoe oder Quentin Durward; Cooper, 
Der Spion; Dickens, David Copperfield; Willibald Alexis, 
Die Hoſen des Herrn von Bredow. 

Roswitha las den Zettel durch und ſchnitt in der anderen 
Stube die letzte Zeile fort; ſie genierte ſich ihret und ihrer Frau 
wegen, den Zettel in feiner urſpruͤnglichen Geſtalt abzugeben. 

Ohne beſondere Vorkommniſſe verging der Tag. Am an⸗ 
dern Morgen war es nicht beſſer und am dritten auch nicht. 


„Effi, das geht ſo nicht laͤnger. Wenn ſo was einreißt, 


dann wird man's nicht wieder los; wovor die Doktoren am 


meiſten warnen und mit Recht, das ſind ſolche Verſchlep⸗ e 


pungen.“ 
Effi ſeufzte. „Ja, Mama, aber wen ſollen wir nehmen? 
Nur keinen jungen; ich weiß nicht, aber es würde mich genieren.“ 
„Ein junger Doktor iſt immer genant, und wenn er es 


nicht iſt, deſto ſchlimmer. Aber du kannſt dich beruhigen; ich 
komme mit einem ganz alten, der mich ſchon behandelt hat, i 
als ich noch in der Heckerſchen Penſion war, alſo vor etlichen 
zwanzig Jahren. Und damals war er nah an Fuͤnfzig und 
hatte ſchoͤnes graues Haar, ganz kraus. Er war ein Damen⸗ 


344 


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mann, aber in den richtigen Grenzen. Arzte, die das vergeffen, 
gehen unter, und es kann auch nicht anders ſein; unſere Frauen, 
wenigſtens die aus der Geſellſchaft, haben immer noch einen 
guten Fond.“ 

„Meinſt du? ich freue mich immer, ſo was Gutes zu hoͤren. 
Dienn mitunter hört man doch auch anderes. Und ſchwer mag 

es wohl oft ſein. Und wie heißt denn der alte Geheimrat? Ich 

nehme an, daß es ein Geheimrat iſt.“ 

„Geheimrat Rummſchuͤttel.“ 

Effi lachte herzlich. „Rummſchuͤttel! Und als Arzt fuͤr 
jemanden, der ſich nicht ruͤhren kann.“ 

„Effi, du ſprichſt ſo ſonderbar. Große Schmerzen kannſt 
du nicht haben.“ 
„Nein, in dieſem Augenblicke nicht; es wechſelt beſtaͤndig.“ 


Am anderen Morgen erſchien Geheimrat Rummſchuͤttel. 
Frau von Brieſt empfing ihn, und als er Effi ſah, war ſein 
erſtes Wort: „Ganz die Mama.“ 

Dieſe wollte den Vergleich ablehnen und meinte, zwanzig 
Jahre und druͤber ſeien doch eine lange Zeit; Rummſchuͤttel 
blieb aber bei ſeiner Behauptung, zugleich verſichernd: nicht 
jeder Kopf praͤge ſich ihm ein, aber wenn er uͤberhaupt erſt 
einen Eindruck empfangen habe, ſo bleibe der auch fuͤr immer. 
„Und nun, meine gnaͤdigſte Frau von Innſtetten, wo fehlt es, 
wo ſollen wir helfen?“ 

„Ach, Herr Geheimrat, ich komme in Verlegenheit, Ihnen 
auszudruͤcken, was es iſt. Es wechſelt beſtaͤndig. In dieſem 
Augenblick iſt es wie weggeflogen. Anfangs habe ich an Rheu⸗ 
matiſches gedacht, aber ich moͤchte beinah glauben, es ſei eine 
Neuralgie, Schmerzen den Ruͤcken entlang, und dann kann 
ich mich nicht aufrichten. Mein Papa leidet an Neuralgie, 

da hab ich es fruͤher beobachten koͤnnen. Vielleicht ein Erbſtuͤck 
von ihm.“ 


345 


„Sehr wahrſcheinlich,“ ſagte Rummſchuͤttel, der den Puls 
gefuͤhlt und die Patientin leicht, aber doch ſcharf beobachtet 
hatte. „Sehr wahrſcheinlich, meine gnaͤdigſte Frau.“ Was er 
aber ſtill zu ſich ſelber ſagte, das lautete: „Schulkrank und mit 
Virtuoſitaͤt geſpielt; Evastochter comme il faut.“ Er ließ je⸗ 
doch nichts davon merken, ſondern ſagte mit allem wuͤnſchens⸗ 
werten Ernſt: „Ruhe und Waͤrme ſind das Beſte, was ich an⸗ 
raten kann. Eine Medizin, uͤbrigens nichts Schlimmes, wird 
das weitere tun.“ 

Und er erhob ſich, um das Rezept aufzuſchreiben: Aqua 
Amygdalarum amararum eine halbe Unze Syrupus florum 
Aurantii zwei Unzen. „Hiervon, meine gnaͤdigſte Frau, bitte 
ich Sie, alle zwei Stunden eine halben Teeloͤffel voll nehmen 
zu wollen. Es wird Ihre Nerven beruhigen. Und worauf ich 
noch dringen moͤchte: keine geiſtigen Anſtrengungen, keine Be⸗ 
ſuche, keine Lektuͤre.“ Dabei wies er auf das neben ihr liegende 
Buch. 

„Es iſt Scott.“ 

„O, dagegen iſt nichts einzuwenden. Das beſte ſind Reiſe⸗ 
beſchreibungen. Ich ſpreche morgen wieder vor.“ 

Effi hatte ſich wundervoll gehalten, ihre Rolle gut durch⸗ 
geſpielt. Als ſie wieder allein war — die Mama begleitete den 
Geheimrat —, ſchoß ihr trotzdem das Blut zu Kopf; ſie hatte 
recht gut bemerkt, daß er ihrer Komoͤdie mit einer Komoͤdie 
begegnet war. Er war offenbar ein uͤberaus lebensgewandter 
Herr, der alles recht gut ſah, aber nicht alles ſehen wollte, viel⸗ 
leicht weil er wußte, daß dergleichen auch mal zu reſpektieren 
fein koͤnne. Denn gab es nicht zu reſpektierende Komoͤdien, 
war nicht die, die ſie ſelber ſpielte, eine ſolche? 

Bald danach kam die Mama zuruͤck, und Mutter und 
Tochter ergingen ſich in Lobeserhebungen uͤber den feinen alten 
Herrn, der trotz ſeiner beinah Siebzig noch etwas Jugendliches 
habe. „Schicke nur gleich Roswitha nach der Apotheke ... 


346 


1 


Du ſollſt aber nur alle drei Stunden nehmen, hat er mir draußen 
noch eigens geſagt. So war er ſchon damals, er verſchrieb nicht oft 
und nicht viel; aber immer Energiſches, und es half auch gleich.“ 


F 
0 * 


Rummſchüttel kam den zweiten Tag und dann jeden 
dritten, weil er ſah, welche Verlegenheit ſein Kommen der 
N jungen Frau bereitete. Dies nahm ihn fuͤr ſie ein, und ſein 
Urteil ſtand ihm nach dem dritten Beſuche feſt: „Hier liegt 
etwas vor, was die Frau zwingt, ſo zu handeln, wie ſie han⸗ 
delt.“ Über ſolche Dinge den Empfindlichen zu ſpielen lag laͤngſt 
hinter ihm. 
Als Rummſchuͤttel ſeinen vierten Beſuch machte, fand 
| er Effi auf, in einem Schaukelſtuhl ſitzend, ein Buch in der 
Hand, Annie neben ihr. 
ö „Ah, meine gnaͤdigſte Frau! Hocherfreut. Ich ſchiebe 
es nicht auf die Arznei; das ſchoͤne Wetter, die hellen, friſchen 
Maͤrztage, da faͤllt die Krankheit ab. Ich begluͤckwuͤnſche Sie. 
Und die Frau Mama?“ 

„Sie iſt ausgegangen, Herr Geheimrat, in die Keithſtraße, 
wo wir gemietet haben. Ich erwarte nun innerhalb weniger 
Tage meinen Mann, den ich mich, wenn in unſerer Wohnung 
erſt alles in Ordnung fein wird, herzlich freue, Ihnen vor; 
ſtellen zu koͤnnen. Denn ich darf doch wohl hoffen, daß Sie 

auch in Zukunft ſich meiner annehmen werden.“ 

Er verbeugte ſich. 

„Die neue Wohnung,“ fuhr ſie fort, „ein Neubau, macht 
mir freilich Sorge. Glauben Sie, Herr Geheimrat, daß die 

feuchten Waͤnde ...“ 

„Nicht im geringſten, meine gnaͤdigſte Frau. Laſſen Sie 
drei, vier Tage lang tuͤchtig heizen und immer Tuͤren und 
Fenſter auf, da koͤnnen Sie's wagen, auf meine Verantwor⸗ 

tung. Und mit Ihrer Neuralgie, das war nicht von ſolcher Be⸗ 
deutung. Aber ich freue mich Ihrer Vorſicht, die mir Gelegen⸗ 


* 


347 


heit gegeben hat, eine alte Bekanntſchaft zu erneuern und eine 
neue zu machen.“ 

Er wiederholte ſeine Verbeugung, ſah noch Annie freund⸗ 
lich in die Augen und verabſchiedete ſich unter Empfehlungen 
an die Mama. 


2 
. 


Kaum daß er fort war, fo ſetzte ſich Effi an den Schreibtiſch 


und ſchrieb: „Lieber Innſtetten! Eben war Rummſchuͤttel hier 
und hat mich aus der Kur entlaſſen. Ich koͤnnte nun reiſen, 
morgen etwa; aber heut iſt ſchon der 24., und am 28. willſt 
Du hier eintreffen. Angegriffen bin ich ohnehin noch. Ich denke, 
Du wirſt einverſtanden ſein, wenn ich die Reiſe ganz aufgebe. 
Die Sachen ſind ja ohnehin ſchon unterwegs, und wir wuͤrden, 
wenn ich kaͤme, in Hoppenſacks Hotel wie Fremde leben muͤſſen. 
Auch der Koſtenpunkt iſt in Betracht zu ziehen, die Ausgaben 
werden ſich ohnehin haufen; unter anderem iſt Rummſchuͤttel 
zu honorieren, wenn er uns auch als Arzt verbleibt. Übrigens 
ein ſehr liebenswuͤrdiger alter Herr. Er gilt aͤrztlich nicht fuͤr 
erſten Ranges,, Damendoktor' fagen feine Gegner und Neider. 
Aber dies Wort umſchließt doch auch ein Lob; es kann eben 
nicht jeder mit uns umgehen. Daß ich von den Keſſinern nicht 
perſoͤnlich Abſchied nehme, hat nicht viel auf ſich. Bei Gies⸗ 
huͤbler war ich. Die Frau Majorin hat ſich immer ablehnend 
gegen mich verhalten, ablehnend bis zur Unart; bleibt nur noch 
der Paſtor und Doktor Hannemann und Crampas. Empfiehl 
mich letzterem. An die Familien auf dem Lande ſchicke ich Karten; 


Guͤldenklees, wie du mir ſchreibſt, ſind in Italien (was ſie da 


wollen, weiß ich nicht), und ſo bleiben nur die drei andern. 
Entſchuldige mich, ſo gut es geht. Du biſt ja der Mann der 


P 


Formen und weißt das richtige Wort zu treffen. An Frau 


von Padden, die mir am Silveſterabend ſo außerordentlich gut 


gefiel, ſchreibe ich vielleicht ſelber noch und ſpreche ihr mein 
Bedauern aus. Laß mich in einem Telegramm wiſſen, ob Du 
mit allem einverſtanden biſt. Wie immer Deine Effi.“ 


348 


„a 4 4 
gi . * 
n 


Effi brachte felber den Brief zur Poſt, als ob fie dadurch 
die Antwort beſchleunigen koͤnne, und am naͤchſten Vormittage 
traf denn auch das erbetene Telegramm von Innſtetten ein: 
„Einverſtanden mit allem.“ Ihr Herz jubelte, ſie eilte hinunter 
und auf den naͤchſten Droſchkenſtand zu. „Keithſtraße 1 c.“ 
Und erſt die Linden und dann die Tiergartenſtraße hinunter 
flog die Droſchke, und nun hielt fie vor der neuen Wohnung. 
Oben ſtanden die den Tag vorher eingetroffenen Sachen 
noch bunt durcheinander, aber es ſtoͤrte ſie nicht, und als ſie 
auf den breiten, aufgemauerten Balkon hinaustrat, lag jen⸗ 
ſeits der Kanalbruͤcke der Tiergarten vor ihr, deſſen Baͤume ſchon 
uͤberall einen gruͤnen Schimmer zeigten. Daruͤber aber ein 
| klarer, blauer Himmel und eine lachende Sonne. 
Sie zitterte vor Erregung und atmete hoch auf. Dann 
trat ſie, vom Balkon her, wieder uͤber die Tuͤrſchwelle zuruͤck, 
erhob den Blick und faltete die Haͤnde. 
„Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es ſoll anders werden.“ 


Vierundzwanzigſtes Kapitel 


Drei Tage danach, ziemlich ſpaͤt, um die neunte Stunde, 
traf Innſtetten in Berlin ein. Alles war am Bahnhof: Effi, 
die Mama, der Vetter; der Empfang war herzlich, am herz, 
lichſten von feiten Effis, und man hatte bereits eine Welt von 
Dingen durchgeſprochen, als der Wagen, den man genommen, 
vor der neuen Wohnung in der Keithſtraße hielt. „Ach, da 
haſt du gut gewaͤhlt, Effi,“ ſagte Innſtetten, als er in das 
Veſtibul eintrat, „kein Haifiſch, kein Krokodil und hoffentlich 
auch kein Spuk.“ 
„Nein, Geert, damit iſt es nun vorbei. Nun bricht eine 
andere Zeit an, und ich fuͤrchte mich nicht mehr und will auch 
beſſer ſein als fruͤher und dir mehr zu Willen leben.“ Alles 


| 349 


das flüfterte fie ihm zu, während fie die teppichbedeckte Treppe 
bis in den zweiten Stock hinanſtiegen. Der Vetter führte di 
Mama. a 
Oben fehlte noch manches, aber fuͤr einen wohnlichen Ein⸗ 
druck war doch geſorgt, und Innſtetten ſprach ſeine Freude 
daruͤber aus. „Effi, du biſt doch ein kleines Genie;“ aber 
dieſe lehnte das Lob ab und zeigte auf die Mama, die habe das 
eigentliche Verdienſt. „Hier muß es ſtehen,“ ſo hab es un⸗ 
erbittlich geheißen, und immer habe ſie's getroffen, wodurch 
natuͤrlich viel Zeit geſpart und die gute Laune nie geſtoͤrt wor⸗ 
den ſei. Zuletzt kam auch Roswitha, um den Herrn zu begrüßen, 
bei welcher Gelegenheit ſie ſagte: „Fraͤulein Annie ließe ſich 
fuͤr heute entſchuldigen“ — ein kleiner Witz, auf den ſie ſtolz 
war und mit dem ſie auch ihren Zweck vollkommen erreichte. 
Und nun nahmen ſie Platz um den ſchon gedeckten Tiſch, 
und als Innſtetten ſich ein Glas Wein eingeſchenkt und „auf 


gluͤckliche Tage“ mit allen angeſtoßen hatte, nahm er Effis 
Hand und ſagte: „Aber Effi, nun erzaͤhle mir, was war das ö 


mit deiner Krankheit?“ 

„Ach, laſſen wir doch das, nicht der Rede wert; ein bißchen 
ſchmerzhaft und eine rechte Stoͤrung, weil es einen Strich 
durch unſere Plaͤne machte. Aber mehr war es nicht, und nun 


iſt es vorbei. Rummſchuͤttel hat ſich bewaͤhrt, ein feiner, liebens⸗ 


wuͤrdiger alter Herr, wie ich dir, glaub ich, ſchon ſchrieb. In 
ſeiner Wiſſenſchaft ſoll er nicht gerade glaͤnzen, aber Mama 


ſagt, das ſei ein Vorzug. Und ſie wird wohl recht haben wie 


in allen Stuͤcken. Unſer guter Doktor Hannemann war auch kein 


Licht und traf es doch immer. Und nun ſage, was macht Gies⸗ 


huͤbler und die anderen alle?“ 


„Ja, wer ſind die anderen alle? Crampas laͤßt ſich der 1 


gnaͤdgen Frau empfehlen ...“ 
„Ah, ſehr artig.“ 


„Und der Paſtor will dir desgleichen empfohlen ſein; nur ö 


350 


— 
.. 


die Herrſchaften auf dem Lande waren ziemlich nüchtern und 
ſchienen auch mich für deinen Abſchied ohne Abſchied verant; 
wortlich machen zu wollen. Unſere Freundin Sidonie war ſo⸗ 


gar ſpitz, und nur die gute Frau von Padden, zu der ich eigens 


vorgeſtern noch hinuͤberfuhr, freute ſich aufrichtig uͤber deinen 
Gruß und deine Liebeserklaͤrung an fie. ‚Du ſeiſt eine reizende 
Frau, fagte fie, ‚aber ich ſollte dich gut hüten.‘ Und als ich 
ihr erwiderte: „Du faͤndeſt ſchon, daß ich mehr ein Erzieher“ 
als ein Ehemann ſei, ſagte ſie halblaut und beinahe wie ab⸗ 
weſend: ‚Ein junges Laͤmmchen weiß wie Schnee. Und dann 
brach ſie ab.“ 

Vetter Brieſt lachte. „Ein junges Laͤmmchen weiß wie 
Schnee...‘ Da hoͤrſt du's, Couſine.“ Und er wollte fie zu 


| necken fortfahren, gab es aber auf, als er ſah, daß fie fich vers 


faͤrbte. 

Das Geſpraͤch, das meiſt zuruͤckliegende Verhaͤltniſſe be⸗ 
ruͤhrte, ſpann ſich noch eine Weile weiter, und Effi erfuhr zu⸗ 
letzt aus dieſem und jenem, was Innſtetten mitteilte, daß ſich 
von dem ganzen Keſſiner Hausſtande nur Johanna bereit 
erklaͤrt habe, die Überſiedelung nach Berlin mitzumachen. 
Sie ſei natuͤrlich noch zuruͤckgeblieben, werde aber in zwei, drei 
Tagen mit dem Reſt der Sachen eintreffen; er ſei froh uͤber 
ihren Entſchluß, denn ſie ſei immer die brauchbarſte geweſen 
und von einem ausgeſprochenen großſtaͤdtiſchen Chic. Viel⸗ 
leicht ein bißchen zu ſehr. Chriſtel und Friedrich haͤtten ſich beide 
fuͤr zu alt erklaͤrt, und mit Kruſe zu verhandeln habe ſich von 
vornherein verboten. „Was ſoll uns ein Kutſcher hier?“ ſchloß 
Innſtetten, „Pferd und Wagen, das ſind tempi passati, mit 
dieſem Luxus iſt es in Berlin vorbei. Nicht einmal das ſchwarze 
Huhn haͤtten wir unterbringen koͤnnen. Oder unterſchaͤtz ich 
die Wohnung?“ 

Effi ſchuͤttelte den Kopf, und als eine kleine Pauſe eintrat, 


erhob ſich die Mama; es ſei bald elf, und ſie habe noch einen 


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weiten Weg, ubrigens folle fie niemand begleiten, der Drofchken; 
ſtand ſei ja nah — ein Anſinnen, das Vetter Brieſt natürlich 
ablehnte. Bald darauf trennte man ſich, nachdem noch Rendez⸗ 
vous fuͤr den andern Vormittag verabredet war. 

Effi war ziemlich fruͤh auf und hatte — die Luft war bei⸗ 
nahe ſommerlich warm — den Kaffeetiſch bis nahe an die 
geöffnete Balkontuͤr ruͤcken laſſen, und als Innſtetten nun 
auch erſchien, trat ſie mit ihm auf den Balkon hinaus und 
ſagte: „Nun, was ſagſt du? Du wollteſt den Finkenſchlag 
aus dem Tiergarten hoͤren und die Papageien aus dem Zoolo⸗ 
giſchen. Ich weiß nicht, ob beide dir den Gefallen tun werden, 
aber moͤglich iſt es. Hoͤrſt du wohl? Das kam von druͤben, 
druͤben aus dem kleinen Park. Es iſt nicht der eigentliche Tier⸗ 
garten, aber doch beinah.“ 

Innſtetten war entzuͤckt und von einer Dankbarkeit, als 


ob Effi ihm das alles perſoͤnlich herangezaubert habe. Dann 


ſetzten ſie ſich, und nun kam auch Annie. Roswitha verlangte, 
daß Innſtetten eine große Veraͤnderung an dem Kinde finden 
ſolle, was er denn auch ſchließlich tat. Und dann plauderten 
ſie weiter, abwechſelnd uͤber die Keſſiner und die in Berlin zu 
machenden Viſiten und ganz zuletzt auch uͤber eine Sommer⸗ 


reiſe. Mitten im Geſpraͤch aber mußten ſie abbrechen, um 


rechtzeitig beim Rendezvous erſcheinen zu koͤnnen. 


Man traf ſich, wie verabredet, bei Helms, gegenuͤber dem 
Roten Schloß, beſuchte verſchiedene Laͤden, aß bei Hiller und 
war bei guter Zeit wieder zu Haus. Es war ein gelungenes 
Beiſammenſein geweſen, Innſtetten herzlich froh, das groß⸗ 


ſtaͤdtiſche Leben wieder mitmachen und auf ſich wirken laſſen 


zu koͤnnen. Tags darauf, am x. April, begab er ſich in das 
Kanzlerpalais, um ſich einzuſchreiben (eine perſoͤnliche Gratu⸗ 
lation unterließ er aus Ruͤckſicht), und ging dann aufs Mini⸗ 
ſterium, um ſich da zu melden. Er wurde auch angenommen, 


352 


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W 


trotzdem es ein geſchaͤftlich und geſellſchaftlich ſehr unruhiger 
Tag war, ja, ſah ſich ſeitens feines Chefs durch beſonders ent; 


gegenkommende Liebenswuͤrdigkeit ausgezeichnet. „Er wiſſe, 


was er an ihm habe und ſei ſicher, ihr Einvernehmen nie geſtoͤrt 


zu ſehen.“ 
Auch im Hauſe geſtaltete ſich alles zum guten. Ein auf⸗ 


richtiges Bedauern war es fuͤr Effi, die Mama, nachdem dieſe, 


—— — 


wie gleich anfaͤnglich vermutet, faſt ſechs Wochen lang in Kur 
geweſen, nach Hohen⸗Cremmen zuruͤckkehren zu ſehen, ein Be⸗ 
dauern, das nur dadurch einigermaßen gemildert wurde, daß 
ſich Johanna denſelben Tag noch in Berlin einſtellte. Das war 
immerhin was, und wenn die huͤbſche Blondine dem Herzen 
Effis auch nicht ganz ſo nahe ſtand wie die ganz ſelbſtſuchts⸗ 


loſe und unendlich gutmuͤtige Roswitha, fo war fie doch gleich⸗ 


maͤßig angeſehen, ebenſo bei Innſtetten wie bei ihrer jungen 
Herrin, weil ſie ſehr geſchickt und brauchbar und der Maͤnner⸗ 
welt gegenuͤber von einer ausgeſprochenen und ſelbſtbewußten 
Reſerviertheit war. Einem Keſſiner on dit zufolge ließen ſich 
die Wurzeln ihrer Exiſtenz auf eine laͤngſt penſionierte Groͤße 
der Garniſon Paſewalk zuruͤckfuͤhren, woraus man ſich auch 
ihre vornehme Geſinnung, ihr ſchoͤnes, blondes Haar und die 
beſondere Plaſtik ihrer Geſamterſcheinung erklaͤren wollte. 
Johanna ſelbſt teilte die Freude, die man allerſeits uͤber ihr 


Eintreffen empfand, und war durchaus einverſtanden damit, 


als Haus maͤdchen und Jungfer, ganz wie früher, den Dienſt 
bei Effi zu uͤbernehmen, waͤhrend Roswitha, die der Chriſtel 
in beinahe Jahresfriſt ihre Kochkünfte fo ziemlich abgelernt 
hatte, dem Kuͤchendepartement vorſtehen ſollte. Annies Ab⸗ 
wartung und Pflege fiel Effi ſelber zu, woruͤber Roswitha frei⸗ 
lich lachte. Denn ſie kannte die jungen Frauen. 

Innſtetten lebte ganz ſeinem Dienſt und ſeinem Haus. 
Er war glüdlicher als vordem in Keſſin, weil ihm nicht entging, 
daß Effi ſich unbefangener und heiterer gab. Und das konnte 


Iv 23 353 


fie, weil fie ſich freier fühlte. Wohl blickte das Vergangene 
noch in ihr Leben hinein, aber es aͤngſtigte ſie nicht mehr, 
oder doch um vieles ſeltener und voruͤbergehender, und alles, 
was davon noch in ihr nachzitterte, gab ihrer Haltung einen 
eigenen Reiz. In jeglichem, was ſie tat, lag etwas Weh⸗ 
muͤtiges, wie eine Abbitte, und es haͤtte ſie gluͤcklich gemacht, 
dies alles noch deutlicher zeigen zu koͤnnen. Aber das verbot 
ſich freilich. 

Das geſellſchaftliche Leben der großen Stadt war, als ſie 
waͤhrend der erſten Aprilwochen ihre Beſuche machten, noch 
nicht voruͤber, wohl aber im Erloͤſchen, und ſo kam es fuͤr ſie 
zu keiner rechten Teilnahme mehr daran. In der zweiten Haͤlfte 
des Mai ſtarb es dann ganz hin, und mehr noch als vorher 
war man gluͤcklich, ſich in der Mittagsſtunde, wenn Innſtetten 
von ſeinem Miniſterium kam, im Tiergarten treffen oder nach⸗ 
mittags einen Spaziergang nach dem Charlottenburger Schloß⸗ 
garten machen zu koͤnnen. Effi ſah ſich, wenn ſie die lange Front 
zwiſchen dem Schloß und den Orangeriebaͤumen auf und ab 
ſchritt, immer wieder die maſſenhaft dortſtehenden roͤmiſchen 
Kaiſer an, fand eine merkwuͤrdige Ahnlichkeit zwiſchen Nero und 
Titus, ſammelte Tannenaͤpfel, die von den Trauertannen ge⸗ 


fallen waren, und ging dann, Arm in Arm mit ihrem Manne, 


bis auf das nach der Spree hin einſam gelegene „Belvedere“ zu. 

„Da drin ſoll es auch einmal geſpukt haben,“ ſagte ſie. 

„Nein, bloß Geiſtererſcheinungen.“ 

„Das iſt dasſelbe.“ 

„Ja, zuweilen,“ ſagte Innſtetten. „Aber eigentlich iſt doch 
ein Unterſchied. Geiſtererſcheinungen werden immer gemacht 
— wenigſtens ſoll es hier in dem ‚Belvedere‘ fo geweſen fein, 
wie mir Vetter Brieſt erſt geſtern noch erzaͤhlte — Spuk aber 
wird nie gemacht, Spuk iſt natuͤrlich.“ 

„Alſo glaubſt du doch dran?“ 

„Gewiß glaub ich dran. Es gibt ſo was. Nur an das, 


354 


was wir in Keſſin davon hatten, glaub ich nicht recht. Hat 


dir denn Johanna ſchon ihren Chineſen gezeigt?“ 
WwWelchen?“ 
„Nun, unſern. Sie hat ihn, eh ſie unſer altes Haus ver⸗ 


1 ließ, oben von der Stuhllehne abgeloͤſt und ihn ins Porte⸗ 


monnaie gelegt. Als ich mir neulich ein Markſtuͤck bei ihr 


wechſelte, hab ich ihn geſehen. Und ſie hat es mir auch verlegen 


beſtatigt.“ | 


„Ach, Geert, das haͤtteſt du mir nicht fagen ſollen. Nun 


iſt doch wieder fo was in unſerm Haufe,” 


ee 


„Sag ihr, daß fie ihn verbrennt.“ 

„Nein, das mag ich auch nicht, und das hilft auch nichts. 
Aber ich will Roswitha bitten ...“ 

„Um was? Ah, ich verſtehe ſchon, ich ahne, was du vorhaſt. 
Die ſoll ein Heiligenbild kaufen und es dann auch ins Porte⸗ 
monnaie tun. Iſt es ſo was?“ 

Effi nickte. 

„Nun, tu was du willſt. Aber ſag es niemandem.“ 

Effi meinte dann ſchließlich, es lieber doch laſſen zu wollen, 
und unter allerhand kleinem Geplauder, in welchem die Reiſe⸗ 
plaͤne für den Sommer mehr und mehr Platz gewannen, fuhren 
fie bis an den „Großen Stern“ zuruck, und gingen dann durch 


& die Korſo⸗Allee und die breite Friedrich⸗Wilhelms⸗Straße auf 
ihre Wohnung zu. 


Sie hatten vor, ſchon Ende Juli Urlaub zu nehmen und 
ins bayeriſche Gebirge zu gehen, wo gerade in dieſem Jahre 
wieder die Oberammergauer Spiele ſtattfanden. Es ließ 
ſich aber nicht tun; Geheimrat von Wuͤllersdorf, den Innſtetten 
ſchon von fruͤher her kannte und der jetzt ſein Spezialkollege 
war, erkrankte plotzlich, und Innſtetten mußte bleiben und ihn 
vertreten. Erſt Mitte Auguſt war alles wieder beglichen und 
damit die Reiſemoͤglichkeit gegeben; es war aber nun zu ſpaͤt 


23* 399 


geworden, um noch nach Oberammergau zu gehen, und ſo ent⸗ 
ſchied man ſich fuͤr einen Aufenthalt auf Ruͤgen. „Zunaͤchſt 
natuͤrlich Stralſund, mit Schill, den du kennſt, und mit Scheele, 
den du nicht kennſt und der den Sauerſtoff entdeckte, was 
man aber nicht zu wiſſen braucht. Und dann von Stralſund 
nach Bergen und dem Rugard, von wo man, wie mir Wuͤllers⸗ 
dorf ſagte, die ganze Inſel uͤberſehen kann, und dann zwiſchen 
dem Großen und Kleinen Jasmunder Bodden hin, bis nach 
Saßnitz. Denn nach Ruͤgen reiſen heißt nach Saßnitz reiſen. 
Binz ginge vielleicht auch noch, aber da find — ich muß Wuͤllers⸗ 
dorf noch einmal zitieren — ſo viele kleine Steinchen und 
Muſchelſchalen am Strande, und wir wollen doch baden.“ 

Effi war einverſtanden mit allem, was von ſeiten Inn⸗ 
ſtettens geplant wurde, vor allem auch damit, daß der ganze 
Hausſtand auf vier Wochen aufgelöft werden und Roswitha 
mit Annie nach Hohen⸗Cremmen, Johanna aber zu ihrem 
etwas jüngeren Halbbruder reifen ſollte, der bei Paſewalk eine 
Schneidemuͤhle hatte. So war alles gut untergebracht. Mit 
Beginn der naͤchſten Woche brach man denn auch wirklich auf, 
und am ſelben Abende noch war man in Saßnitz. Über dem 
Gaſthauſe ſtand „Hotel Fahrenheit“. „Die Preiſe hoffentlich 
nach Reaumur,” ſetzte Innſtetten, als er den Namen las, hinzu, 
und in beſter Laune machten beide noch einen Abendſpazier⸗ 
gang an dem Klippenſtrande hin und ſahen von einem Felſen⸗ 
vorſprung aus auf die ſtille, vom Mondſchein uͤberzitterte Bucht. 
Effi war entzuͤckt. „Ach, Geert, das iſt ja Capri, das iſt ja Sor⸗ 
rent. Ja, hier bleiben wir. Aber natuͤrlich nicht im Hotel; 
die Kellner ſind mir zu vornehm, und man geniert ſich, um eine 
Flaſche Sodawaſſer zu bitten ...“ 

„Ja, lauter Attaches. Es wird ſich aber wohl eine Privat⸗ 
wohnung finden laſſen.“ 

„Denk ich auch. Und wir wollen gleich morgen danach 
ausſehen.“ 


356 


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Schön wie der Abend war der Morgen, und man nahm 


das Fruͤhſtuͤck im Freien. Innſtetten empfing etliche Briefe, 


die ſchnell erledigt werden mußten, und ſo beſchloß Effi, die 
fuͤr ſie frei gewordene Stunde ſofort zur Wohnungsſuche zu 
benutzen. Sie ging erſt an einer eingepferchten Wieſe, dann an 
Haͤuſergruppen und Haferfeldern voruͤber und bog zuletzt in 
einen Weg ein, der ſchluchtartig auf das Meer zulief. Da, 
wo dieſer Schluchtenweg den Strand traf, ſtand ein von hohen 
Buchen uͤberſchattetes Gaſthaus, nicht ſo vornehm wie das 
Fahrenheitſche, mehr ein bloßes Reſtaurant, in dem, der fruͤhen 
Stunde halber, noch alles leer war. Effi nahm an einem 
Ausſichtspunkte Platz, und kaum daß fie von dem Sherry, den 
ſie beſtellt, genippt hatte, ſo trat auch ſchon der Wirt an ſie 
heran, um halb aus Neugier und halb aus Artigkeit ein Geſpraͤch 
mit ihr anzuknuͤpfen. 

„Es gefaͤllt uns ſehr gut hier,“ ſagte ſie, „meinem Manne 
und mir; welch praͤchtiger Blick uͤber die Bucht, und wir ſind 
nur in Sorge wegen einer Wohnung.“ 

„Ja, gnaͤdigſte Frau, das wird ſchwer halten ...“ 

„Es iſt aber ſchon ſpaͤt im Jahr ...“ 

„Trotzdem. Hier in Saßnitz iſt ſicherlich nichts zu finden, 
dafuͤr moͤcht ich mich verbuͤrgen; aber weiterhin am Strand, 
wo das naͤchſte Dorf anfaͤngt, Sie koͤnnen die Daͤcher von hier 
aus blinken ſehen, da moͤcht es vielleicht ſein.“ 

„Und wie heißt das Dorf?“ 

„Crampas.“ 

Effi glaubte nicht recht gehoͤrt zu haben. „Crampas,“ 
wiederholte ſie mit Anſtrengung. „Ich habe den Namen als 
Ortsnamen nie gehört... Und ſonſt nichts in der Nähe?” 

„Nein, gnaͤdigſte Frau. Hier herum nichts. Aber hoͤher 
hinauf, nach Norden zu, da kommen noch wieder Doͤrfer, und 
in dem Gaſthauſe, das dicht neben Stubbenkammer liegt, 
wird man Ihnen gewiß Auskunft geben koͤnnen. Es werden 


357 


dort von ſolchen, die gerne noch vermieten wollen, immer Adreſ⸗ 
ſen abgegeben.“ 5 

Effi war froh, das Geſpraͤch allein geführt zu haben, und 
als ſie bald danach ihrem Manne Bericht erſtattet und nur den 
Namen des an Saßnitz angrenzenden Dorfes verſchwiegen 
hatte, ſagte dieſer: „Nun, wenn es hier herum nichts gibt, 
ſo wird es das beſte ſein, wir nehmen einen Wagen (wodurch 
man fich beilaͤufig einem Hotel immer empfiehlt) und über, 
ſiedeln ohne weiteres da hoͤher hinauf, nach Stubbenkammer 
hin. Irgendwas Idylliſches mit einer Geißblattlaube wird 
ſich da wohl finden laſſen, und finden wir nichts, ſo bleibt uns 
immer noch das Hotel ſelbſt. Eins iſt ſchließlich wie das andere.“ 

Effi war einverſtanden, und gegen Mittag ſchon erreichten 
ſie das neben Stubbenkammer gelegene Gaſthaus, von dem 
Innſtetten eben geſprochen, und beſtellten daſelbſt einen Im⸗ 
biß. „Aber erſt nach einer halben Stunde; wir haben vor, 
zunaͤchſt noch einen Spaziergang zu machen und uns den Hertha⸗ 
ſee anzuſehen. Ein Fuͤhrer iſt doch wohl da?“ 

Dies wurde bejaht, und ein Mann von mittleren Jahren 
trat alsbald an unſere Reiſenden heran. Er ſah ſo wichtig 
und feierlich aus, als ob er mindeſtens ein Adjunkt bei dem 
alten Herthadienſt geweſen waͤre. 

Der von hohen Baͤumen umſtandene See lag ganz in der 
Nähe, Binſen ſaͤumten ihn ein, und auf der ſtillen, ſchwarzen 
Waſſerflaͤche ſchwammen zahlreiche Mummeln. 

„Es ſieht wirklich nach ſo was aus,“ ſagte Effi, „nach Hertha⸗ 
dienſt.“ 

„Ja, gnaͤdge Frau ... Deffen find auch noch die Steine 
Zeugen.“ 

„Welche Steine?“ 

„Die Opferſteine.“ 


Und waͤhrend ſich das Geſpraͤch in dieſer Weiſe fortſetzte, 
traten alle drei vom See her an eine ſenkrechte abgeſtochene 


358 


3 


4 
23 — 


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Kies⸗ und Lehmwand heran, an die ſich etliche glatt polierte 
Steine lehnten, alle mit einer flachen Hoͤhlung und etlichen 
nach unten laufenden Rinnen. 
„Und was bezwecken die?“ 
„Daß es beſſer abliefe, gnaͤdge Frau.“ 
ö „Laß uns gehen,“ ſagte Effi, und den Arm ihres Mannes 
nehmend, ging ſie mit ihm wieder auf das Gaſthaus zuruͤck, 
wo nun, an einer Stelle mit weitem Ausblick auf das Meer, 
das vorher beſtellte Fruͤhſtuͤck aufgetragen wurde. Die Bucht 
lag im Sonnenlichte vor ihnen, einzelne Segelboote glitten 
darüber hin, und um die benachbarten Klippen haſchten ſich 
die Moͤwen. Es war ſehr ſchoͤn, auch Effi fand es; aber wenn 
fie dann über die glitzernde Fläche hinwegſah, bemerkte fie, nach 
Suͤden zu, wieder die hell aufleuchtenden Daͤcher des lang⸗ 
geſtreckten Dorfes, deſſen Name ſie heute fruͤh ſo ſehr erſchreckt 
hatte. 

Innſtetten, wenn auch ohne Wiſſen und Ahnung deſſen, 
was in ihr vorging, ſah doch deutlich, daß es ihr an aller Luſt 
und Freude gebrach. „Es tut mir leid, Effi, daß du der Sache 
hier nicht recht froh wirſt. Du kannſt den Herthaſee nicht ver⸗ 
geſſen und noch weniger die Steine.“ 

Sie nickte. „Es iſt ſo wie du ſagſt. Und ich muß dir be⸗ 
kennen, ich habe nichts in meinem Leben geſehen, was mich 
ſo traurig geſtimmt haͤtte. Wir wollen das Wohnungsſuchen 
ganz aufgeben; ich kann hier nicht bleiben.“ 

„Und geſtern war es dir noch der Golf von Neapel und 
alles moͤgliche Schoͤne.“ 

„Ja, geſtern.“ 

„Und heute? Heute keine Spur mehr von Sorrent!“ 

„Eine Spur noch, aber auch nur eine Spur; es iſt Sorrent, 
als ob es ſterben wollte.“ 

„Gut dann, Effi,“ ſagte Innſtetten und reichte ihr die 
Hand. „Ich will dich mit Ruͤgen nicht quaͤlen, und ſo geben 


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wir's denn auf. Abgemacht. Es iſt nicht nötig, daß wir uns 
an Stubbenkammer anklammern oder an Saßnitz oder da wei⸗ 
ter hinunter. Aber wohin?“ 

„Ich denke, wir bleiben noch einen Tag und warten das 
Dampfſchiff ab, das, wenn ich nicht irre, morgen von Stettin 


kommt und nach Kopenhagen hinuͤberfaͤhrt. Da ſoll es ja ſo 


vergnuͤglich ſein, und ich kann dir gar nicht ſagen, wie ſehr ich 
mich nach etwas Vergnuͤglichem ſehne. Hier iſt mir, als ob 
ich in meinem ganzen Leben nicht mehr lachen koͤnnte und 
uͤberhaupt nie gelacht haͤtte, und du weißt doch, wie gern ich 
lache.“ 

Innſtetten zeigte ſich voll Teilnahme mit ihrem Zuſtand, 
und das um ſo lieber, als er ihr in vielem recht gab. Es war 
wirklich alles ſchwermuͤtig, ſo ſchoͤn es war. 

Und ſo warteten ſie denn das Stettiner Schiff ab und 
trafen am dritten Tage in aller Fruͤhe in Kopenhagen ein, 
wo ſie auf Kongens Nytorv Wohnung nahmen. Zwei Stun⸗ 
den ſpaͤter waren ſie ſchon im Thorwaldſen⸗Muſeum, und 
Effi ſagte: „Ja, Geert, das iſt ſchoͤn, und ich bin gluͤcklich, 
daß wir uns hierher auf den Weg gemacht haben.“ Bald da⸗ 
nach gingen fie zu Tiſch und machten an der Table d'hote die 
Bekanntſchaft einer ihnen gegenuͤberſitzenden juͤtlaͤndiſchen 
Familie, deren bildſchoͤne Tochter, Thora von Penz, ebenſo 
Innſtettens wie Effis beinah bewundernde Aufmerkſamkeit 
ſofort in Anſpruch nahm. Effi konnte ſich nicht ſatt ſehen an 
den großen, blauen Augen und dem flachsblonden Haar, und 
als man ſich nach anderthalb Stunden von Tiſch erhob, wurde 
ſeitens der Penzſchen Familie — die leider, denſelben Tag noch, 
Kopenhagen wieder verlaſſen mußte — die Hoffnung aus⸗ 
geſprochen, das junge preußiſche Paar mit naͤchſtem in Schloß 
Aggerhuus (eine halbe Meile vom Limfjord) begruͤßen zu 
duͤrfen, eine Einladung, die von den Innſtettens auch ohne 
langes Zoͤgern angenommen wurde. So vergingen die Stun⸗ 


360 


4 
4 
3 


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den im Hotel. Aber damit war es nicht genug des Guten an 


dieſem denkwuͤrdigen Tage, von dem Effi denn auch verſicherte, 
daß er im Kalender rot angeſtrichen werden muͤſſe. Der Abend 


4 brachte, das Maß des Gluͤcks voll zu machen, eine Vorſtellung 


im Tivoli⸗Theater: eine italieniſche Pantomime, Arlequin 
und Colombine. Effi war wie berauſcht von den kleinen Schel⸗ 
mereien, und als fie ſpaͤt am Abend nach ihrem Hotel zuruͤck⸗ 
kehrten, ſagte ſie: „Weißt du, Geert, nun fuͤhl ich doch, daß ich 
allmaͤhlich wieder zu mir komme. Von der ſchoͤnen Thora will ich 
gar nicht erſt ſprechen; aber wenn ich bedenke, heute vormittag 
Thorwaldſen und heute abend dieſe Colombine ...“ 

„ . . Die dir im Grunde doch noch lieber war als Thorz 
waldſen ...“ 

„Offen geſtanden, ja. Ich habe nun mal den Sinn fuͤr der⸗ 
gleichen. Unſer gutes Keſſin war ein Ungluͤck fuͤr mich. Alles 
fiel mir da auf die Nerven. Ruͤgen beinah auch. Ich denke, 
wir bleiben noch ein paar Tage hier in Kopenhagen, natuͤrlich 
mit Ausflug nach Frederiksborg und Helſingoͤr, und dann 
nach Juͤtland hinuͤber; ich freue mich aufrichtig, die ſchoͤne 
Thora wiederzuſehen, und wenn ich ein Mann waͤre, ſo verliebte 
ich mich in ſie.“ 

Innſtetten lachte. „Du weißt noch nicht, was ich tue.“ 

„Waͤr mir ſchon recht. Dann gibt es einen Wettſtreit, 
und du ſollſt ſehen, dann hab ich auch noch meine Kraͤfte.“ 

„Das brauchſt du mir nicht erſt zu verſichern.“ 


So verlief denn auch die Reiſe. Druͤben in Juͤtland fuhren 
ſie den Limfjord hinauf, bis Schloß Aggerhuus, wo ſie drei 
Tage bei der Penzſchen Familie verblieben, und kehrten dann 
mit vielen Stationen und kuͤrzeren und laͤngeren Aufenthalten 
in Viborg, Flensburg, Kiel, uͤber Hamburg (das ihnen un⸗ 
gemein gefiel) in die Heimat zuruͤck — nicht direkt nach Berlin 
in die Keithſtraße, wohl aber vorher nach Hohen⸗-Cremmen, 


361 


wo man ſich nun einer wohlverdienten Ruhe hingeben wollte. 
Fuͤr Innſtetten bedeutete das nur wenige Tage, da ſein Ur⸗ 
laub abgelaufen war, Effi blieb aber noch eine Woche laͤnger 
und ſprach es aus, erſt zum dritten Oktober, ihrem Hochzeits⸗ 
tage, wieder zu Haus eintreffen zu wollen. 

Annie war in der Landluft praͤchtig gediehen, und was 
Roswitha geplant hatte, daß ſie der Mama in Stiefelchen 
entgegenlaufen ſollte, das gelang auch vollkommen. Brieſt 
gab ſich als zaͤrtlicher Großvater, warnte vor zuviel Liebe, 
noch mehr vor zuviel Strenge, und war in allem der alte. Eigent⸗ 
lich aber galt all ſeine Zaͤrtlichkeit doch nur Effi, mit der er 
ſich in ſeinem Gemuͤt immer beſchaͤftigte, zumeiſt EN wenn er 
mit feiner Frau allein war. 

„Wie findeft du Effi?“ 

„Lieb und gut wie immer. Wir koͤnnen Gott nicht genug 
danken, eine ſo liebenswuͤrdige Tochter zu haben. Und wie 
dankbar ſie fuͤr alles iſt und immer ſo gluͤcklich, wieder unter 
unſerm Dach zu ſein.“ 

„Ja,“ ſagte Brieſt, „ſie hat von dieſer Tugend mehr als mir 
lieb iſt. Eigentlich iſt es, als waͤre dies hier immer noch ihre 
Heimſtaͤtte. Sie hat doch den Mann und das Kind, und der 
Mann iſt ein Juwel, und das Kind iſt ein Engel, aber dabei tus, 
fie, als wäre Hohen⸗Cremmen immer noch die Har 
für fie, und Mann und Kind kaͤmen gegen uns beide nich; de⸗ 
Sie iſt eine praͤchtige Tochter, aber ſie iſt es mir zu ſehr. Es 
aͤngſtigt mich ein bißchen. Und iſt auch ungerecht gegen Inn⸗ 
ſtetten. Wie ſteht es denn eigentlich damit?“ 

„Ja, Brieſt, was meinſt du?“ 

„Nun, ich meine, was ich meine, und du weißt auch was. 
Iſt ſie gluͤcklich? Oder iſt da doch irgendwas im Wege? Von 
Anfang an war mir's ſo, als ob ſie ihn mehr ſchaͤtze als liebe. 
Und das iſt in meinen Augen ein ſchlimm Ding. Liebe haͤlt 
auch nicht immer vor, aber Schaͤtzung gewiß nicht. Eigentlich 


NN 


362 


aͤrgern ſich die Weiber, wenn fie wen ſchaͤtzen muͤſſen; erft ärgern 

ſie ſich, und dann langweilen ſie ſich, und zuletzt lachen ſie.“ 

„Haſt du ſo was an dir ſelber erfahren?“ 

„Das will ich nicht ſagen. Dazu ſtand ich nicht hoch genug 

in der Schaͤtzung. Aber ſchrauben wir uns nicht weiter, Luiſe. 

Sage, wie ſteht es?“ 

i „Ja, Brieſt, du kommſt immer auf dieſe Dinge zuruͤck. 

Da reicht ja kein dutzendmal, daß wir daruͤber geſprochen 
und unſere Meinungen ausgetauſcht haben, und immer biſt 
du wieder da mit deinem Alles⸗wiſſen⸗wollen und fragſt da⸗ 
bei fo ſchrecklich naio, als ob ich in alle Tiefen ſaͤhe. Was haft 
du nur fuͤr Vorſtellungen von einer jungen Frau und ganz 
ſpeziell von deiner Tochter? Glaubſt du, daß das alles ſo 
plan daliegt? Oder daß ich ein Orakel bin (ich kann mich nicht 
gleich auf den Namen der Perſon beſinnen) oder daß ich die 
Wahrheit ſofort klipp und klar in den Haͤnden halte, wenn 
mir Effi ihr Herz ausgeſchuͤttet hat? Oder was man wenigſtens 
fo nennt. Denn was heißt ausſchuͤtten? Das Eigentliche bleibt 
doch zuruͤck. Sie wird ſich huͤten, mich in ihre Geheimniſſe ein⸗ 
zuweihen. Außerdem, ich weiß nicht, von wem ſie's hat, ſie 
iſt .. . ja, fie iſt eine ſehr ſchlaue, kleine Perſon, und dieſe 
Kechlauheit an ihr iſt um ſo gefaͤhrlicher, weil ſie ſo ſehr liebens⸗ 
Wer; iſt. 

Ao das gibſt du doch zu .. liebenswuͤrdig. Und auch 

gyt?“ 

„Auch gut. Das heißt voll Herzensguͤte. Wie's ſonſt ſteht, 

da bin ich mir doch nicht ſicher; ich glaube, ſie hat einen Zug, 

den lieben Gott einen guten Mann ſein zu laſſen und ſich zu 

troͤſten, er werde wohl nicht allzu ſtreng mit ihr fein.” 

„Meinſt du?“ 
„Ja, das mein ich. Übrigens glaube ich, daß ſich vieles 
gebeſſert hat. Ihr Charakter iſt, wie er iſt, aber die Verhaͤltniſſe 
liegen ſeit ihrer Überfiedlung um vieles guͤnſtiger, und fie leben 


PP 


363 


ſich mehr und mehr ineinander ein. Sie hat mir fo was gefagt, 
und was mir wichtiger iſt, ich hab es auch beſtaͤtigt gefunden, 
mit Augen geſehen.“ 

„Nun, was ſagte ſie?“ 

„Sie ſagte: Mama, es geht jetzt beſſer. Innſtetten war 
immer ein vortrefflicher Mann, ſo einer, wie's nicht viele gibt, 
aber ich konnte nicht recht an ihn heran, er hatte ſo was 
Fremdes. Und fremd war er auch in ſeiner Zaͤrtlichkeit. 
Ja, dann am meiſten; es hat Zeiten gegeben, wo ich mich davor 
fürchtete,” 

„Kenn ich, kenn ich.“ 

„Was ſoll das heißen, Brieſt? Soll ich mich gefuͤrchtet 
haben oder willſt du dich gefuͤrchtet haben? Ich finde beides 
gleich laͤcherlich ...“ 

„Du wollteſt von Effi erzaͤhlen.“ 

„Nun alſo, ſie geſtand mir, daß dies Gefuͤhl des Fremden 
ſie verlaſſen habe, was ſie ſehr gluͤcklich mache. Keſſin ſei nicht 
der rechte Platz für fie geweſen, das ſpukige Haus und die Men⸗ 
ſchen da, die einen zu fromm, die andern zu platt; aber ſeit 
ihrer Überſiedlung nach Berlin fühle fie ſich ganz an ihrem Platz. 
Er ſei der beſte Menſch, etwas zu alt fuͤr ſie und zu gut fuͤr ſie, 
aber ſie ſei nun uͤber den Berg. Sie brauchte dieſen Ausdruck, 
der mir allerdings auffiel.“ 


„Wieſo? Er iſt 2 ganz auf der Hoͤhe, ich melde der 


Ausdruck. Aber... 

„Es ſteckt etwas dahinter. Und ſie hat mir das auch an⸗ 
deuten wollen.“ 

„Meinſt du?“ 

„Ja, Brieſt; du glaubſt immer, ſie koͤnne kein Waſſer truͤben. 
Aber darin irrſt du. Sie laͤßt ſich gern treiben, und wenn die 
Welle gut iſt, dann iſt ſie auch ſelber gut. Kampf und Wider⸗ 
ſtand ſind nicht ihre Sache.“ 

Roswitha kam mit Annie, und ſo brach das Geſpraͤch ab. 


364 


. 


„nn 


Dies Geſpraͤch führten Brieſt und Frau an demſelben Tage, 
wo Innſtetten von Hohen⸗Cremmen nach Berlin hin abgereiſt 


war, Effi auf wenigſtens noch eine Woche zuruͤcklaſſend. Er 


1 
3 
1 
N 5 
N 

\ 


wußte, daß es nichts Schoͤneres für fie gab, als fo ſorglos in 
einer weichen Stimmung hintraͤumen zu koͤnnen, immer freund⸗ 
liche Worte zu hören und die Verſicherung, wie liebenswuͤrdig 
ſie ſei. Ja, das war das, was ihr vor allem wohltat, und ſie 
genoß es auch diesmal wieder in vollen Zuͤgen und aufs dank⸗ 
barſte, trotzdem jede Zerſtreuung fehlte; Beſuch kam ſelten, weil 


N es ſeit ihrer Verheiratung, wenigſtens fuͤr die junge Welt, an 


dem rechten Anziehungspunkte gebrach, und ſelbſt die Pfarre 


| und die Schule waren nicht mehr das, was fie noch vor Jahr 


und Tag geweſen waren. Zumal im Schulhauſe ſtand alles 
halb leer. Die Zwillinge hatten ſich im Fruͤhjahr an zwei 
Lehrer in der Nähe von Genthin verheiratet, große Doppelhoch⸗ 
zeit mit Feſtbericht im „Anzeiger fuͤrs Havelland“, und Hulda 


war in Frieſack zur Pflege einer alten Erbtante, die ſich uͤbrigens, 


wie gewoͤhnlich in ſolchen Faͤllen, um ſehr viel langlebiger er⸗ 
wies, als Niemeyers angenommen hatten. Hulda ſchrieb aber 


trotzdem immer zufriedene Briefe, nicht weil ſie wirklich zu⸗ 
frieden war (im Gegenteil), ſondern weil ſie den Verdacht nicht 


aufkommen laſſen wollte, daß es einem ſo ausgezeichneten 
Weſen anders als ſehr gut ergehen koͤnne. Niemeyer, ein ſchwa⸗ 
cher Vater, zeigte die Briefe mit Stolz und Freude, waͤhrend 
der ebenfalls ganz in ſeinen Toͤchtern lebende Jahnke ſich 
herausgerechnet hatte, daß beide junge Frauen am ſelben Tage, 
und zwar am Weihnachtsheiligabend, ihre Niederkunft halten 
wuͤrden. Effi lachte herzlich und druͤckte dem Großvater in spe 
zunaͤchſt den Wunſch aus, bei beiden Enkeln zu Gevatter ger 
laden zu werden, ließ dann aber die Familienthemata fallen 
und erzaͤhlte von „Kjoͤbenhavn“ und Helſingoͤr, vom Limfjord 
und Schloß Aggerhuus, und vor allem von Thora von Penz, 
die, wie ſie nur ſagen koͤnne, „typiſch ſkandinaviſch“ geweſen ſei, 


365 


blauäugig, flachfen und immer in einer roten Pluͤſchtaille, wo⸗ 
bei ſich Jahnke verklaͤrte und einmal uͤber das andere ſagte: 
„Ja, ſo ſind ſie; rein germaniſch, viel deutſcher als die 
Oeutſchen.“ 

An ihrem Hochzeitstage, dem dritten Oktober, wollte Effi 
wieder in Berlin ſein. Nun war es der Abend vorher, und unter 
dem Vorgeben, daß ſie packen und alles zur Ruͤckreiſe vorbe⸗ 
reiten wolle, hatte fie ſich ſchon verhältnismäßig früh auf ihr 
Zimmer zuruͤckgezogen. Eigentlich lag ihr aber nur daran, allein 
zu ſein; ſo gern ſie plauderte, ſo hatte ſie doch auch Stunden, 
wo ſie ſich nach Ruhe ſehnte. 

Die von ihr im Oberſtock bewohnten Zimmer lagen nach 
dem Garten hinaus; in dem kleineren ſchlief Roswitha und 
Annie, die Tuͤr nur angelehnt, in dem groͤßeren, das ſie ſelber 
innehatte, ging ſie auf und ab; die unteren Fenſterfluͤgel waren 
geöffnet, und die kleinen, weißen Gardinen bauſchten ſich in 
dem Zuge, der ging, und fielen dann langſam uͤber die Stuhl⸗ 
lehne, bis ein neuer Zugwind kam und ſie wieder frei machte. 
Dabei war es ſo hell, daß man die Unterſchriften unter den uͤber 
dem Sofa hängenden und in ſchmale Goldleiſten eingerahmten 
Bildern deutlich leſen konnte: „Der Sturm auf Duͤppel, 
Schanze V.“ und daneben: „Koͤnig Wilhelm und Graf Bis⸗ 
marck auf der Höhe von Lipa.“ Effi ſchuͤttelte den Kopf und laͤ⸗ 
chelte. „Wenn ich wieder hier bin, bitt ich mir andere Bilder 
aus; ich kann ſo was Kriegeriſches nicht leiden.“ Und nun 
ſchloß ſie das eine Fenſter und ſetzte ſich an das andere, deſſen 
Fluͤgel fie offen ließ. Wie tat ihr das alles fo wohl. Neben dem 
Kirchturm ſtand der Mond und warf ſein Licht auf den Raſen⸗ 
platz mit der Sonnenuhr und den Heliotropheeten. Alles 
ſchimmerte ſilbern, und neben den Schattenſtreifen lagen 
weiße Lichtſtreifen, ſo weiß, als laͤge Leinwand auf der Bleiche. 
Weiterhin aber ſtanden die hohen Rhabarberſtauden wieder, 
die Blätter herbſtlich gelb, und fie mußte des Tages gedenken, 


366 


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nun erſt wenig uͤber zwei Jahre, wo ſie hier mit Hulda und den 
Jahnkeſchen Maͤdchen geſpielt hatte. Und dann war ſie, als 
der Beſuch kam, die kleine Steintreppe neben der Bank hinauf⸗ 
35 und eine Stunde ſpaͤter war ſie Braut. 
Seoie erhob ſich und ging auf die Tür zu und horchte: Ros⸗ 
witha ſchlief ſchon und Annie auch. 
Und mit einem Male, während fie das Kind fo vor fi 
hatte, traten ungerufen allerlei Bilder aus den Keſſiner Tagen 
wieder vor ihre Seele: das landraͤtliche Haus mit ſeinem 
Giebel und die Veranda mit dem Blick auf die Plantage, und ſie 
ſaß im Schaukelſtuhl und wiegte ſich; und nun trat Crampas 
an ſie heran, um fie zu begrüßen, und dann kam Roswitha mit 
dem Kinde, und ſie nahm es und hob es hoch in die Hoͤhe und 
kuͤßte es. 
| „Das war der erſte Tag; da fing es an.“ Und während 
ſie dem nachhing, verließ ſie das Zimmer, drin die beiden 
ſchliefen, und fegte ſich wieder an das offene Fenſter und ſah in 
die ſtille Nacht hinaus. 
Ich kann es nicht loswerden,“ ſagte fie. „Und was das 
. ſchlimmſte iſt und mich ganz irre macht an mir ſelbſt ...“ 
h In dieſem Augenblicke feste die Turmuhr drüben ein, 
und Effi zählte die Schläge. 
Hehn ... Und morgen um dieſe Stunde bin ich in Berlin. 
Und wir ſprechen davon, daß unſer Hochzeitstag ſei, und er 
ſagt mir Liebes und Freundliches und vielleicht Zaͤrtliches. Und 
ich ſitze dabei und hoͤre es und habe die Schuld auf meiner Seele.“ 
Und ſie ſtuͤtzte den Kopf auf ihre Hand und ſtarrte vor ſich 
hin und ſchwieg. 
„Und habe die Schuld auf meiner Seele wiederholte ſie. 
„Ja, da hab ich ſie. Aber laſtet ſie auch auf meiner Seele? 
Nein. Und das iſt es, warum ich vor mir ſelbſt erſchrecke. 
Was da kaſtet, das iſt etwas ganz anderes — Angſt, Todes⸗ 
angſt und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an 


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367 


den Tag. Und dann außer der Angft... Scham. Ich ſchaͤme 
mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, ſo hab ich auch 
nicht die rechte Scham. Ich ſchaͤme mich bloß von wegen dem 
ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich nicht 
luͤgen koͤnne und auch nicht zu luͤgen brauche, luͤgen iſt ſo gemein, 
und nun habe ich doch immer luͤgen muͤſſen, vor ihm und vor 
aller Welt, im großen und im kleinen, und Rummſchuͤttel hat 
es gemerkt und hat die Achſeln gezuckt, und wer weiß, was er 
von mir denkt, jedenfalls nicht das Beſte. Ja, Angſt quält 
mich und dazu Scham über mein Luͤgenſpiel. Aber Scham 
uͤber meine Schuld, die hab ich nicht oder doch nicht ſo recht 
oder doch nicht genug, und das bringt mich um, daß ich ſie nicht 
habe. Wenn alle Weiber fo find, dann iſt es ſchrecklich, und wenn 
ſie nicht ſo ſind, wie ich hoffe, dann ſteht es ſchlecht um mich, 
dann iſt etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt 
mir das richtige Gefuͤhl. Und das hat mir der alte Niemeyer 


in ſeinen guten Tagen noch, als ich noch ein halbes Kind war, 
mal geſagt: auf ein richtiges Gefühl, darauf Fame es an, und 


wenn man das habe, dann koͤnne einem das Schlimmſte nicht 
paſſieren, und wenn man es nicht habe, dann ſei man in einer 
ewigen Gefahr, und das, was man den Teufel nenne, das 
habe dann eine ſichere Macht uͤber uns. Um Gottes Barm⸗ 
herzigkeit willen, ſteht es ſo mit mir?“ 

Und ſie legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitterlich. 

Als ſie ſich wieder aufrichtete, war ſie ruhiger geworden 
und ſah wieder in den Garten hinaus. Alles war ſo ſtill, und 


—— — — 


ein leiſer, feiner Ton, wie wenn es regnete, traf von den Pla⸗ 


tanen her ihr Ohr. 


So verging eine Weile. Heruͤber von der Dorfſtraße klang 


ein Geplaͤrr: der alte Nachtwaͤchter Kulicke rief die Stunden 
ab, und als er zuletzt ſchwieg, vernahm ſie von fernher das 
Raſſeln des Zuges, der, auf eine halbe Meile Entfernung, an 
Hohen⸗Cremmen voruͤberfuhr. Dann wurde der Laͤrm wieder 


368 


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83 


ſchwaͤcher, endlich erſtarb er ganz, und nur der Mondſchein 
lag noch auf dem Grasplatz, und nur auf die Platanen rauſchte 
es nach wie vor wie leiſer Regen nieder. 

Aber es war nur Nachtluft, die ging. 


Fuͤnfundzwaänzigſtes Kapitel 


Am andern Abend war Effi wieder in Berlin, und Inn⸗ 
ſtetten empfing ſie am Bahnhof, mit ihm Rollo, der, als ſie 
plaudernd durch den Tiergarten hinfuhren, nebenher trabte. 

„Ich dachte ſchon, du wuͤrdeſt nicht Wort halten.“ 

„Aber Geert, ich werde doch Wort halten, das iſt doch das 
erſte.“ 

„Sage das nicht. Immer Wort halten iſt ſehr viel. Und 
mitunter kann man auch nicht. Denke doch zuruͤck. Ich erwartete 
dich damals in Keſſin, als du die Wohnung mieteteſt, und wer 
nicht kam, war Effi.“ 

„Ja, das war was anderes.“ | 

Sie mochte nicht ſagen „ich war krank,“ und Innſtetten 
hörte daruͤber hin. Er hatte feinen Kopf auch voll anderer 
Dinge, die ſich auf ſein Amt und ſeine geſellſchaftliche Stellung 
bezogen. „Eigentlich, Effi, faͤngt unſer Berliner Leben nun 
erſt an. Als wir im April hier einzogen, damals ging es mit 
der Saiſon auf die Neige, kaum noch, daß wir unſere Beſuche 
machen konnten, und Wuͤllersdorf, der einzige, dem wir naͤher⸗ 
ſtanden — nun, der iſt leider Junggeſelle. Von Juni an ſchlaͤft 
dann alles ein, und die heruntergelaſſenen Rouleaus ver⸗ 
kuͤnden einem ſchon auf hundert Schritt ‚Alles ausgeflogen“; 
ob wahr oder nicht, macht keinen Unterſchied .. Ja, was 
blieb da noch? Mal mit Vetter Brieſt ſprechen, mal bei Hiller 
eſſen, das iſt kein richtiges Berliner Leben. Aber nun ſoll es 
anders werden. Ich habe mir die Namen aller Raͤte notiert, 


IV 24 569 


die noch mobil genug find, um ein Haus zu machen. Und wir 
wollen es auch, wollen auch ein Haus machen, und wenn 
der Winter dann da iſt, dann ſoll es im ganzen Miniſterium 
heißen: ‚Sa, die liebenswuͤrdigſte Frau, die wir jetzt haben, 
das iſt doch die Frau von Innſtetten.“ 

„Ach, Geert, ich kenne dich ja gar nicht wieder, du ſprichſt 
ja wie ein Courmacher.“ 

„Es iſt unſer Hochzeitstag, und da mußt du mir ſchon was 
zugute halten.“ 


Innſtetten war ernſthaft gewillt, auf das ſtille Leben, das 


er in ſeiner landraͤtlichen Stellung gefuͤhrt, ein geſellſchaftlich 


angeregteres folgen zu laſſen, um ſeinet⸗ und noch mehr um 
Effis willen; es ließ ſich aber anfangs nur ſchwach und ver⸗ 
einzelt damit an, die rechte Zeit war noch nicht gekommen, und 
das Beſte, was man zunaͤchſt von dem neuen Leben hatte, war 
genau ſo wie waͤhrend des zuruͤckliegenden Halbjahres, ein 
Leben im Hauſe. Wuͤllersdorf kam oft, auch Vetter Brieſt, und 
waren die da, ſo ſchickte man zu Gizickis hinauf, einem jungen 
Ehepaare, das über ihnen wohnte. Gizicki ſelbſt war Land⸗ 
gerichtsrat, ſeine kluge, aufgeweckte Frau ein Fraͤulein von 
Schmettau. Mitunter wurde muſtziert, kurze Zeit ſogar ein 
Whiſt verſucht; man gab es aber wieder auf, weil man fand, 
daß eine Plauderei gemuͤtlicher waͤre. Gizickis hatten bis vor 


kurzem in einer kleinen oberſchleſiſchen Stadt gelebt, und 


Wuͤllersdorf war ſogar, freilich vor einer Reihe von Jahren 
ſchon, in den verſchiedenſten kleinen Neſtern der Provinz Poſen 
geweſen, weshalb er denn auch den bekannten Spottvers: 
Schrimm 

Iſt ſchlimm, 

Rogaſen 

Zum Raſen, 

Aber weh dir nach Samter 

Verdammter — 


370 


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mit ebenſoviel Emphafe wie Vorliebe zu zitieren pflegte. Nies 
mand erheiterte ſich dabei mehr als Effi, was dann meiſtens 

Veranlaſſung wurde, kleinſtaͤdtiſche Geſchichten in Huͤlle und 
Fuͤlle folgen zu laſſen. Auch Keſſin mit Gieshuͤbler und der 
Trippelli, mit Oberfoͤrſter Ring und Sidonie Graſenabb — 
kam dann wohl an die Reihe, wobei ſich Innſtetten, wenn er 
guter Laune war, nicht leicht genug tun konnte. „Ja,“ ſo hieß 
es dann wohl, „unſer gutes Keſſin! Das muß ich zugeben, es 
war eigentlich reich an Figuren, obenan Crampas, Major 
Crampas, ganz Beau und halber Barbaroſſa, den meine Frau, 
ich weiß nicht, ſoll ich ſagen unbegreiflicher⸗ oder begreiflicher⸗ 
weiſe, ſtark in Affektion genommen hatte ...“ — „Sagen wir 
begreiflicherweiſe,“ warf Wuͤllersdorf ein, „denn ich nehme 
an, daß er Reſſourcenvorſtand war und Komoͤdie ſpielte, 
Liebhaber oder Bonvivants. Und vielleicht noch mehr, vielleicht 
war er auch ein Tenor.“ Innſtetten beſtaͤtigte das eine wie 
das andere, und Effi ſuchte lachend darauf einzugehen, aber 
es gelang ihr nur mit Anſtrengung, und wenn dann die Gaͤſte 
gingen und Innſtetten ſich in ſein Zimmer zuruͤckzog, um noch 
einen Stoß Akten abzuarbeiten, ſo fuͤhlte ſie ſich immer aufs 
neue von den alten Vorſtellungen gequaͤlt, und es war ihr zu 
Sinn, als ob ihr ein Schatten nachginge. 

Solche Beaͤngſtigungen blieben ihr auch. Aber ſie kamen 
doch ſeltener und ſchwaͤcher, was bei der Art, wie ſich ihr Leben 
geſtaltete, nicht wundernehmen konnte. Die Liebe, mit der ihr 
nicht nur Innſtetten, ſondern auch fernerſtehende Perſonen 
\ begegneten, und nicht zum wenigſten die beinah zaͤrtliche Freund⸗ 
ſchaft, die die Miniſterin, eine ſelbſt noch junge Frau, für fie 
an den Tag legte — all das ließ die Sorgen und Angſte zuruͤck⸗ 

liegender Tage ſich wenigſtens mindern, und als ein zweites 
Jahr ins Land gegangen war und die Kaiſerin, bei Gelegenheit 
einer neuen Stiftung, die „Frau Geheimraͤtin“ mit ausgewaͤhlt 
und in die Zahl der Ehrendamen eingereiht, der alte Kaiſer 


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24* | 371 


Wilhelm aber auf dem Hofball gnaͤdige, huldvolle Worte an 
die ſchoͤne junge Frau, „von der er ſchon gehoͤrt habe,“ ge⸗ 
richtet hatte, da fiel es allmaͤhlich von ihr ab. Es war einmal 
geweſen, aber weit weit weg, wie auf einem andern Stern, 
und alles loͤſte ſich wie ein Nebelbild und wurde Traum. 
Die Hohen⸗Cremmener kamen dann und wann auf Beſuch 
und freuten ſich des Gluͤcks der Kinder, Annie wuchs heran 
— „ſchoͤn wie die Großmutter,“ ſagte der alte Brieſt — und 
wenn es an dem klaren Himmel eine Wolke gab, ſo war es die, 
daß es, wie man nun beinahe annehmen mußte, bei Klein⸗ 
Annie ſein Bewenden haben werde; Haus Innſtetten (denn es 
gab nicht einmal Namensvettern) ſtand alſo mutmaßlich auf 
dem Ausſterbeetat. Brieſt, der den Fortbeſtand anderer 
Familien obenhin behandelte, weil er eigentlich nur an die 
Brieſts glaubte, ſcherzte mitunter daruͤber und ſagte: „Ja, 
Innſtetten, wenn das ſo weiter geht, ſo wird Annie ſeiner Zeit 
wohl einen Bankier heiraten (hoffentlich einen chriſtlichen, wenn's 
deren dann noch gibt) und mit Ruͤckſicht auf das alte frei⸗ 
herrliche Geſchlecht der Innſtetten wird dann Seine Majeſtaͤt 
Annies Haute finance-Kinder unter dem Namen ‚von der 
Innſtetten im Gothaiſchen Kalender, oder was weniger wichtig 
iſt, in der preußiſchen Geſchichte fortleben laſſen“ — Aus⸗ 
fuͤhrungen, die von Innſtetten ſelbſt immer mit einer kleinen 
Verlegenheit, von Frau von Brieſt mit Achſelzucken, von Effi 
dagegen mit Heiterkeit aufgenommen wurden. Denn ſo adels⸗ 
ſtolz ſie war, ſo war ſie's doch nur fuͤr ihre Perſon, und ein 
eleganter und welterfahrener und vor allem ſehr, ſehr reicher 
Bankierſchwiegerſohn wäre durchaus nicht gegen ihre Wünſche 
geweſen. BEE 
Ja, Effi nahm die Erbfolgefrage leicht, wie junge, reizende 
Frauen das tun; als aber eine lange, lange Zeit — ſie waren 
ſchon im ſiebenten Jahre in ihrer neuen Stellung — vergangen 
war, wurde der alte Rummſchuͤttel, der auf dem Gebiete der 


372 


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Gynäkologie nicht ganz ohne Ruf war, durch Frau von Vrieſt 
doch ſchließlich zu Rate gezogen. Er verordnete Schwalbach. 
Weil aber Effi ſeit letztem Winter auch an katarrhaliſchen 
Affektionen litt und ein paarmal ſogar auf Lunge hin be⸗ 
horcht worden war, fo hieß es abſchließend: „Alſo zunaͤchſt 
Schwalbach, meine Gnaͤdigſte, ſagen wir drei Wochen und dann 
ebenſo lange Ems. Bei der Emſer Kur kann aber der Geheimrat 
zugegen ſein. Bedeutet mithin alles in allem drei Wochen 
Trennung. Mehr kann ich fuͤr Sie nicht tun, lieber Innſtetten.“ 

Damit war man denn auch einverſtanden, und zwar ſollte 
Effi, dahin ging ein weiterer Beſchluß, die Reiſe mit einer 
Geheimraͤtin Zwicker zuſammen machen, wie Brieſt ſagte „zum 
Schutze dieſer letzteren,“ worin er nicht ganz unrecht hatte, da 
die Zwicker, trotz guter vierzig, eines Schutzes erheblich beduͤrf⸗ 
tiger war als Effi. Innſtetten, der wieder viel mit Vertretung 
zu tun hatte, beklagte, daß er, von Schwalbach gar nicht zu 
reden, wahrſcheinlich auch auf gemeinſchaftliche Tage in Ems 
werde verzichten muͤſſen. Im uͤbrigen wurde der 24. Juni 


FJohannistag) als Abreiſetag feſtgeſetzt, und Roswitha half 


der gnaͤdigen Frau beim Packen und Aufſchreiben der Waͤſche. 
Effi hatte noch immer die alte Liebe fuͤr ſie, war doch Roswitha 
die einzige, mit der ſie von all dem Zuruͤckliegenden, von Keſſin 
und Crampas, von dem Chineſen und Kapitaͤn Thomſens 
Nichte frei und unbefangen reden konnte. 

„Sage, Roswitha, du biſt doch eigentlich katholiſch. Gehſt 
du denn nie zur Beichte?“ 

„Nein.“ 

„Warum nicht?“ 

„Ich bin fruͤher gegangen. Aber das Richtige hab ich doch 
nicht geſagt.“ 

„Das iſt ſehr unrecht. Dann freilich kann es nicht helfen.“ 

„Ach, gnaͤdigſte Frau, bei mir im Dorfe machten es alle ſo. 
Und welche waren, die kicherten bloß.“ 


1 


„Haft du denn nie empfunden, daß es ein Gluck iſt, wenn 
man etwas auf der Seele hat, daß es runter kann?“ 

„Nein, gnaͤdigſte Frau. Angſt habe ich wohl gehabt, als 
mein Vater damals mit dem gluͤhenden Eiſen auf mich los 
kam; ja, das war eine große Furcht, aber weiter war es nichts.“ 

„Nicht vor Gott?“ 

„Nicht ſo recht, gnaͤdigſte Frau. Wenn man ſich vor ſeinem 
Vater ſo fuͤrchtet, wie ich mich gefuͤrchtet habe, dann fuͤrchtet 
man ſich nicht ſo ſehr vor Gott. Ich habe bloß immer gedacht, 
der liebe Gott ſei gut und werde mir armem Wurm ſchon 
helfen.“ 

Effi laͤchelte und brach ab und fand es auch natuͤrlich, 
daß die arme Roswitha ſo ſprach, wie ſie ſprach. Sie ſagte aber 
doch: „Weißt du, Roswitha, wenn ich wiederkomme, muͤſſen 
wir noch mal ernſtlich drüber reden. Es war doch eigentlich 
eine große Suͤnde.“ 

„Das mit dem Kinde, und daß es verhungert iſt? Ja, 
gnaͤdigſte Frau, das war es. Aber ich war es ja nicht, das 
waren ja die anderen ... Und dann iſt es auch ſchon fo ſehr 
lange her.“ 


Sechsundzwanzigſtes Kapitel 


Effi war nun ſchon in die fuͤnfte Woche fort und ſchrieb 
gluͤckliche, beinahe uͤbermuͤtige Briefe, namentlich ſeit ihrem 
Eintreffen in Ems, wo man doch unter Menſchen ſei, das heißt 
unter Maͤnnern, von denen ſich in Schwalbach nur ausnahms⸗ 


weiſe was gezeigt habe. Geheimraͤtin Zwicker, ihre Reiſe⸗ c 


gefaͤhrtin, habe freilich die Frage nach dem Kurgemaͤßen dieſer 
Zutat aufgeworfen und ſich aufs entſchiedenſte dagegen aus⸗ 
geſprochen, alles natuͤrlich mit einem Geſichtsausdrucke, der ſo 
ziemlich das Gegenteil verſichert habe; die Zwicker ſei reizend, 


374 


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etwas frei, wahrſcheinlich ſogar mit einer Vergangenheit, aber 


hoͤchſt amuͤſant, und man koͤnne viel, ſehr viel von ihr lernen; 
nie habe ſie ſich, trotz ihrer fuͤnfundzwanzig, ſo als Kind ge⸗ 
fuͤhlt, wie nach der Bekanntſchaft mit dieſer Dame. Dabei ſei 
ſie ſo beleſen, auch in fremder Literatur, und als ſie, Effi, 
beiſpielsweiſe neulich von Nana geſprochen und dabei gefragt 
habe, „ob es denn wirklich ſo ſchrecklich ſei“, habe die Zwicker 
geantwortet: „Ach, meine liebe Baronin, was heißt ſchrecklich? 
Da gibt es noch ganz anderes.“ „Sie ſchien mich auch,“ ſo 


ſchloß Effi ihren Brief, „mit dieſem ‚anderen‘ bekannt machen 


zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß, daß du 
die Unſitte unſerer Zeit aus dieſem und aͤhnlichem herleiteſt, und 
wohl mit Recht. Leicht iſt es mir aber nicht geworden. Dazu 
kommt noch, daß Ems in einem Keſſel liegt. Wir leiden hier 
außerordentlich unter der Hitze.“ 

Innſtetten hatte dieſen letzten Brief mit geteilten Empfin⸗ 
dungen geleſen, etwas erheitert, aber doch auch ein wenig 


mißmutig. Die Zwicker war keine Frau für Effi, der nun 


mal ein Zug innewohnte, ſich nach links hin treiben zu laſſen; 
er gab es aber auf, irgendwas in dieſem Sinne zu ſchreiben, 
einmal weil er ſie nicht verſtimmen wollte, mehr noch, weil er 
ſich ſagie, daß es doch nichts helfen wuͤrde. Dabei ſah er der 
Ruͤckkehr ſeiner Frau mit Sehnſucht entgegen und beklagte des 
Dienſtes nicht bloß „immer gleichgeſtellte“, ſondern jetzt, wo 
jeder Miniſterialrat fort war oder fort wollte, leider auch auf 
Doppelſtunden geſtellte Uhr. 

Ja, Innſtetten ſehnte ſich nach Unterbrechung von Ar⸗ 
beit und Einſamkeit, und verwandte Gefuͤhle hegte man drau⸗ 
ßen in der Kuͤche, wo Annie, wenn die Schulſtunden hinter ihr 
„lagen, ihre "Zeit am liebſten verbrachte, was inſoweit ganz 
atärlich war, als Roswitha und Johanna nicht nur das 
Heine Fräulein in gleichem Maße liebten, ſondern auch unter; 
einander nach wie vor auf dem beſten Fuße ſtanden. Dieſe 


375 


Freundſchaft der beiden Mädchen war ein Lieblingsgeſpraͤch 
zwiſchen den verſchiedenen Freunden des Hauſes, und Land⸗ 
gerichtsrat Gizicki ſagte dann wohl zu Wuͤllersdorf: „Ich ſehe 
darin nur eine neue Beſtaͤtigung des alten Weisheitsſatzes: 


Laßt fette Leute um mich fein‘; Caͤſar war eben ein Menſchen⸗ 


kenner und wußte, daß Dinge, wie Behaglichkeit und Umgaͤng⸗ 


lichkeit, eigentlich nur beim Embonpoint ſind.“ Von einem 
ſolchen ließ ſich denn nun bei beiden Maͤdchen auch wirklich 


ſprechen, nur mit dem Unterſchiede, daß das in dieſem Falle 
nicht gut zu umgehende Fremdwort bei Roswitha ſchon ſtark 
eine Beſchoͤnigung, bei Johanna dagegen einfach die zutreffende 
Bezeichnung war. Dieſe letztere durfte man naͤmlich nicht 


eigentlich korpulent nennen, ſie war nur prall und drall und 


ſah jederzeit mit einer eigenen, ihr uͤbrigens durchaus kleidenden 
Siegermiene gradlinig und blauaͤugig uͤber ihre Normal⸗ 
buͤſte fort. Von Haltung und Anſtand getragen, lebte ſie ganz 
in dem Hochgefuͤhl, die Dienerin eines guten Hauſes zu ſein, 
wobei ſie das Überlegenheitsbewußtſein uͤber die halb baͤueriſch 


gebliebene Roswitha in einem fo hohen Maße hatte, daß ſie, 


was gelegentlich vorkam, die momentan bevorzugte Stellung 


dieſer nur belaͤchelte. Dieſe Bevorzugung, — nun ja, wenn's | 


dann mal fo fein follte, war eine kleine liebenswuͤrdige Sonder, 


barkeit der gnaͤdigen Frau, die man der guten, alten Ros⸗ 


witha mit ihrer ewigen Geſchichte „von dem Vater mit der 
gluͤhenden Eiſenſtange“ ſchon goͤnnen konnte. „Wenn man 
ſich beſſer hält, fo kann dergleichen nicht vorkommen.“ Das 
alles dachte ſie, ſprach's aber nicht aus. Es war eben ein freund⸗ 
liches Miteinanderleben. Was aber wohl ganz beſonders fuͤr 
Frieden und gutes Einvernehmen ſorgte, das war der Um⸗ 
ſtand, daß man ſich, nach einem ſtillen Übereinkommen, in die 
Behandlung und faſt auch Erziehung Annies geteilt hatte. 
Roswitha hatte das poetiſche Departement, die Maͤrchen⸗ 
und Geſchichtenerzaͤhlung, Johanna dagegen das des Anſtands, 


376 


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eine Teilung, die huͤben und druͤben ſo feſt gewurzelt ſtand, 


daß Kompetenzkonflikte kaum vorkamen, wobei der Charakter 
Annies, die eine ganz entſchiedene Neigung hatte, das vornehme 
Fraͤulein zu betonen, allerdings mithalf, eine Rolle, bei der 
ſie keine beſſere Lehrerin als Johanna haben konnte. 

Noch einmal alſo: Beide Maͤdchen waren gleichwertig in 
Annies Augen. In dieſen Tagen aber, wo man ſich auf die 
Ruͤckkehr Effis vorbereitete, war Roswitha der Rivalin mal 
wieder um einen Pas voraus, weil ihr, und zwar als etwas 
ihr Zuſtaͤndiges, die ganze Begruͤßungsangelegenheit zuge⸗ 
fallen war. Dieſe Begruͤßung zerfiel in zwei Hauptteile: 
Girlande mit Kranz und dann, abſchließend, Gedichtvortrag. 
Kranz und Girlande — nachdem man über „W.“ oder „E. v. J.“ 
eine Zeitlang geſchwankt — hatte zuletzt keine ſonderlichen 
Schwierigkeiten gemacht („W“, in Vergißmeinnicht geflochten, 
war bevorzugt worden), aber deſto groͤßere Verlegenheit ſchien 
die Gedichtfrage heraufbeſchwoͤren zu ſollen und waͤre vielleicht 
ganz unbeglichen geblieben, wenn Roswitha nicht den Mut gehabt 


haͤtte, den von einer Gerichtsſitzung heimkehrenden Landgerichts⸗ 


rat auf der zweiten Treppe zu ſtellen und ihm mit einem auf 
einen „Vers“ gerichteten Anſinnen mutig entgegenzutreten. 
Gizicki, ein ſehr gütiger Herr, hatte ſofort alles verſprochen, und 
noch am ſelben Spaͤtnachmittage war ſeitens ſeiner Koͤchin der ge⸗ 
wuͤnſchte Vers, und zwar folgenden Inhalts, abgegeben worden: 


Mama, wir erwarten dich lange ſchon, 
Durch Wochen und Tage und Stunden, 

Nun gruͤßen wir dich von Flur und Balkon 

Und haben Kraͤnze gewunden. 

Nun lacht Papa voll Freudigkeit, 

Denn die gattin⸗ und mutterloſe Zeit 

Iſt endlich von ihm genommen, 

Und Roswitha lacht und Johanna dazu, 

Und Annie ſpringt aus ihrem Schuh 

Und ruft: willkommen, willkommen. 


377 


Es verſteht ſich von felbft, daß die Strophe noch an dem⸗ 


ſelben Abend auswendig gelernt, aber doch nebenher auch 
auf ihre Schoͤnheit, beziehungsweiſe Nicht⸗Schoͤnheit kritiſch 
gepruͤft worden war. Das Betonen von Gattin und Mutter, 
ſo hatte ſich Johanna geaͤußert, erſcheine zunaͤchſt freilich in der 
Ordnung; aber es laͤge doch auch etwas darin, was Anſtoß 
erregen koͤnne, und ſie perſoͤnlich wuͤrde ſich als „Gattin und 
Mutter“ dadurch verletzt fuͤhlen. Annie, durch dieſe Bemerkung 
einigermaßen geaͤngſtigt, verſprach, das Gedicht am andern 
Tage der Klaſſenlehrerin vorlegen zu wollen und kam mit dem 
Bemerken zuruͤck: „Das Fräulein ſei mit ‚Gattin und Mutter‘ 
durchaus einverſtanden, aber deſto mehr gegen „Roswitha 
und Johanna geweſen,“ — worauf Ros witha erklaͤrt hatte: 
„Das Fraͤulein ſei eine dumme Gans; das kaͤme davon, wenn 
man zuviel gelernt habe.“ N 


Es war an einem Mittwoch, daß die Maͤdchen und Annie 5 | 


das vorſtehende Gefpräch geführt und den Streit um die bez 


maͤngelte Zeile beigelegt hatten. Am andern Morgen — ein 2 
erwarteter Brief Effis hatte noch den mutmaßlich erſt in den 
Schluß der naͤchſten Woche fallenden Ankunftstag feſtzuſtellen 


— ging Innſtetten auf das Miniſterium. Jetzt war Mittag 


heran, die Schule aus, und als Annie, ihre Mappe auf dm 


Ruͤcken, eben vom Kanal her auf die Keithſtraße zuſchritt, — 
ſie Roswitha vor ihrer Wohnung. 

„Nun laß ſehen,“ ſagte Annie, „wer am eheſten von ws 
die Treppe heraufkommt.“ Roswitha wollte von dieſem Wett⸗ 


lauf nichts wiſſen, aber Annie jagte voran, geriet, oben an⸗ 
gekommen, ins Stolpern und fiel dabei fo ungluͤcklich, daß ſie 
mit der Stirn auf den dicht an der Treppe befindlichen Ab⸗ k 
kratzer aufſchlug und ſtark blutete. Roswitha, muͤhevoll nad 
keuchend, riß jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas 
veraͤngſtigte Kind hineingetragen hatte, beratſchlagte man, 


378 


8 


1 
3 


was nun wohl zu machen ſei. „Wir wollen nach dem Doktor 
ſchicken, . .. wir wollen nach dem gnaͤdigen Herrn ſchicken 
des Portiers Lene muß ja jetzt auch aus der Schule wieder da 
fein. ” Es wurde aber alles wieder verworfen, weil es zu lange 
dauere, man muͤſſe gleich was tun, und ſo packte man denn 
das Kind aufs Sofa und begann mit kaltem Waſſer zu kuͤhlen. 
Alles ging auch gut, ſo daß man ſich zu beruhigen begann. 
„Und nun wollen wir fie verbinden,“ ſagte ſchließlich Roswitha. 
„Da muß ja noch die lange Binde ſein, die die gnaͤdige Frau 
letzten Winter zuſchnitt, als fie ſich auf dem Eiſe den Fuß ver; 
knickt hatte...” „Freilich, freilich,“ ſagte Johanna, „bloß wo 
die Binde hernehmen? ... Richtig, da fällt mir ein, die liegt 
im Naͤhtiſch. Er wird wohl zu fein, aber das Schloß iſt Spielerei; 
holen Sie nur das Stemmeiſen, Roswitha, wir wollen den 
Deckel aufbrechen.“ Und nun wuchteten fie auch wirklich den 
Deckel ab und begannen in den Faͤchern umherzukramen, oben 
und unten, die zuſammengerollte Binde jedoch wollte ſich nicht 
finden laſſen. „Ich weiß aber doch, daß ich ſie geſehen habe,“ ſagte 
Ros witha, und waͤhrend ſie halb aͤrgerlich immer weiter ſuchte, 
flog alles, was ihr dabei zu Haͤnden kam, auf das breite Fenſter⸗ 
brett: Naͤhzeug, Nadelkiſſen, Rollen mit Zwirn und Seide, 
kleine vertrocknete Veilchenſtraͤußchen, Karten, Billetts, zuletzt 
ein kleines Konvolut von Briefen, das unter dem dritten Ein⸗ 
ſatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfaden 
umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer nicht. 
In dieſem Augenblicke trat Innſtetten ein. 

„Gott,“ ſagte Roswitha und ſtellte ſich erſchreckt neben 
das Kind. „Es iſt nichts, gnaͤdiger Herr; Annie iſt auf das 
Klratzeiſen gefallen ... Gott, was wird die gnaͤdige Frau ſagen. 
und doch iſt es ein Gluͤck, daß ſie nicht mit dabei war.“ 

Innſtetten hatte mittlerweile die vorlaͤufig aufgelegte 
Kompreſſe fortgenommen und ſah, daß es ein tiefer Riß, ſonſt 
aber ungefaͤhrlich war. „Es iſt nicht ſchlimm,“ ſagte er; „trotz⸗ 


379 


eee 9 


dem, Roswitha, wir muͤſſen ſehen, daß Rummfchüttel kommt. 
Lene kann ja gehen, die wird jetzt Zeit haben. Aber was in aller 
Welt iſt denn das da mit dem Naͤhtiſch?“ 

Und nun erzaͤhlte Roswitha, wie ſie nach der gerollten 
Binde geſucht haͤtten; aber ſie woll es nun aufgeben, und lieber 
eine neue Leinwand ſchneiden. 

Innſtetten war einverſtanden und ſetzte ſich, als bald da⸗ 
nach beide Maͤdchen das Zimmer verlaſſen hatten, zu dem Kinde. 
„Du biſt ſo wild, Annie, das haſt du von der Mama. Immer 
wie ein Wirbelwind. Aber dabei kommt nichts heraus oder 
hoͤchſtens ſo was.“ Und er wies auf die Wunde und gab ihr 
einen Kuß. „Du haſt aber nicht geweint, das iſt brav, und 
darum will ich dir die Wildheit verzeihen ... Ich denke, der 
Doktor wird in einer Stunde hier ſein; tu nur alles, was er 
ſagt, und wenn er dich verbunden hat, fo zerre nicht und rüde 
und druͤcke nicht daran, dann heilt es ſchnell, und wenn die 
Mama dann kommt, dann iſt alles wieder in Ordnung oder doch 
beinah. Ein Gluͤck iſt es aber doch, daß es noch bis naͤchſte 
Woche dauert, Ende naͤchſter Woche, ſo ſchreibt ſie mir; eben 
habe ich einen Brief von ihr bekommen; fie laͤßt dich grüßen 
und freut ſich, dich wiederzuſehen.“ 


2 
Pr 


— 


„Du koͤnnteſt mir den Brief eigentlich vorleſen, Papa.“ 


„Das will ich gern.“ a 

Aber eh er dazu kam, kam Johanna, um zu ſagen, daß das 
Eſſen aufgetragen ſei. Annie, trotz ihrer Wunde, ſtand mit auf, 
und Vater und Tochter ſetzten ſich zu Tiſch. 


Siebenundzwanzigſtes Kapitel 


Innſtetten und Annie ſaßen ſich eine Weile ſtumm gegen⸗ 


uͤber; endlich als ihm die Stille peinlich wurde, tat er ein 3 


paar Fragen über die Schulvorſteherin und welche Lehrerin 


380 


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2 


3 fie eigentlich am Tiebften habe. Annie antwortete auch, aber 


ohne rechte Luſt, weil ſie fuͤhlte, daß Innſtetten wenig bei der 
Sache war. Es wurde erſt beſſer, als Johanna nach dem zwei⸗ 
ten Gericht ihrem Anniechen zufluͤſterte, es gaͤbe noch was. 


Und wirklich, die gute Roswitha, die dem Liebling an dieſem 
UVngluͤckstage was ſchuldig zu fein glaubte, hatte noch ein uͤb⸗ 


riges getan und ſich zu einer Omelette mit Apfelſchnitten auf⸗ 


geſchwungen. 


Annie wurde bei dieſem Anblicke denn auch etwas redſeliger, 
und ebenſo zeigte ſich Innſtettens Stimmung gebeſſert, als es 
gleich danach klingelte und Geheimrat Rummſchuͤttel eintrat. 
Ganz zufällig. Er ſprach nur vor, ohne jede Ahnung, daß 
man nach ihm geſchickt und um ſeinen Beſuch gebeten habe. 
Mit den aufgelegten Kompreſſen war er zufrieden. „Laſſen Sie 
noch etwas Bleiwaſſer holen und Annie morgen zu Hauſe 
bleiben. Überhaupt Ruhe.“ Dann frug er noch nach der gnaͤ⸗ 
digen Frau und wie die Nachrichten aus Ems ſeien; er werde 
den andern Tag wiederkommen und nachſehen. 


Als man von Tiſch aufgeſtanden und in das nebenan ge⸗ 
legene Zimmer — dasſelbe, wo man mit ſo viel Eifer und doch 
vergebens nach dem Verbandſtuͤck geſucht hatte — eingetreten 
war, wurde Annie wieder auf das Sofa gebettet. Johanna 
kam und ſetzte ſich zu dem Kinde, waͤhrend Innſtetten die zahl⸗ 
loſen Dinge, die bunt durcheinandergewuͤrfelt noch auf dem 


Fenſterbrett umherlagen, wieder in den Naͤhtiſch einzuraͤumen 


begann. Dann und wann wußte er ſich nicht recht Rat und 
mußte fragen. 

„Wo haben die Briefe gelegen, Johanna?“ 

„Ganz zu unterſt,“ ſagte dieſe, „bier in dieſem Fach.“ 

Und waͤhrend ſo Frage und Antwort ging, betrachtete 
Innſtetten etwas aufmerkſamer als vorher das kleine, mit 
einem roten Faden zuſammengebundene Paket, das mehr 


381 


aus einer Anzahl zuſammengelegter Zettel, als aus Brie; 
fen zu beſtehen ſchien. Er fuhr, als waͤre es ein Spiel 


Karten, mit dem Daumen und Zeigefinger an der Seite des 


Paͤckchens hin und einige geilen, eigentlich nur vereinzelte 
Worte, flogen dabei an feinem Auge vorüber. Von deutlichem 
Erkennen konnte keine Rede ſein, aber es kam ihm doch ſo 
vor, als habe er die Schriftzuͤge ſchon irgendwo geſehen. Ob 
er nachſehen ſolle? 

„Johanna, Sie koͤnnen uns den Kaffee bringen. Annie 
trinkt auch eine halbe Taſſe. Der Doktor hat's nicht verboten, 
und was nicht verboten iſt, iſt erlaubt.“ 

Als er das ſagte, wand er den roten Faden ab und ließ, 
während Johanna das Zimmer verließ, den ganzen Inhalt 
des Paͤckchens raſch durch die Finger gleiten. Nur zwei, drei 
Briefe waren adreſſiert: „An Frau Landrat von Innſtetten.“ 
Er erkannte jetzt auch die Handſchrift; es war die des Majors. 
Innſtetten wußte nichts von einer Korreſpondenz zwiſchen 
Crampas und Effi, und in ſeinem Kopfe begann ſich alles zu 
drehen. Er ſteckte das Paket zu ſich und ging in ſein Zimmer 
zuruͤck. Etliche Minuten ſpaͤter und Johanna, zum Zeichen, 
daß der Kaffee da ſei, klopfte leis an die Tür, Innſtetten ant 
wortete auch, aber dabei blieb es; ſonſt alles ſtill. Erſt nach 
einer Viertelſtunde hoͤrte man wieder ſein Auf⸗ und Abſchreiten 
auf dem Teppich. „Was nur Papa hat?“ ſagte Johanna zu 
Annie. „Der Doktor hat ihm doch geſagt, es ſei nichts.“ 


Das Auf⸗ und Abſchreiten nebenan wollte kein Ende 
nehmen. Endlich erſchien Innſtetten wieder im Nebenzimmer 
und ſagte: „Johanna, achten Sie auf Annie und daß ſie ruhig 
auf dem Sofa bleibt. Ich will eine Stunde gehen oder viel u 
leicht zwei.“ 4 

Dann ſah er das Kind aufmerkſam an und entfernte fh 3 

„Haſt du gefehen, Johanna, wie Papa ausfah?” 


382 


Ja, Annie. Er muß einen großen Arger gehabt haben. 
Er war ganz blaß. So hab ich ihn noch nie geſehen.“ 
Es vergingen Stunden. Die Sonne war ſchon unter, 
5 und nur ein roter Widerſchein lag noch uͤber den Daͤchern druͤ⸗ 
ben, als Innſtetten wieder zurüͤckkam. Er gab Annie die Hand, 
fragte, wie's ihr gehe, und ordnete dann an, daß ihm Johanna 
die Lampe in ſein Zimmer bringe. Die Lampe kam auch. In 
dem grunen Schirm befanden ſich halb durchſichtige Ovale mit 
Photographien, allerlei Bildniſſe feiner Frau, die noch in Keſ⸗ 
4 fin, damals, als man den Wichertſchen „Schritt vom Wege“ 
aufgefuͤhrt hatte, für die verſchiedenen Mitſpielenden angefertigt 
waren. Innſtetten drehte den Schirm langſam von links nach 
rechts und muſterte jedes einzelne Bildnis. Dann ließ er davon 
ab, oͤffnete, weil er es ſchwuͤl fand, die Balkontuͤr und nahm 
ſchließlich das Briefpaket wieder zur Hand. Es ſchien, daß er 
1 gleich beim erſten Durchſehen ein paar davon ausgewaͤhlt 
und obenauf gelegt hatte. Dieſe las er jetzt noch einmal mit 
halblauter Stimme. 

„Sei heute nachmittag wieder in den Dünen, hinter der 
Muͤhle. Bei der alten Adermann koͤnnen wir uns ruhig ſprechen, 
das Haus iſt abgelegen genug. Du mußt Dich nicht um alles 
ſo bangen. Wir haben auch ein Recht. Und wenn Du Dir das 
eindringlich ſagſt, wird, denk ich, alle Furcht von Dir abfallen. 
Das Leben waͤre nicht des Lebens wert, wenn das alles gelten 
ſollte, was zufällig gilt. Alles Beſte liegt jenſeits davon. Lerne 
Dich daran freuen.“ 

. Fort, fo ſchreibſt Du, Flucht. Unmoͤglich. Ich kann 
meine Frau nicht im Stich laſſen, zu allem andern auch noch 
in Rot. Es geht nicht, und wir muͤſſen es leicht nehmen, ſonſt 
ſind wir arm und verloren. Leichtſinn iſt das Beſte, was wir 
haben. Alles iſt Schickſal. Es hat ſo ſein ſollen. Und moͤchteſt 
Du, daß es anders waͤre, daß wir uns nie geſehen haͤtten?“ 
Dann kam der dritte Brief. 


’ 5 383 


„. . . Sei heute noch einmal an der alten Stelle. Wie 
ſollen meine Tage hier verlaufen ohne Dich! In dieſem oͤden 
Neſt. Ich bin außer mir, und nur darin haſt Du recht: es iſt 
die Rettung, und wir muͤſſen ſchließlich doch die Hand ſegnen, 
die dieſe Trennung uͤber uns verhaͤngt.“ 

Innſtetten hatte die Briefe kaum wieder beiſeite geſchoben, 
als draußen die Klingel ging. Gleich danach meldete Johanna: 
„Geheimrat Wuͤllers dorf.“ 

Wuͤllersdorf trat ein und ſah auf den erſten Blick, daß etwas 
vorgefallen ſein muͤſſe. N 

„Pardon, Wuͤllersdorf,“ empfing ihn Innſtetten, „daß ich 
Sie gebeten habe, noch gleich heute bei mir vorzuſprechen. 
Ich ſtoͤre niemand gern in ſeiner Abendruhe, am wenigſten 
einen geplagten Miniſterialrat. Es ging aber nicht anders. 

Ich bitte Sie, machen Sie ſich's bequem. Und hier eine ar F 
garre.“ a 

Wuͤllersdorf ſetzte ſich. Innſtetten ging wieder auf und 
ab und wäre bei der ihn verzehrenden Unruhe gern in Be⸗ 1 
wegung geblieben, ſah aber, daß das nicht gehe. So nahm er 
denn auch ſeinerſeits eine Zigarre, ſetzte ſich Wuͤllersdorf gegen⸗ ‘ 
über und verfuchte ruhig zu fein. 

„Es iſt,“ begann er, „um zweier Dinge willen, daß ch 
Sie habe bitten laſſen: erſt um eine Forderung zu uͤberbringen 
und zweitens um hinterher, in der Sache ſelbſt, mein Sekun⸗ 1 
dant zu ſein; das eine iſt nicht angenehm und das andere noch 
weniger. Und nun Ihre Antwort.“ 

„Sie wiſſen, Innſtetten, Sie haben uͤber mich zu verfuͤgen. 
Aber eh ich die Sache kenne, verzeihen Sie mir die naive Vor 
frage: muß es fein? Wir find doch über die Jahre weg, Sie, 
um die Piſtole in die Hand zu nehmen, und ich, um dabei mit⸗ 5 
zumachen. Indeſſen mißverſtehen Sie mich nicht, alles dies 
ſoll kein nein ſein. Wie koͤnnte ich Ihnen etwas abſchlagen. 1 
Aber nun ſagen Sie, was iſt es?“ 


384 


„Es handelt fih um einen Galan meiner Frau, der zu⸗ 
gleich mein Freund war oder doch beinah.“ 

W.uͤllersdorf ſah Innſtetten an. „Innſtetten, das iſt nicht 
moͤglich.“ 

„Es iſt mehr als möglich, es iſt gewiß. Leſen Sie.“ 
Wuͤllersdorf flog druͤber hin. „Die ſind an Ihre Frau 


„Ja. Ich fand ſie heut in ihrem Naͤhtiſch.“ 
„Und wer hat ſie geſchrieben?“ 
„Major Crampas.“ 
„HAlſo Dinge, die ſich abgeſpielt, als Sie noch in Keſſin 
waren?“ 
Innſtetten nickte. 
„iegt alſo ſechs Jahre zuruͤck oder noch ein halb Jahr 
ö länger. ji 
1 Ja. u 
Wuͤllersdorf ſchwieg. Nach einer Weile ſagte Innſtetten: 
„Es ſieht faſt fo aus, Wuͤllersdorf, als ob die ſechs oder ſieben 
Jahre einen Eindruck auf Sie machten. Es gibt eine Ver⸗ 
jaͤhrungstheorie, natürlich, aber ich weiß doch nicht, ob wir hier 
einen Fall haben, dieſe Theorie gelten zu laſſen.“ 
Ich weiß es auch nicht,“ ſagte Wullersdorf. „Und ich be⸗ 
kenne Ihnen offen, um dieſe Frage ſcheint ſich hier alles zu 
drehen.“ 
Innſtetten ſah ihn groß an. „Sie fagen das in vollem 
Ernſt?“ 

„In vollem Ernſt. Es iſt keine Sache, ſich in jeu d’esprit 
oder in dialektiſchen Spitzfindigkeiten zu verſuchen.“ 

„Ich bin neugierig, wie Sie das meinen. Sagen Sie mir 
offen, wie ſtehen Sie dazu?“ 
V Innſtetten, Ihre Lage iſt furchtbar, und Ihr Lebensgluͤck 
5 iſt hin. Aber wenn Sie den Liebhaber totſchießen, iſt Ihr 
1 * ſozuſagen doppelt hin, und zu dem Schmerz uͤber 
0 25 385 


5 g 


% = 


er 


= 


empfangenes Leid kommt noch der Schmerz über getanes 
Leid. Alles dreht ſich um die Frage, muͤſſen Sie's durchaus 
tun? Fuͤhlen Sie ſich ſo verletzt, beleidigt, empoͤrt, daß einer 
weg muß, er oder Sie? Steht es ſo?“ 

„Ich weiß es nicht.“ 

„Sie muͤſſen es wiſſen.“ 

Innſtetten war aufgeſprungen, trat ans Fenſter und tippte 
voll nervoͤſer Erregung an die Scheiben. Dann wandte er 
ſich raſch wieder, ging auf Wuͤllersdorf zu und ſagte: „Nein, 
ſo ſteht es nicht.“ 

„Wie ſteht es denn?“ 

„Es ſteht ſo, daß ich unendlich ungluͤcklich bin; ich bin ge⸗ 
kraͤnkt, ſchaͤndlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne 
jedes Gefuͤhl von Haß oder gar von Durſt nach Rache. Und 


wenn ich mich frage, warum nicht? ſo kann ich zunaͤchſt nichts 
anderes finden als die Jahre. Man ſpricht immer von un⸗ 
ſuͤhnbarer Schuld; vor Gott iſt es gewiß falſch, aber vor den 


Menſchen auch. Ich haͤtte nie geglaubt, daß die Zeit, rein 


als Zeit, ſo wirken koͤnne. Und dann als zweites: ich liebe meine 


Frau, ja, ſeltſam zu ſagen, ich liebe ſie noch, und ſo furchtbar 
ich alles finde, was geſchehen, ich bin ſo ſehr im Bann ihrer 


Liebenswuͤrdigkeit, eines ihr eignen heiteren Charmes, daß ich 
mich, mir ſelbſt zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel 


zum Verzeihen geneigt fuͤhle.“ 


Wuͤllersdorf nickte. „Kann ganz folgen, Innſtetten, wuͤrde 


mir vielleicht ebenſo gehen. Aber wenn Sie ſo zu der Sache 


ſtehen und mir ſagen: „Ich liebe dieſe Frau fo ſehr, daß ich iht 


alles verzeihen kann, und wenn wir dann das andere hinzu⸗ 


nehmen, das alles weit, weit zuruͤckliegt, wie ein Geſchehnis auf 


einem andern Stern, ja, wenn es ſo liegt, Innſtetten, ſo frage 


ich, wozu die ganze Geſchichte?“ 
„Weil es trotzdem ſein muß. Ich habe mir's hin und her 


aberlegt. Man iſt nicht bloß ein einzelner Menſch, man gehoͤrt 


386 


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CCC ˙ ⅛—⅛v]r e ˙ Sn un a aid 


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einem Ganzen an, und auf das Ganze haden wir beſtaͤndig 
Ruͤckſicht zu nehmen, wir find durchaus abhängig von ihm. 
Ging es, in Einſamkeit zu leben, ſo koͤnnt ich es gehen laſſen; 
ich truͤge dann die mir aufgepackte Laſt, das rechte Gluͤck waͤre 
hin, aber es muͤſſen fo viele leben ohne dies „rechte Gluͤck', 
und ich wuͤrde es auch muͤſſen und — auch koͤnnen. Man braucht 
nicht gluͤcklich zu fein, am allerwenigſten hat man einen An⸗ 
ſpruch darauf, und den, der einem das Gluͤck genommen, den 
braucht man nicht notwendig aus der Welt zu ſchaffen. Man 
kann ihn, wenn man weltabgewandt weiter exiſtieren will, auch 
laufen laſſen. Aber im Zuſammenleben mit den Menſchen 
hat ſich ein Etwas ausgebildet, das nun mal da iſt und nach 
deſſen Paragraphen wir uns gewoͤhnt haben, alles zu beurteilen, 
die andern und uns ſelbſt. Und dagegen zu verſtoßen geht 
nicht; die Geſellſchaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es 
ſelbſt und koͤnnen es nicht aushalten und jagen uns die Kugel 
durch den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen ſolche Vorleſung 
halte, die ſchließlich doch nur ſagt, was ſich jeder ſelber hundert⸗ 
mal geſagt hat. Aber freilich, wer kann was Neues ſagen! 
Alſo noch einmal, nichts von Haß oder dergleichen, und um 
eines Gluͤckes willen, das mir genommen wurde, mag ich nicht 
Blut an den Haͤnden haben; aber jenes, wenn Sie wollen, 
uns tyranniſierende Geſellſchafts⸗Etwas, das fragt nicht nach 
Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjaͤhrung. 
Ich habe keine Wahl. Ich muß.“ 

„Ich weiß doch nicht, Innſtetten ...“ 

Innſtetten laͤchelte. „Sie ſollen ſelbſt entſcheiden, Wuͤllers⸗ 
dorf. Es iſt jetzt zehn Uhr. Vor ſechs Stunden, dieſe Konzeſ⸗ 


ſion will ich Ihnen vorweg machen, hatt ich das Spiel noch 


in der Hand, konnt ich noch das eine und noch das andere, 
da war noch ein Ausweg. Jetzt nicht mehr, jetzt ſtecke ich in 
einer Sackgaſſe. Wenn Sie wollen, ſo bin ich ſelber ſchuld 
daran; ich haͤtte mich beſſer beherrſchen und bewachen, alles in 


25* 387 


mir verbergen, alles im eignen Herzen auskaͤmpfen follen. 
Aber es kam mir zu ploͤtzlich, zu ſtark, und ſo kann ich mir 
kaum einen Vorwurf machen, meine Nerven nicht geſchickter in 
Ordnung gehalten zu haben. Ich ging zu Ihnen und ſchrieb 
Ihnen einen Zettel, und damit war das Spiel aus meiner Hand. 
Von dem Augenblicke an hatte mein Ungluͤck und, was ſchwerer 
wiegt, der Fleck auf meiner Ehre einen halben Mitwiſſer, und 
nach den erſten Worten, die wir hier gewechſelt, hat es einen 
ganzen. Und weil dieſer Mitwiſſer da iſt, kann ich nicht mehr 
zuruͤck.“ 

„Ich weiß doch nicht,“ wiederholte Wuͤllersdorf. „Ich 
mag nicht gerne zu der alten abgeſtandenen Phraſe greifen, 
aber doch laͤßt ſich's nicht beſſer ſagen: Innſtetten, es ruht alles 
in mir wie in einem Grabe.“ 

„Ja, Wuͤllersdorf, ſo heißt es immer. Aber es gibt keine 
Verſchwiegenheit. Und wenn Sie's wahr machen und gegen 
andere die Verſchwiegenheit ſelber ſind, ſo wiſſen Sie es, und 
es rettet mich nicht vor Ihnen, daß Sie mir eben Ihre Zu⸗ 
ſtimmung ausgedruͤckt und mir ſogar geſagt haben: ich kann 
Ihnen in allem folgen. Ich bin, und dabei bleibt es, von dieſem 
Augenblicke an ein Gegenſtand Ihrer Teilnahme (ſchon nicht 
etwas ſehr Angenehmes), und jedes Wort, das Sie mich mit 
meiner Frau wechſeln hoͤren, unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie 
moͤgen wollen oder nicht, und wenn meine Frau von Treue 
ſpricht oder, wie Frauen tun, uͤber eine andere zu Gericht ſitzt, 
ſo weiß ich nicht, wo ich mit meinen Blicken hin ſoll. Und er⸗ 
eignet ſich's gar, daß ich in irgendeiner ganz alltäglichen Be⸗ 
leidigungsſache zum guten rede, ‚weil ja der dolus fehle“ oder 
fo was Ahnliches, fo geht ein Lächeln über Ihr Geſicht, oder es 
zuckt wenigſtens darin, und in Ihrer Seele klingt es: „der 
gute Innſtetten, er hat doch eine wahre Paſſion, alle Belei⸗ 
digungen auf ihren Beleidigungsgehalt chemiſch zu unterſuchen, 
und das richtige Quantum Stickſtoff findet er nie. Er iſt noch 


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nie an einer Sache erſtickt ... Habe ich recht, Wuͤllersdorf, 
oder nicht?“ 

Wuͤllersdorf war aufgeſtanden. „Ich finde es furchtbar, 
daß Sie recht haben, aber Sie haben recht. Ich quaͤle Sie nicht 
länger mit meinem ‚muß es fein‘. Die Welt iſt einmal wie fie 
iſt, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, ſondern wie 
die andern wollen. Das mit dem „Gottesgericht', wie manche 
hochtrabend verſichern, iſt freilich ein Unſinn, nichts davon, 
umgekehrt, unſer Ehrenkultus iſt ein Goͤtzendienſt, aber wir 
muͤſſen uns ihm unterwerfen, fo lange der Götze gilt.“ 

Innſtetten nickte. 

Sie blieben noch eine Viertelſtunde miteinander, und es 
wurde feſtgeſtellt, Wuͤllersdorf ſolle noch denſelben Abend ab⸗ 
reiſen. Ein Nachtzug ging um zwoͤlf. 

Dann trennten ſie ſich mit einem kurzen: „Auf Wieder⸗ 
ſehen in Keſſin.“ 


Achtundzwanzigſtes Kapitel 


Am andern Abend, wie verabredet, reiſte Innſtetten. Er 
benutzte denſelben Zug, den am Tage vorher Wuͤllersdorf 
benutzt hatte und war bald nach fuͤnf Uhr fruͤh auf der Bahn⸗ 
ſtation, von wo der Weg nach Keſſin links abzweigte. Wie 


immer, fo lange die Saiſon dauerte, ging auch heute, gleich 


nach Eintreffen des Zuges das mehrerwaͤhnte Dampfſchiff, 
deſſen erſtes Laͤuten Innſtetten ſchon hoͤrte, als er die letzten 
Stufen der vom Bahndamm hinabfuͤhrenden Treppe erreicht 
hatte. Der Weg bis zur Anlegeſtelle war keine drei Minuten; 
er ſchritt darauf zu und begruͤßte den Kapitaͤn, der etwas ver⸗ 
legen war, alſo im Laufe des geſtrigen Tages von der ganzen 
Sache ſchon gehoͤrt haben mußte, und nahm dann ſeinen Platz 
in der Naͤhe des Steuers. Gleich danach loͤſte ſich das Schiff 


389 


vom Bruͤckenſteg los; das Wetter war herrlich, helle Morgen; 
ſonne, nur wenig Paſſagiere an Bord. Innſtetten gedachte 
des Tages, als er, mit Effi von der Hochzeitsreiſe zuruͤck⸗ 
kehrend, hier am Ufer der Keſſine hin in offenem Wagen ge⸗ 
fahren war, — ein grauer Novembertag damals, aber er ſelber 
froh im Herzen; nun hatte ſich's verkehrt: das Licht lag draußen, 
und der Novembertag war in ihm. Viele, viele Male war er 
dann des Weges hier gekommen, und der Frieden, der ſich 
über die Felder breitete, das Zuchtoieh in den Koppeln, das 
aufhorchte, wenn er voruͤberfuhr, die Leute bei der Arbeit, die 
Fruchtbarkeit der Acker, das alles hatte ſeinem Sinne wohlgetan, 
und jetzt, in hartem Gegenſatz dazu, war er froh, als etwas 
Gewoͤlk heranzog und den lachenden blauen Himmel leiſe zu 
truͤben begann. So fuhren ſie den Fluß hinab, und bald 
nachdem ſie die praͤchtige Waſſerflaͤche des „Breitling“ paſſiert, 
kam der Keſſiner Kirchturm in Sicht und gleich danach auch 
das Bollwerk und die lange Haͤuſerreihe mit Schiffen und 
Booten davor. Und nun waren ſie heran. Innſtetten verab⸗ 
ſchiedete ſich von dem Kapitaͤn und ſchritt auf den Steg zu, 
den man, bequemeren Ausſteigens halber, herangerollt hatte. 
Wuͤllersdorf war ſchon da. Beide begruͤßten ſich, ohne zunaͤchſt 
ein Wort zu ſprechen, und gingen dann, quer uͤber den Damm, 
auf den Hoppenſackſchen Gaſthof zu, wo ſie unter einem Zelt⸗ 
dach Platz nahmen. 

„Ich habe mich geſtern fruͤh hier einquartiert,“ ſagte Wuͤllers⸗ 
dorf, der nicht gleich mit den Sachlichkeiten beginnen wollte. 
„Wenn man bedenkt, daß Keſſin ein Neſt iſt, iſt es erſtaunlich, 
ein ſo gutes Hotel hier zu finden. Ich bezweifle nicht, daß mein 
Freund, der Oberkellner, drei Sprachen ſpricht; ſeinem Scheitel 
und ſeiner ausgeſchnittnen Weſte nach koͤnnen wir dreiſt auf 
vier rechnen ... Jean, bitte, wollen Sie uns Kaffee und Kos 
gnak bringen.“ 

Innſtetten begriff vollkommen, warum Wuͤllersdorf dieſen 


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Ton anſchlug, war auch damit einverſtanden, konnte aber ſeiner 


Unruhe nicht ganz Herr werden und zog unwillkuͤrlich die Uhr. 
„Wir haben Zeit,” ſagte Wuͤllersdorf. „Noch anderthalb 
Stunden oder doch beinah. Ich habe den Wagen auf acht ein 
viertel beſtellt; wir fahren nicht laͤnger als zehn Minuten.“ 

„Und wo?“ 

„Crampas ſchlug erſt ein Waldeck vor, gleich hinter dem 
Kirchhof. Aber dann unterbrach er ſich und ſagte: ‚Nein, da 
nicht.“ Und dann haben wir uns uͤber eine Stelle zwiſchen den 
Duͤnen geeinigt. Hart am Strand; die vorderſte Duͤne hat 
einen Einſchnitt, und man ſieht aufs Meer.“ 

Innſtetten laͤchelte. „Crampas ſcheint ſich einen Schoͤnheits⸗ 
punkt ausgeſucht zu haben. Er hatte immer die Alluͤren dazu. 
Wie benahm er ſich?“ 

„Wundervoll.“ 

„Übermuͤtig? frivol?“ 

„Nicht das eine und nicht das andere. Ich bekenne Ihnen 
offen, Innſtetten, daß es mich erſchuͤtterte. Als ich Ihren 
Namen nannte, wurde er totenblaß und rang nach Faſſung, 
und um ſeine Mundwinkel ſah ich ein Zittern. Aber all das 
dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er ſich wieder gefaßt, 
und von da ab war alles an ihm wehmuͤtige Reſignation. Es 
iſt mir ganz ſicher, er hat das Gefuͤhl, aus der Sache nicht heil 
herauszukommen, und will auch nicht. Wenn ich ihn richtig 
beurteile, er lebt gern und iſt zugleich gleichguͤltig gegen das 
Leben. Er nimmt alles mit und weiß doch, daß es nicht viel 
damit iſt.“ 

„Wer wird ihm ſekundieren? Oder ſag ich lieber, wen 
wird er mitbringen?“ 

„Das war, als er ſich wieder gefunden hatte, ſeine Haupt⸗ 
ſorge. Er nannte zwei, drei Adlige aus der Naͤhe, ließ ſie dann 
aber wieder fallen, ſie ſeien zu alt und zu fromm, er werde 
nach Treptow hin telegraphieren an ſeinen Freund Budden⸗ 


39 


brook. Und der iſt auch gekommen, famoſer Mann, ſchneidig 
und doch zugleich wie ein Kind. Er konnte ſich nicht beruhigen 
und ging in groͤßter Erregung auf und ab. Aber als ich ihm 
alles geſagt hatte, ſagte er gerade fo wie wir: ‚Sie haben recht, 
es muß ſein!“ 

Der Kaffee kam. Man nahm eine Zigarre, und Wuͤllers⸗ 
dorf war wieder darauf aus, das Geſpraͤch auf mehr gleich⸗ 
guͤltige Dinge zu lenken. 


„Ich wundere mich, daß keiner von den Keſſinern ſich ein⸗ 


findet, Sie zu begruͤßen. Ich weiß doch, daß Sie ſehr beliebt 


geweſen find. Und nun gar Ihr Freund Gieshübler.“ 
Innſtetten laͤchelte. „Da verkennen Sie die Leute hier an 


der Kuͤſte; halb ſind es Philiſter und halb Pfiffici, nicht ſehr 
nach meinem Geſchmack; aber eine Tugend haben ſie, ſie ſind 
alle ſehr manierlich. Und nun gar mein alter Gieshuͤbler. 


Natuͤrlich weiß jeder, um was ſich's handelt; aber eben deshalb 


huͤtet man ſich, den Neugierigen zu ſpielen.“ 

In dieſem Augenblicke wurde von links her ein zuruͤck⸗ 
geſchlagener Chaiſewagen ſichtbar, der, weil es noch vor der be⸗ 
ſtimmten Zeit war, langſam herankam. 

„Iſt das unſer?“ fragte Innſtetten. 

„Mutmaßlich.“ 


Und gleich danach hielt der Wagen vor dem Hotel, und 


Innſtetten und Wuͤllersdorf erhoben ſich. 5 
Wuͤllersdorf trat an den Kutſcher heran und ſagte: „Nach 
der Mole.“ 
Die Mole lag nach der entgegengeſetzten Strandſeite, rechts 
ſtatt links, und die falſche Weiſung wurde nur gegeben, um 


etwaigen Zwiſchenfaͤllen, die doch immerhin möglich waren, 


vorzubeugen. Im uͤbrigen, ob man ſich nun weiter draußen 
nach rechts oder links zu halten vorhatte, durch die Plantage 
mußte man jedenfalls, und ſo fuͤhrte denn der Weg unver⸗ 


meidlich an Innſtettens alter Wohnung vorüber. Das Haus 4 


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eg noch ffillee da als fruher; ziemlich vernachläſſigt ſah's 


ir den Parterreraͤumen aus; wie mocht es erſt da oben fein! 
Und das Gefühl des Unheimlichen, das Innſtetten an Effi fo oft 
bekämpft oder auch wohl belaͤchelt hatte, jetzt uͤberkam es ihn / 


ſelbſt, und er war froh, als fie dran vorüber waren. 


„Da hab ich gewohnt,“ ſagte er zu Wuͤllersdorf. 

„Es ſieht ſonderbar aus, etwas dd und verlaſſen.“ 

„Mag auch wohl. In der Stadt galt es als ein Spukhaus, 
und wie's heute daliegt, kann ich den Leuten nicht unrecht 
geben.“ 

„Was war es denn damit?“ 

„Ach, dummes Zeug: alter Schiffskapitaͤn mit Enkelin 
oder Nichte, die eines ſchoͤnen Tages verſchwand, und dann 
ein Chineſe, der vielleicht ein Liebhaber war, und auf dem Flur 
ein kleiner Haifiſch und ein Krokodil, beides an Strippen und 
immer in Bewegung. Wundervoll zu erzaͤhlen, aber nicht jetzt. 
Es ſpukt einem doch allerhand anderes im Kopf.“ 

„Sie vergeſſen, es kann auch alles glatt ablaufen.“ 

„Darf nicht. Und vorhin, Wuͤllersdorf, als Sie von Cram⸗ 
pas ſprachen, ſprachen Sie ſelber anders davon.“ 

Bald danach hatte man die Plantage paſſiert, und der 
Kutſcher wollte jetzt rechts einbiegen auf die Mole zu. „Fahren 
Sie lieber links. Das mit der Mole kann nachher kommen.“ 

Und der Kutſcher bog links in eine breite Fahrſtraße ein, 
die hinter dem Herrenbade gerad auf den Wald zulief. Als 
ſie bis auf dreihundert Schritt an dieſen heran waren, ließ 
Wuͤllersdorf den Wagen halten, und beide gingen nun, immer 
durch mahlenden Sand hin, eine ziemlich breite Fahrſtraße hin⸗ 
unter, die die hier dreifache Duͤnenreihe ſenkrecht durchſchnitt. 
Überall zur Seite ſtanden dichte Buͤſchel von Strandhafer, 
um dieſen herum aber Immortellen und ein paar blutrote 
Nelken. Innſtetten buͤckte ſich und ſteckte ſich eine der Nelken 
ins Knopfloch. „Die Immortellen nachher.“ 


393 


So gingen fie fünf Minuten. Als fie bis an die ziemlich 
tiefe Senkung gekommen waren, die zwiſchen den beiden vor⸗ 
derſten Duͤnenreihen hinlief, ſahen ſie, nach links hin, ſchon 
die Gegenpartei: Crampas und Buddenbrook und mit ihnen 
den guten Doktor Hannemann, der ſeinen Hut in der Hand 
hielt, ſo daß das weiße Haar im Winde flatterte. 

Innſtetten und Wuͤllersdorf gingen die Sandſchlucht hin⸗ 
auf, Buddenbrook kam ihnen entgegen. Man begruͤßte ſich, 
worauf beide Sekundanten beiſeite traten, um noch ein kurzes 
ſachliches Geſpraͤch zu fuͤhren. Es lief darauf hinaus, daß man 
a tempo avancieren und auf zehn Schritt Diſtance feuern 
ſolle. Dann kehrte Buddenbrook an ſeinen Platz zuruͤck; alles 
erledigte ſich raſch; und die Schuͤſſe fielen. Crampas ſtuͤrzte. 

Innſtetten, einige Schritt zuruͤcktretend, wandte ſich ab 
von der Szene. Wuͤllersdorf aber war auf Bubddenbrook 
zugeſchritten, und beide warteten jetzt auf den Ausſpruch des 
Doktors, der die Achſeln zuckte. Zugleich deutete Crampas 
durch eine Handbewegung an, daß er etwas ſagen wollte. 
Wuͤllersdorf beugte ſich zu ihm nieder, nickte zuſtimmend zu 
den paar Worten, die kaum hoͤrbar von des Sterbenden 
Lippen kamen, und ging dann auf Innſtetten zu. 

„Crampas will Sie noch ſprechen, Innſtetten. Sie muͤſſen 
ihm zu Willen ſein. Er hat keine drei Minuten Leben mehr.“ 

Innſtetten trat an Crampas heran. 

„Wollen Sie ...“ das waren feine letzten Worte. 

Noch ein ſchmerzlicher und doch beinah freundlicher Schim⸗ 
mer in ſeinem Antlitz, und dann war es vorbei. 


Neunundzwanzigſtes Kapitel 


Am Abend desſelben Tages traf Innſtetten wieder in 
Berlin ein. Er war mit dem Wagen, den er innerhalb der Ouͤ⸗ 


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0 nen an dem Querwege zuruͤckgelaſſen hatte, direkt nach der 
Bahnſtation gefahren, ohne Keſſin noch einmal zu beruͤhren, 


dabei den beiden Sekundanten die Meldung an die Behoͤrden 
uͤberlaſſend. Unterwegs (er war allein im Coupe) hing er, 
alles noch mal uͤberdenkend, dem Geſchehenen nach; es waren 
dieſelben Gedanken wie zwei Tage zuvor, nur daß ſie jetzt den 
umgekehrten Gang gingen und mit der Überzeugtheit von 
ſeinem Recht und ſeiner Pflicht anfingen, um mit Zweifeln 
daran aufzuhoͤren. „Schuld, wenn fie überhaupt was iſt, iſt 
nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht hinfaͤllig 
werden von heute auf morgen. Schuld verlangt Suͤhne; 
das hat einen Sinn. Aber Verjaͤhrung iſt etwas Halbes, etwas 
Schwaͤchliches, zum mindeſten was Proſaiſches.“ Und er rich⸗ 
tete ſich an dieſer Vorſtellung auf und wiederholte ſich's, daß 
es gekommen ſei, wie's habe kommen muͤſſen. Aber im ſelben 
Augenblicke, wo dies fuͤr ihn feſtſtand, warf er's auch wieder 
um. „Es muß eine Verjaͤhrung geben, Verjaͤhrung iſt das 
einzig Vernuͤnftige; ob es nebenher auch noch proſaiſch iſt, iſt 
gleichguͤltig; das Vernuͤnftige iſt meiſt proſaiſch. Ich bin jetzt 
fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fuͤnfundzwanzig Jahre 
ſpaͤter gefunden haͤtte, ſo war ich ſiebzig. Dann haͤtte Wuͤllers⸗ 
dorf geſagt: ‚Sunftetten, feien Sie kein Narr. Und wenn es 
Wuͤllersdorf nicht geſagt haͤtte, ſo haͤtt es Buddenbrook geſagt, 
und wenn auch der nicht, ſo ich ſelbſt. Dies iſt mir klar. Treibt 
man etwas auf die Spitze, ſo uͤbertreibt man und hat die Laͤcher⸗ 
lichkeit. Kein Zweifel. Aber wo faͤngt es an? Wo liegt die 
Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt 
es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht ſchon bei zehnein⸗ 
halb heißt es Unſinn. Die Grenze, die Grenze. Wo iſt ſie? 
War ſie da? War ſie ſchon uͤberſchritten? Wenn ich mir ſeinen 
letzten Blick vergegenwaͤrtige, reſigniert und in ſeinem Elend 
doch noch ein Lächeln, fo hieß der Blick: Innſtetten, Prinzipien⸗ 
reiterei ... Sie konnten es mir erſparen und ſich ſelber auch.‘ 


— — 


395 


Und er hatte vielleicht recht. Mir klingt fo was in der Seele. 
Ja, wenn ich voll toͤdlichem Haß geweſen wäre, wenn mir hier 
ein tiefes Rachegefuͤhl geſeſſen hätte ... Rache iſt nichts Schoͤnes, 
aber was Menſchliches und hat ein natuͤrlich menſchliches 
Recht. So aber war alles einer Vorſtellung, einem Begriff zu⸗ 
liebe, war eine gemachte Geſchichte, halbe Komoͤdie. Und dieſe 
Komoͤdie muß ich nun fortſetzen und muß Effi wegſchicken und 
fie ruinieren und mich mit... Ich mußte die Briefe vers 


brennen, und die Welt durfte nie davon erfahren. Und wenn 


fie dann kam, ahnungslos, fo mußt ich ihr fagen: ‚Da iſt dein 
Platz, und mußte mich innerlich von ihr ſcheiden. Nicht vor 
der Welt. Es gibt ſo viele Leben, die keine ſind, und ſo viele 
Ehen, die keine find... dann war das Gluck hin, aber ich 
haͤtte das Auge mit ſeinem Frageblicke und mit ſeiner ſtum⸗ 
men, leiſen Anklage nicht vor mir.“ 


Kurz vor zehn hielt Innſtetten vor ſeiner Wohnung. Er 
ſtieg die Treppen hinauf und zog die Glocke; Johanna kam 
und oͤffnete. 

„Wie ſteht es mit Annie?“ 


„Gut, gnaͤdger Herr. Sie ſchlaͤft noch nicht. Wenn 


der gnaͤdge Herr ...“ 


„Nein, nein, das regt ſie bloß auf. Ich ſehe ſie lieber morgen 


fruͤh. Bringen Sie mir ein Glas Tee, Johanna. Wer war 
hier?“ 
„Nur der Doktor.“ 


Und nun war Innſtetten wieder allein. Er ging auf und 
ab, wie er's zu tun liebte. „Sie wiſſen ſchon alles; Roswitha 


iſt dumm, aber Johanna iſt eine kluge Perſon. Und wenn ſie's 
nicht mit Beſtimmtheit wiſſen, ſo haben ſie ſich's zurechtgelegt 
und wiſſen es doch. Es iſt merkwuͤrdig, was alles zum Zeichen 
wird und Geſchichten ausplaudert, als waͤre jeder mit dabei 
geweſen.“ 


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Johanna brachte den Tee. Innſtetten trank. Er war nach 


der Aberanſtrengung todmuͤde und ſchlief ein. 


Innſtetten war zu guter Zeit auf. Er ſah Annie, ſprach 
ein paar Worte mit ihr, lobte ſie, daß ſie eine gute Kranke ſei 
und ging dann aufs Miniſterium, um ſeinem Chef von allem 
Vorgefallenen Meldung zu machen. Der Miniſter war ſehr 
gnaͤdig. „Ja, Innſtetten, wohl dem, der aus allem, was das 
Leben uns bringen kann, heil herauskommt; Sie hat's ge⸗ 
troffen.“ Er fand alles, was geſchehen, in der Ordnung und 
überließ Innſtetten das weitere. 

Erſt ſpaͤt nachmittags war Innſtetten wieder in ſeiner 
Wohnung, in der er ein paar Zeilen von Wullersdorf vorfand. 
„Heute fruͤh wieder eingetroffen. Eine Welt von Dingen er⸗ 
lebt: Schmerzliches, Ruͤhrendes; Gieshuͤbler an der Spitze. 
Der liebenswuͤrdigſte Pucklige, den ich je geſehen. Von Ihnen 


ſprach er nicht allzuviel, aber die Frau, die Frau! Er konnte 


ſich nicht beruhigen, und zuletzt brach der kleine Mann in Traͤnen 


aus. Was alles vorkommt. Es wäre zu wuͤnſchen, daß es mehr 


Gieshuͤbler gäbe. Es gibt aber mehr andere. Und dann die 


Szene im Haufe des Majors .. furchtbar. Kein Wort das 


von. Man hat wieder mal gelernt: aufpaſſen. Ich ſehe Sie 


morgen. Ihr W.“ 


Innſtetten war ganz erſchuͤttert, als er geleſen. Er ſetzte 
ſich und ſchrieb ſeinerſeits ein paar Briefe. Als er damit zu 
Ende war, klingelte er: „Johanna, die Briefe in den Kaſten.“ 

Johanna nahm die Briefe und wollte gehen. 
„. Und dann, Johanna, noch eins: die Frau kommt 
nicht wieder. Sie werden von anderen erfahren, warum nicht. 


F Annie darf nichts wiſſen, wenigſtens jetzt nicht. Das arme Kind. 
Sie muͤſſen es ihr allmaͤhlich beibringen, daß ſie keine Mutter 
mehr hat. Ich kann es nicht. Aber machen Sie's geſcheit. 


Und daß Roswitha nicht alles verdirbt.“ 
| 397 


Johanna ſtand einen Augenblick ganz wie benommen da. 
Dann ging ſie auf Innſtetten zu und kuͤßte ihm die Hand. 
Als ſie wieder draußen in der Kuͤche war, war ſie von Stolz 
und Überlegenheit ganz erfüllt, ja beinahe von Gluck. Der 
gnaͤdige Herr hatte ihr nicht nur alles geſagt, ſondern am Schluſſe 
auch noch hinzugeſetzt „und daß Roswitha nicht alles verdirbt.“ 
Das war die Hauptſache, und ohne daß es ihr an gutem Her⸗ 
zen und ſelbſt an Teilnahme mit der Frau gefehlt haͤtte, be⸗ 
ſchaͤftigte ſie doch, über jedes andere hinaus, der Triumph 
einer gewiſſen Intimitaͤtsſtellung zum gnaͤdigen Herrn. 
Unter gewöhnlichen Umſtaͤnden wäre ihr denn auch die 
Herauskehrung und Geltendmachung dieſes Triumphes ein 
leichtes geweſen, aber heute traf ſich's fo wenig guͤnſtig für fie, 
daß ihre Rivalin, ohne Vertrauensperſon geweſen zu ſein, ſich 
doch als die Eingeweihtere zeigen ſollte. Der Portier unten 
hatte naͤmlich, ſo ziemlich um dieſelbe Zeit, wo dies ſpielte, 
Roswitha in ſeine kleine Stube hineingerufen und ihr gleich 
beim Eintreten ein Zeitungsblatt zum Leſen zugeſchoben. 
„Da, Roswitha, das iſt was für Sie; Sie koͤnnen es mir nach⸗ 
her wieder runter bringen. Es iſt bloß das Fremdenblatt; 
aber Lene iſt ſchon hin und holt das Kleine Journal. Da wird 
wohl ſchon mehr drin ſtehen; die wiſſen immer alles. Hören 
Sie, Roswitha, wer ſo was gedacht haͤtte.“ 
Roswitha, ſonſt nicht allzu neugierig, hatte ſich doch nach dieſen 
Anſprache ſo raſch wie moͤglich die Hintertreppe hinaufbegeben und 
war mit dem Leſen gerade fertig, als Johanna dazu kam. 
Dieſe legte die Briefe, die ihr Innſtetten eben gegeben, auf 
den Tiſch, uͤberflog die Adreſſen oder tat wenigſtens ſo (denn 
ſie wußte laͤngſt, an wen ſie gerichtet waren) und ſagte mit gut 
erkuͤnſtelter Ruhe: „Einer iſt nach Hohen⸗Cremmen.“ 
„Das kann ich mir denken,“ ſagte Roswitha. i 
Johanna war nicht wenig erſtaunt uͤber dieſe Bemerkung. 
„Der Herr ſchreibt ſonſt nie nach Hohen⸗Cremmen.“ 


398 


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„Ja, fonft. Aber jetzt... Denken Sie fih, das hat mir 


eben der Portier unten gegeben.“ 


Johanna nahm das Blatt und las nun halblaut eine mit 


einem dicken Tintenſtrich markierte Stelle: „Wie wir kurz vor 
Redaktionsſchluß von gut unterrichteter Seite her vernehmen, 
hat geſtern fruͤh in dem Badeorte Keſſin in Hinterpommern 
ein Duell zwiſchen dem Miniſterialrat v. J. (Keithſtraße) 


und dem Major von Crampas ſtattgefunden. Major von 
Crampas fiel. Es heißt, daß Beziehungen zwiſchen ihm und 


der Raͤtin, einer ſchoͤnen und noch ſehr jungen Frau, beſtanden 


haben ſollen.“ 
„Was ſolche Blaͤtter auch alles ſchreiben,“ ſagte Johanna, 
die verſtimmt war, ihre Neuigkeit uͤberholt zu ſehen. 

„Ja,“ ſagte Roswitha. „Und das leſen nun die Menſchen 
und verſchimpfieren mir meine liebe, arme Frau. Und der 
arme Major. Nun iſt er tot.“ 

„Ja, Roswitha, was denken Sie ſich eigentlich? Soll er 
nicht tot ſein? Oder ſoll lieber unſer gnaͤdiger Herr tot ſein?“ 

„Nein, Johanna, unſer gnaͤdger Herr, der ſoll auch leben, 


alles ſoll leben. Ich bin nicht fuͤr totſchießen und kann nicht 


mal das Knallen hören. Aber bedenken Sie doch, Johanna, 


das iſt ja nun ſchon eine halbe Ewigkeit her, und die Briefe, die 


mir gleich ſo ſonderbar ausſahen, weil ſie die rote Strippe hatten 


und drei⸗ oder viermal umwickelt und dann eingeknotet und 
keine Schleife — die ſahen ja ſchon ganz gelb aus, ſo lange iſt 


es her. Wir ſind ja nun ſchon uͤber ſechs Jahre hier, und wie 
kann man wegen folder alten Geſchichten..“ 
„Ach, Roswitha, Sie reden, wie Sie's verſtehen. Und bei 


Lichte beſehen, ſind Sie ſchuld. Von den Briefen kommt es 


her. Warum kamen Sie mit dem Stemmeiſen und brachen 


den Naͤhtiſch auf, was man nie darf; man darf kein Schloß 


aufbrechen, was ein anderer zugeſchloſſen hat.“ 


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„Aber, Johanna, das iſt doch wirklich zu ſchlecht von Ihnen, 
399 


mir fo was auf den Kopf zuzuſagen, und Sie wiſſen doch, 
daß Sie ſchuld ſind und daß Sie wie naͤrriſch in die Kuͤche ſtuͤrz⸗ 
ten und mir ſagten, der Naͤhtiſch muͤſſe aufgemacht werden, 
da waͤre die Bandage drin, und da bin ich mit dem Stemm⸗ 
eiſen gekommen, und nun ſoll ich ſchuld fein. Nein, ich ſage . .” 

„Nun, ich will es nicht geſagt haben, Roswitha. Nur Sie 
ſollen mir nicht kommen und ſagen: der arme Major. Was 
heißt der arme Major! Der ganze arme Major taugte nichts; 
wer ſolchen rotblonden Schnurrbart hat und immer wribbelt, 
der taugt nie was und richtet bloß Schaden an. Und wenn 


man immer in vornehmen Häufern gedient hat.. aber das 


haben Sie nicht, Roswitha, das fehlt Ihnen eben ... dann 
weiß man auch, was ſich paßt und ſchickt und was Ehre iſt, und 
weiß auch, daß, wenn ſo was vorkommt, dann geht es nicht 
anders, und dann kommt das, was man eine Forderung nennt, 
und dann wird einer totgeſchoſſen.“ 

„Ach, das weiß ich auch; ich bin nicht ſo dumm, wie Sie 
mich immer machen wollen. Aber wenn es fo lange her iſt ...“ 

„Ja, Roswitha, mit Ihrem ewigen ‚fo lange her“; daran 
ſieht man ja eben, daß Sie nichts davon verſtehen. Sie er⸗ 


zählen immer die alte Geſchichte von Ihrem Vater mit dem 


gluͤhenden Eiſen und wie er damit auf Sie losgekommen, 


und jedesmal, wenn ich einen gluͤhenden Bolzen eintue, muß 
ich auch wirklich immer an Ihren Vater denken und ſehe immer, 
wie er Sie wegen des Kindes, das ja nun tot iſt, totmachen 
will. Ja, Roswitha, davon ſprechen Sie in einem fort, und es 


fehlt bloß noch, daß Sie Anniechen auch die Geſchichte erzählen, 
und wenn Anniechen eingeſegnet wird, dann wird ſie's auch ge⸗ 


wiß erfahren, und vielleicht denſelben Tag noch; und das 


ärgert mich, daß Sie das alles erlebt haben, und Ihr Vater 


war doch bloß ein Dorfſchmied und hat Pferde beſchlagen oder 
einen Radreifen gelegt, und nun kommen Sie und verlangen 
von unſerm gnaͤdgen Herrn, daß er ſich das alles ruhig gefallen 9 


400 


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8 laͤßt, bloß weil es 75 lange her iſt. Was heißt lange her? Sechs 
Jahre iſt nicht lange her. Und unſere gnaͤdge Frau — die aber 
N nicht wiederkommt, der gnaͤdge Herr hat es mir eben geſagt — 
unſre gnaͤdge Frau wird erſt ſechsundzwanzig, und im Auguſt 
iſt ihr Geburtstag, und da kommen Sie mir mit ‚lange her‘. 
8 Und wenn ſie ſechsunddreißig waͤre, ich ſage Ihnen, bei ſechs⸗ 
unddreißig muß man erſt recht aufpaſſen, und wenn der 
gnaͤdge Herr nichts getan haͤtte, dann haͤtten ihn die vorneh⸗ 
men Leute ‚gefchnitten‘. Aber das Wort kennen Sie gar nicht, 
| Roswitha, davon wiſſen Sie nichts.“ 
„Nein, davon weiß ich nichts, will auch nicht; aber das 
| weiß ich, Johanna, daß Sie in den gnaͤdgen Herrn verliebt 
ſind.“ 
Johanna ſchlug eine krampfhafte Lache auf. 

„Ja, lachen Sie nur. Ich ſeh es ſchon lange. Sie haben 
ſo was. Und ein Gluͤck, daß unſer gnaͤdger Herr keine Augen 
dafuͤr hat... Die arme Frau, die arme Frau.“ 

Johanna lag daran, Frieden zu ſchließen. „Laſſen Sie's 
gut ſein, Roswitha. Sie haben wieder Ihren Koller; aber ich 
weiß ſchon, den haben alle vom Lande.“ 

„Kann ſchon ſein.“ 

„Ich will jetzt nur die Briefe forttragen und unten ſehen, 
ob der Portier vielleicht ſchon die andere Zeitung hat. Ich habe 
doch recht verſtanden, daß er Lene danach geſchickt hat? Und es 
muß auch mehr darin ſtehen; das hier iſt ja ſo gut wie gar 
7 nichts.“ 


1 Dreißigſtes Kapitel 


| Sr und die Geheimraͤtin Zwicker waren feit faſt drei Wochen 
in Ems und bewohnten daſelbſt das Erdgeſchoß einer reizen⸗ 
den kleinen Villa. In ihrem zwiſchen ihren zwei Wohnzimmern 


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gelegenen gemeinſchaftlichen Salon mit Blick auf den Garten 
ſtand ein Poliſanderfluͤgel, auf dem Effi dann und wann eine 
Sonate, die Zwicker dann und wann einen Walzer ſpielte; 
ſie war ganz unmuſikaliſch und beſchraͤnkte ſich im weſent⸗ 
lichen darauf, fuͤr Niemann als Tannhaͤuſer zu ſchwaͤrmen. 

Es war ein herrlicher Morgen; in dem kleinen Garten 
zwitſcherten die Voͤgel, und aus dem angrenzenden Hauſe, 
drin ſich ein „Lokal“ befand, hörte man, trotz der frühen Stunde, 
bereits das Zuſammenſchlagen der Billardbaͤlle. Beide Damen 
hatten ihr Fruͤhſtuͤck nicht im Salon ſelbſt, ſondern auf einem 
ein paar Fuß hoch aufgemauerten und mit Kies beſtreuten Vor⸗ 


platz eingenommen, von dem aus drei Stufen nach dem Gar⸗ 


ten hinunterfuͤhrten; die Marquiſe, ihnen zu Haͤupten, war auf⸗ 
gezogen, um den Genuß der friſchen Luft in nichts zu beſchraͤn⸗ 
ken, und ſowohl Effi wie die Geheimraͤtin waren ziemlich 
emſig bei ihrer Handarbeit. Nur dann und wann wurden ein 
paar Worte gewechſelt. 


„Ich begreife nicht,“ ſagte Effi, „daß ich ſchon ſeit vier 


Tagen keinen Brief habe; er ſchreibt ſonſt taͤglich. Ob Annie 
krank iſt? Oder er ſelbſt?“ 


Die Zwicker lächelte: „Sie werden erfahren, liebe Freundin, 


daß er geſund iſt, ganz geſund.“ 
Effi fuͤhlte ſich durch den Ton, in dem dies geſagt wurde, 


wenig angenehm beruͤhrt und ſchien antworten zu wollen, 
aber in eben dieſem Augenblicke trat das aus der Umgegend 


von Bonn ſtammende Hausmaͤdchen, das ſich von Jugend an 


daran gewoͤhnt hatte, die mannigfachſten Erſcheinungen des 


Lebens an Bonner Studenten und Bonner Huſaren zu meſſen, 
vom Salon her auf den Vorplatz hinaus, um hier den Früͤh⸗ 


ſtuͤckstiſch abzuraͤumen. Sie hieß Afra. 


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„Afra,“ ſagte Effi, „es muß doch ſchon neun fein; war der 


Poſtbote noch nicht da?“ 
„Nein, noch nicht, gnaͤdge Frau.“ 


402 


„Woran liegt es?“ 
„Natuͤrlich an dem Poſtboten; er iſt aus dem Siegenſchen 


und hat keinen Schneid. Ich hab's ihm auch ſchon geſagt, das 
ſei die ‚reine Lodderei‘, Und wie ihm das Haar ſitzt; ich glaube, 
er weiß gar nicht, was ein Scheitel iſt.“ 


„Afra, Sie ſind mal wieder zu ſtreng. Denken Sie doch: 


Poſtbote, und fo tagaus tagein bei der ewigen Hitze ...“ 


„Iſt ſchon recht, gnaͤdge Frau. Aber es gibt doch andere, 
die zwingen's; wo's drin ſteckt, da geht es auch.“ Und waͤhrend 
fie noch fo ſprach, nahm fie das Tablett geſchickt auf ihre fünf 
Fingerſpitzen und ſtieg die Stufen hinunter, um durch den 
Garten hin den naͤheren Weg in die Kuͤche zu nehmen. 

„Eine huͤbſche Perſon,“ ſagte die Zwicker. „Und ſo quick 
und kaſch, und ich moͤchte faſt ſagen von einer natuͤrlichen An⸗ 
mut. Wiſſen Sie, liebe Baronin, daß mich dieſe Afra ... uͤb⸗ 
rigens ein wundervoller Name, und es ſoll ſogar eine heilige 


Afra gegeben haben, aber ich glaube nicht, daß unſere davon 


abſtammt 
„Und nun, liebe Geheimraͤtin, vertiefen Sie ſich wieder in 
Ihr Nebenthema, das diesmal Afra heißt, und vergeſſen dar⸗ 


über ganz, was Sie eigentlich ſagen wollten ...“ 


„Doch nicht, liebe Freundin, oder ich finde mich wenigſtens 
wieder zuruck. Ich wollte ſagen, daß mich dieſe Afra ganz uns 
gemein an die ſtattliche Perſon erinnert, die ich in Ihrem 
Haufe...“ 

„Ja, Sie haben recht. Es iſt eine Ahnlichkeit da. Nur 
unſer Berliner Hausmaͤdchen iſt doch erheblich huͤbſcher und 
namentlich ihr Haar viel ſchoͤner und voller. Ich habe ſo ſchoͤnes 
flachſenes Haar, wie unſere Johanna hat, uͤberhaupt noch nicht 
geſehen. Ein bißchen davon ſieht man ja wohl, aber ſolche 


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Die Zwicker laͤchelte. „Das iſt wirklich felten, daß man 


eine junge Frau mit ſolcher Begeiſterung von dem flachſenen 


26* 403 


Haar ihres Haus maͤdchens fprechen hört. Und nun auch noch 
von der Fülle! Wiſſen Sie, daß ich das ruͤhrend finde? Denn 
eigentlich iſt man doch bei der Wahl der Maͤdchen in einer be⸗ 
ſtaͤndigen Verlegenheit. Huͤbſch ſollen fie fein, weil es jeden 
Beſucher, wenigſtens die Maͤnner, ſtoͤrt, eine lange Stakete mit 
grieſem Teint und ſchwarzen Raͤndern in der Tuͤroͤffnung er⸗ 
ſcheinen zu ſehen, und ein wahres Gluͤck, daß die Korridore 
meiſtens ſo dunkel ſind. Aber nimmt man wieder zuviel 
Ruͤckſicht auf ſolche Hausrepraͤſentation und den ſogenannten 
erſten Eindruck und ſchenkt man wohl gar noch einer ſolchen 
huͤbſchen Perſon eine weiße Taͤndelſchuͤrze nach der andern, 
ſo hat man eigentlich keine ruhige Stunde mehr und fragt ſich, 
wenn man nicht zu eitel iſt und nicht zu viel Vertrauen zu ſich 
ſelber hat, ob da nicht Remedur geſchaffen werden muͤſſe. Re⸗ 
medur war naͤmlich ein Lieblingswort von Zwicker, womit er 
mich oft gelangweilt hat; aber freilich, alle Geheimraͤte haben 
ſolche Lieblingsworte.“ 

Effi hoͤrte mit ſehr geteilten Empfindungen zu. Wenn 
die Geheimraͤtin nur ein bißchen anders geweſen wäre, fo hätte 
dies alles reizend ſein koͤnnen, aber da ſie nun mal war wie ſie 0 
war, fo fühlte ſich Effi wenig angenehm von dem beruͤhrt, 
was fie ſonſt vielleicht einfach erheitert hatte. 3 

„Das iſt ſchon recht, liebe Freundin, was Sie da von den 
Geheimraͤten ſagen. Innſtetten hat ſich auch dergleichen an⸗ 
gewoͤhnt, lacht aber immer, wenn ich ihn darauf hin anſehe 
und entſchuldigt ſich hinterher wegen der Aktenausdruͤcke. 
Ihr Herr Gemahl war freilich ſchon laͤnger im Dienſt und a 
überhaupt wohl aͤlter ...“ 1 

„um ein geringes,“ ſagte die Geheimraͤtin ſpitz und ab⸗ 
lehnend. 2 

„Und alles in allem kann ich mich in Befuͤrchtungen, wie 
Sie ſie ausſprechen, nicht recht zurechtfinden. Das, was man 
gute Sitte nennt, iſt doch immer noch eine Macht...“ 


404 


. 
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„Meinen Sie?“ 
„. Und ich kann mir namentlich nicht denken, daß es 
gerade Ihnen, liebe Freundin, beſchieden geweſen ſein ſollte, 
ſolche Sorgen und Befuͤrchtungen durchzumachen. Sie haben, 


Verzeihung, daß ich dieſen Punkt hier ſo offen beruͤhre, gerade 
ö das, was die Männer einen ‚Charme‘ nennen, Sie find heiter, 
feſſelnd, anregend und, wenn es nicht indiskret iſt, ſo moͤcht ich 


angeſichts dieſer Ihrer Vorzüge wohl fragen dürfen, ſtuͤtzt ſich 


das, was Sie da ſagen, auf allerlei Schmerzliches, das Sie per⸗ 


ſoͤnlich erlebt haben?“ 


„Schmerzliches?“ ſagte die Zwicker. „Ach, meine liebe, 


gnaͤdigſte Frau, Schmerzliches, das iſt ein zu großes Wort, 


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auch dann noch, wenn man vielleicht wirklich manches erlebt 
hat. Schmerzlich iſt einfach zuviel, viel zu viel. Und dann 
hat man doch ſchließlich auch ſeine Hilfsmittel und Gegenkraͤfte. 
Sie duͤrfen dergleichen nicht zu tragiſch nehmen.“ 

„Ich kann mir keine rechte Vorſtellung von dem machen, 
was Sie anzudeuten belieben. Nicht, als ob ich nicht wuͤßte, 
was Suͤnde ſei, das weiß ich auch; aber es iſt doch ein Unter⸗ 
ſchied, ob man ſo hineingeraͤt in allerlei ſchlechte Gedanken oder 
ob einem derlei Dinge zur halben oder auch wohl zur ganzen 
Lebensgewohnheit werden. Und nun gar im eigenen Hauſe ...“ 

„Davon will ich nicht ſprechen, das will ich nicht ſo direkt 
geſagt haben, obwohl ich, offen geſtanden, auch nach dieſer 
Seite hin voller Mißtrauen bin, oder, wie ich jetzt ſagen muß, 
war; denn es liegt ja alles zuruͤck. Aber da gibt es Außengebiete. 


Haben Sie von Landpartien gehoͤrt?“ 


„Gewiß. Und ich wollte wohl, Innſtetten haͤtte mehr 


Sinn dafür...” 


„Überlegen Sie ſich das, liebe Freundin. Zwicker ſaß immer 


in Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur fagen, wenn ich das Wort 


hoͤre, gibt es mir noch jetzt einen Stich ins Herz. Überhaupt 


dieſe Vergnuͤgungsoͤrter in der Umgegend unſeres lieben, alten 


405 


Berlin! Denn ich liebe Berlin trotz alledem. Aber ſchon die 
bloßen Namen der dabei in Frage kommenden Ortſchaften um⸗ 
ſchließen eine Welt von Angſt und Sorge. Sie laͤcheln. Und 
doch, ſagen Sie ſelbſt, liebe Freundin, was koͤnnen Sie von 
einer großen Stadt und ihren Sittlichkeitszuſtaͤnden erwarten, 
wenn Sie beinah unmittelbar vor den Toren derſelben (denn 
zwiſchen Charlottenburg und Berlin iſt kein rechter Unterſchied 
mehr), auf kaum tauſend Schritte zuſammengedraͤngt, einem 
Pichelsberg, einem Pichelsdorf und einem Pichelswerder 
begegnen. Dreimal Pichel iſt zuviel. Sie koͤnnen die ganze 
Welt abſuchen, das finden Sie nicht wieder.“ 

Effi nickte. 

„Und das alles,“ fuhr die Zwicker fort, „geſchieht am gruͤnen 
Holze der Havelſeite. Das alles liegt nach Weſten zu, da haben 
Sie Kultur und hoͤhere Geſittung. Aber nun gehen Sie, meine 
Gnaͤdigſte, nach der andern Seite hin, die Spree hinauf. Ich 
ſpreche nicht von Treptow und Stralau, das ſind Bagatellen, 
Harmloſigkeiten, aber wenn Sie die Spezialkarte zur Hand 
nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindeſtens ſonder⸗ 
baren Namen, wie Kiekebuſch, wie Wuhlheide ... Sie haͤtten 
hören follen, wie Zwicker das Wort ausſprach ... Namen von 
geradezu brutalem Charakter, mit denen ich Ihr Ohr nicht ver⸗ 
letzen will. Aber natürlich find das gerade die Plaͤtze, die bes 


— 


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vorzugt werden. Ich haſſe dieſe Landpartien, die fich das Volks⸗ 
gemuͤt als eine Kremſerpartie mit ‚Sch bin ein Preuße vor⸗ 
ſtellt, in Wahrheit aber ſchlummern hier die Keime einer fr 


zialen Revolution. Wenn ich fage ‚foziale Revolution“, ſo 


meine ich natuͤrlich moraliſche Revolution, alles andere iſt 


bereits wieder uͤberholt, und ſchon Zwicker ſagte mir noch in ; 
feinen letzten Tagen: „Glaube mir, Sophie, Saturn frißt feine 


Kinder. Und Zwicker, welche Maͤngel und Gebrechen er haben 5 
mochte, das bin ich ihm ſchuldig, er war ein philoſophiſcher 


Kopf und hatte ein natuͤrliches Gefühl für hiſtoriſche Ent 


406 


DE IE TEBEBEETUT 


wicklung ... Aber ich ſehe, meine liebe Frau von Innſtetten, 
ſo artig ſie ſonſt iſt, hoͤrt nur noch mit halbem Ohr zu; natuͤr⸗ 
lich, der Poſtbote hat ſich druͤben blicken laſſen, und da fliegt denn 
das Herz hinuͤber und nimmt die Liebesworte vorweg aus dem 
Briefe heraus... Nun, Boͤſelager, was bringen Sie?“ 

Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tiſch heran⸗ 
getreten und packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friſeur⸗ 
anzeigen und zuletzt auch einen großen, eingeſchriebenen Brief 
an Frau Baronin von Innſtetten, geb. von Brieſt. 

Die Empfaͤngerin unterſchrieb, und nun ging der Poſt⸗ 
bote wieder. Die Zwicker aber uͤberflog die Friſeuranzeigen 
und lachte uͤber die Preisermaͤßigung von Shampooing. 

Effi hoͤrte nicht hin; ſie drehte den ihrerſeits empfangenen 
Brief zwiſchen den Fingern und hatte eine ihr unerklaͤrliche 
Scheu, ihn zu oͤffnen. Eingeſchrieben und mit zwei großen 
Siegeln geſiegelt und ein dickes Kuvert. Was bedeutete das? 
Poſtſtempel: „Hohen⸗Cremmen“, und die Adreſſe von der 
Handſchrift der Mutter. Von Innſtetten, es war der fuͤnfte 
Tag, keine Zeile. 

Sie nahm eine Stickſchere mit Perlmuttergriff und ſchnitt 
die Laͤngsſeite des Briefes langſam auf. Und nun harrte ihrer 
eine neue Überraſchung. Der Briefbogen, ja das waren eng 
geſchriebene Zeilen von der Mama, darin eingelegt aber waren 
Geldſcheine mit einem breiten Papierſtreifen drum herum, 
auf dem mit Rotſtift, und zwar von des Vaters Hand, der Be⸗ 
trag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie ſchob das 
Konvolut zuruͤck und begann zu leſen, waͤhrend ſie ſich in den 
Schaukelſtuhl zuruͤcklehnte. Aber ſie kam nicht weit, die Zeilen 
entfielen ihr, und aus ihrem Geſicht war alles Blut fort. Dann 
buͤckte fie ſich und nahm den Brief wieder auf. 

„Was iſt Ihnen, liebe Freundin? Schlechte Nachrichten?“ 

Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und bat nur, 
ihr ein Glas Waſſer reichen zu wollen. Als ſie getrunken, ſagte 


427 


fie: „Es wird voruͤbergehen, liebe Gehelmrätin, aber ich möchte 
mich doch einen Augenblick zurüdziehen... Wenn Sie mir 
Afra ſchicken koͤnnten.“ ö 
Und nun erhob ſie ſich und trat in den Salon zuruͤck, 
wo ſie ſichtlich froh war, einen Halt gewinnen und ſich an dem 
Poliſanderfluͤgel entlang fühlen zu können. So kam fie bis 
an ihr nach rechts hin gelegenes Zimmer, und als ſie hier, 
tappend und ſuchend, die Tuͤr geoͤffnet und das Bett an der 
Wand gegenuͤber erreicht hatte, brach ſie ohnmaͤchtig zuſammen. 


Einunddreißigſtes Kapitel 


Minuten vergingen. Als Effi ſich wieder erholt hatte, 
ſetzte ſie ſich auf einen am Fenſter ſtehenden Stuhl und ſah 
auf die ſtille Straße hinaus. Wenn da doch Laͤrm und Streit 
geweſen waͤre; aber nur der Sonnenſchein lag auf dem chauſſier⸗ 
ten Wege und dazwiſchen die Schatten, die das Gitter und die 
Baͤume warfen. Das Gefuͤhl des Alleinſeins in der Welt 

uͤberkam ſie mit ſeiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde 
noch eine gluͤckliche Frau, Liebling aller, die fie kannten, und 
nun ausgeſtoßen. Sie hatte nur erſt den Anfang des Briefes 
geleſen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben. 
Wohin? Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war ſie 7 
voll tiefer Sehnſucht, aus dem herauszukommen, was ſie hier 
umgab, alſo fort von dieſer Geheimrätin, der das alles bloͤß 
ein „intereſſanter Fall“ war, und deren Teilnahme, wenn 
etwas davon exiſtierte, ſicher an das Maß ihrer Neugier nicht 
heranreichte. 

„Wohin?“ 

Auf dem Tiſche vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der 
Mut, weiterzuleſen. Endlich ſagte ſie: „Wovor bange ich 
mich noch? Was kann noch geſagt werden, das ich mir nicht 


408 


ſchon felber ſagte? Der, um den all dies kam, iſt tot, eine 
Ruͤckkehr in mein Haus gibt es nicht, in ein paar Wochen wird 
die Scheidung ausgeſprochen ſein, und das Kind wird man 
dem Vater laſſen. Natuͤrlich. Ich bin ſchuldig, und eine Schul⸗ 
dige kann ihr Kind nicht erziehen. Und wovon auch? Mich 
ſelbſt werde ich wohl durchbringen. Ich will ſehen, was die 
- Mama darüber ſchreibt, wie fie ſich mein Leben denkt.“ 

Und unter dieſen Worten nahm ſie den Brief wieder, um 
auch den Schluß zu leſen. 

„- Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirft 
Dich auf Dich ſelbſt ſtellen muͤſſen und darfſt dabei, ſoweit 
aͤußere Mittel mitſprechen, unſerer Unterſtuͤtzung ſicher ſein. 
Du wirſt am beſten in Berlin leben (in einer großen Stadt 
vertut ſich dergleichen am beſten) und wirſt da zu den vielen 
gehoͤren, die ſich um freie Luft und lichte Sonne gebracht 
haben. Du wirſt einſam leben, und wenn Du das nicht willſt, 
wahrſcheinlich aus Deiner Sphäre herabſteigen muͤſſen. Die 

Welt, in der Du gelebt haſt, wird Dir verſchloſſen ſein. Und 
was das Traurigſte fuͤr uns und fuͤr Dich iſt (auch fuͤr Dich, 
wie wir Dich zu kennen vermeinen) — auch das elterliche Haus 
wird Dir verſchloſſen ſein; wir koͤnnen Dir keinen ſtillen Platz 
in Hohen⸗Cremmen anbieten, keine Zuflucht in unſerem Hauſe, 
denn es hieße das, dies Haus von aller Welt abſchließen, 
und das zu tun ſind wir entſchieden nicht geneigt. Nicht weil 
wir zu ſehr an der Welt hingen und ein Abſchiednehmen von 
dem, was ſich ‚Gefellfhaft‘ nennt, uns als etwas unbedingt 
Vnertraͤgliches erſchiene; nein, nicht deshalb, ſondern einfach, 

weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das 
Wort nicht erſparen, unſere Verurteilung Deines Tuns, des 
Tuns unſeres einzigen und von uns ſo ſehr geliebten Kindes, 
ausſprechen wollen ...“ 
Ffſi konnte nicht weiterleſen; ihre Augen fuͤllten ſich mit 
Traͤnen, und nachdem fie vergeblich dagegen angekaͤmpft hatte, 


— , . u u 


u ZU a 3 


409 


brach fie zuletzt in ein heftiges Schluchzen und Weinen aus, 
darin ſich ihr Herz erleichterte. 


Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf Effis „Herein“ 
erſchien die Geheimraͤtin. 

„Darf ich eintreten?“ 

„Gewiß, liebe Geheimraͤtin,“ ſagte Effi, die jetzt, leicht zu⸗ 
gedeckt und die Haͤnde gefaltet, auf dem Sofa lag. „Ich bin 
erſchoͤpft und habe mich hier eingerichtet, ſo gut es ging. Darf 
ich Sie bitten, ſich einen Stuhl zu nehmen.“ 

Die Geheimraͤtin ſetzte ſich ſo, daß der Tiſch, mit einer 
Blumenſchale darauf, zwiſchen ihr und Effi war. Effi zeigte 
keine Spur von Verlegenheit und aͤnderte nichts in ihrer Hal⸗ 
tung, nicht einmal die gefalteten Haͤnde. Mit einem Male war 
es ihr vollkommen gleichguͤltig, was die Frau dachte; nur fort 
wollte ſie. 

„Sie haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe gnaͤ⸗ 
digſte Frau ...“ 


„Mehr als traurig,“ ſagte Effi. „Jedenfalls traurig genug, 


um unſerem Beiſammenſein ein raſches Ende zu machen. Ich 
muß noch heute fort.“ 

„Ich moͤchte nicht zudringlich erſcheinen, aber iſt es etwas 
mit Annie?“ 

„Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen uͤberhaupt 


nicht aus Berlin, es waren Zeilen meiner Mama. Sie hat 


Sorgen um mich, und es liegt mir daran, ſie zu zerſtreuen, oder 
wenn ich das nicht kann, wenigſtens an Ort und Stelle zu ſein.“ 


„Mir nur zu begreiflich, ſo ſehr ich es beklage, dieſe letzten 4 
Emſer Tage nun ohne Sie verbringen zu ſollen. Darf ich Ihnen 


meine Dienſte zur Verfuͤgung ſtellen?“ 


Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und a 
meldete, daß man ſich eben zum Lunch verſammle. Die Herr⸗ EB 
ſchaften ſeien alle ſehr in Aufregung: der Kaiſer kaͤme wahr, 


410 


ſcheinlich auf drei Wochen, und am Schluß feien große Manoͤver, 
und die Bonner Huſaren kaͤmen auch. 

Die Zwicker uͤberſchlug ſofort, ob es ſich verlohnen wuͤrde, 
bis dahin zu bleiben, kam zu einem entſchiedenen „Ja“ und 
ging dann, um Effis Ausbleiben beim Lunch zu entſchuldigen. 

Als gleich danach auch Afra gehen wollte, ſagte Effi: „Und 
dann, Afra, wenn Sie frei ſind, kommen Sie wohl noch eine 
Viertelſtunde zu mir, um mir beim Packen behilflich zu ſein. 
Ich will heute noch mit dem Siebenuhrzuge fort.“ 

„Heute noch? Ach, gnaͤdigſte Frau, das iſt doch aber ſchade. 
Nun fangen ja die ſchoͤnen Tage erſt an.“ 

Effi laͤchelte. 


Die Zwicker, die noch allerlei zu hoͤren hoffte, hatte ſich 
nur mit Muͤhe beſtimmen laſſen, der „Frau Baronin“ beim 
Abſchiede nicht das Geleit zu geben. „Auf einem Bahnhofe,“ 
ſo hatte Effi verſichert, „ſei man immer ſo zerſtreut und nur mit 
feinem Platz und feinem Gepaͤck beſchaͤftigt; gerade Perſonen, 
die man lieb habe, von denen naͤhme man gern vorher Ab⸗ 
ſchied.“ Die Zwicker beſtaͤtigte das, trotzdem ſie das Vorge⸗ 
ſchuͤtzte darin ſehr wohl herausfuͤhlte; ſie hatte hinter allen 
Tuͤren geſtanden und wußte gleich, was echt und unecht war. 

Afra begleitete Effi zum Bahnhof und ließ ſich feſt ver⸗ 
ſprechen, daß die Frau Baronin im naͤchſten Sommer wieder: 
kommen wolle; wer mal in Ems geweſen, der komme immer 
wieder. Ems ſei das ſchoͤnſte, außer Bonn. 

Die Zwicker hatte ſich mittlerweile zum Briefſchreiben 
niedergeſetzt, nicht an dem etwas wackligen Rokokoſekretaͤr im 
Salon, ſondern draußen auf der Veranda, an demſelben Tiſch, 
an dem ſie kaum zehn Stunden zuvor mit Effi das Fruͤhſtuͤck 
genommen hatte. 

Sie freute ſich auf den Brief, der einer befreundeten, 
zurzeit in Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen 


411 


ſollte. Beider Seelen hatten ſich laͤngſt gefunden und gipfelten 
in einer der ganzen Maͤnnerwelt geltenden ſtarken Skepſis; 
ſie fanden die Maͤnner durchweg weit zuruͤckbleibend hinter 
dem, was billigerweiſe gefordert werden koͤnne, die ſogenannten 
forſchen“ am meiſten. „Die, die vor Verlegenheit nicht wiſſen, 
wo ſie hinſehen ſollen, ſind, nach einem kurzen Vorſtudium, 
immer noch die beſten, aber die eigentlichen Don Juans erweiſen 
ſich jedesmal als eine Enttaͤuſchung. Wo ſoll es am Ende auch 
herkommen.“ Das waren fo Weisheitsſaͤtze, die zwiſchen den 
zwei Freundinnen ausgetauſcht wurden. 

Die Zwicker war ſchon auf dem zweiten Bogen und fuhr 
in ihrem mehr als dankbaren Thema, das natuͤrlich „Effi“ 
hieß, eben wie folgt fort: „Alles in allem war ſie ſehr zu leiden, 
artig, anſcheinend offen, ohne jeden Adelsduͤnkel (oder doch 
groß in der Kunſt, ihn zu verbergen) und immer intereſſtert, 
wenn man ihr etwas Intereſſantes erzaͤhlte, wovon ich, wie 
ich Dir nicht zu verſichern brauche, den ausgiebigſten Gebrauch 
machte. Nochmals alſo, reizende junge Frau, fuͤnfundzwanzig 
oder nicht viel mehr. Und doch hab ich dem Frieden nie ge⸗ 
traut und traue ihm auch in dieſem Augenblicke noch nicht, 
ja, jetzt vielleicht am wenigſten. Die Geſchichte heute mit dem 
Briefe — da ſteckt eine wirkliche Geſchichte dahinter. Deſſen 
bin ich ſo gut wie ſicher. Es waͤre das erſtemal, daß ich mich in 
ſolcher Sache geirrt haͤtte. Daß ſie mit Vorliebe von den 
Berliner Modepredigern ſprach und das Maß der Gottſeligkeit 
jedes einzelnen feſtſtellte, das, und der gelegentliche Gretchen 
blick, der jedesmal verſicherte, kein Waͤſſerchen truͤben zu koͤnnen 
— alle dieſe Dinge haben mich in meinem Glauben... Aber 
da kommt eben unſere Afra, von der ich Dir, glaub ich, ſchon 2 2 
ſchrieb, eine huͤbſche Perfon, und packt mir ein Zeitungsblatt 
auf den Tiſch, das ihr, wie fie ſagt, unſere Frau Wirtin für 4 
mich gegeben habe; die blau angeſtrichene Stelle. Nun verzeih, 
wenn ich dieſe Stelle erſt Iefe... 4 


1 


412 


1 
4 
3 
. 


© 

5 Nachſchrift. Das Zeitungsblatt war intereſſant genug 
und kam wie gerufen. Ich ſchneide die blau angeſtrichene Stelle 
heraus und lege ſie dieſen Zeilen bei. Du ſiehſt daraus, daß 


ich mich nicht geirrt habe. Wer mag nur der Crampas 


ſein? Es iſt unglaublich — erſt ſelber Zettel und Briefe ſchrei⸗ 


ben und dann auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu 
gibt es Ofen und Kamine? Solange wenigſtens, wie dieſer 


Duellunſinn noch exiſtiert, darf dergleichen nicht vorkommen; 


einem kommenden Geſchlechte kann dieſe Briefſchreibepaſſion 


(weil dann gefahrlos geworden) vielleicht freigegeben werden. 


Aber ſoweit ſind wir noch lange nicht. Übrigens bin ich voll 
Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie man nun 


mal iſt, meinen einzigen Troſt darin, mich in der Sache ſelbſt 
{ nicht getaͤuſcht zu haben. Und der Fall lag nicht fo ganz ges 
woͤhnlich. Ein ſchwaͤcherer Diagnoſtiker haͤtte ſich doch vielleicht 


hinters Licht führen laſſen. Wie immer Deine Sophie” 


Zweiunddreißigſtes Kapitel 


Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte ſeit faſt 
ebenſolanger Zeit eine kleine Wohnung in der Koͤniggraͤtzer⸗ 
ſtraße, zwiſchen Askaniſchem Platz und Halleſchem Tor: ein 
Vorder⸗ und Hinterzimmer und hinter dieſem die Kuͤche mit 
Maͤdchengelaß, alles ſo durchſchnittsmaͤßig und alltaͤglich wie 
nur moͤglich. Und doch war es eine apart huͤbſche Wohnung, 


die jedem, der ſie ſah, angenehm auffiel, am meiſten vielleicht 


dem alten Geheimrat Rummſchuͤttel, der, dann und wann 
vorſprechend, der armen jungen Frau nicht bloß die nun weit 
zuruͤckliegende Rheumatismus⸗ und Neuralgiekomoͤdie, ſondern 
auch alles, was ſeitdem ſonſt noch vorgekommen war, laͤngſt 


verziehen hatte, wenn es fuͤr ihn der Verzeihung uͤberhaupt 


bedurfte. Denn Rummſchuͤttel kannte noch ganz anderes. 


413 


Er war jetzt ausgangs ſiebzig, aber wenn Effi, die feit einiger 


Zeit ziemlich viel kraͤnkelte, ihn brieflich um ſeinen Beſuch bat, 
ſo war er am anderen Vormittag auch da und wollte von 
Entſchuldigungen, daß es ſo hoch ſei, nichts wiſſen. „Nur 
keine Entſchuldigungen, meine liebe, gnaͤdigſte Frau; denn 
erſtens iſt es mein Metier, und zweitens bin ich gluͤcklich und 
beinahe ſtolz, die drei Treppen ſo gut noch ſteigen zu koͤnnen. 
Wenn ich nicht fuͤrchten muͤßte, Sie zu belaͤſtigen — denn ich 
komme doch ſchließlich als Arzt und nicht als Naturfreund 
und Landſchaftsſchwaͤrmer —, ſo kaͤme ich wohl noch oͤfter, 
bloß um Sie zu ſehen und mich hier etliche Minuten an Ihr 
Hinterfenſter zu ſetzen. Ich glaube, Sie wuͤrdigen den Ausblick 
nicht genug.“ 

„O doch, doch,“ ſagte Effi; Rummſchuͤttel aber ließ ſich nicht 
ſtoͤren und fuhr fort: „Bitte, meine gnaͤdigſte Frau, treten 
Sie hier heran, nur einen Augenblick, oder erlauben Sie mir, 
daß ich Sie bis an das Fenſter fuͤhre. Wieder ganz herrlich 
heute. Sehen Sie doch nur die verſchiedenen Bahndaͤmme, 
drei, nein vier, und wie es beſtaͤndig darauf hin und her gleitet 
. . . und nun verſchwindet der Zug da wieder hinter einer 
Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den 
weißen Rauch durchleuchtet! Waͤre der Matthaͤikirchhof nicht 
unmittelbar dahinter, ſo waͤre es ideal.“ 

„Ich ſehe gern Kirchhoͤfe.“ 

„Ja, Sie duͤrfen das ſagen. Aber unſerein! Unſereinem 


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kommt unabweislich immer die Frage, koͤnnten hier nich! 


vielleicht einige weniger liegen? Im uͤbrigen, meine gnaͤdigſte 
Frau, bin ich mit Ihnen zufrieden und beklage nur, daß Sie 
von Ems nichts wiſſen wollen; Ems bei Ihren katarrhaliſchen 
Affektionen, würde Wunder ...“ 


Effi ſchwieg. 


„Ems wuͤrde Wunder tun. Aber da Sie's nicht moͤgen 


(und ich finde mich darin zurecht), ſo trinken Sie den Brunnen 


414 


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4 


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5 


hier. In drei Minuten find Sie im Prinz Albrechtſchen Garten, 


und wenn auch die Muſik und die Toiletten und all die Zer⸗ 
ſtreuungen einer regelrechten Brunnenpromenade fehlen, der 
Brunnen ſelbſt iſt doch die Hauptſache.“ 


Effi war einverſtanden, und Rummſchuͤttel nahm Hut und 


ö Stock. Aber er trat noch einmal an das Fenſter heran. „Ich 
hoͤre von einer Terraſſierung des Kreuzbergs ſprechen, Gott 


ſegne die Stadtverwaltung, und wenn dann erſt die kahle 


Stelle da hinten mehr in Grün ſtehen wird.. .. Eine reizende 
Wohnung. Ich könnte Sie faſt beneiden ... Und was ich 
ſchon laͤngſt einmal ſagen wollte, meine gnaͤdige Frau, Sie 


ſchreiben mir immer einen ſo liebenswuͤrdigen Brief. Nun, 


wer freute ſich deſſen nicht? Aber es iſt doch jedesmal eine 
Mühe... Schicken Sie mir doch einfach Roswitha.“ 


£ 


Effi dankte ihm, und ſo ſchieden fie. 


„Schicken Sie mir doch einfach Roswitha...“ hatte 
Rummſchuͤttel geſagt. Ja, war denn Roswitha bei Effi? war 
ſie denn ſtatt in der Keith⸗ in der Koͤniggraͤtzerſtraße? Gewiß 


war ſie's, und zwar ſehr lange ſchon, gerade fo lange, wie Effi 
ſelbſt in der Koͤniggraͤtzerſtraße wohnte. Schon drei Tage vor 


\ 


dieſem Einzug hatte fih Roswitha bei ihrer lieben gnaͤdigen 


Frau ſehen laſſen, und das war ein großer Tag fuͤr beide 
geweſen, ſo ſehr, daß dieſes Tages hier noch nachtraͤglich ge⸗ 
dacht werden muß. 


Effi hatte damals, als der elterliche Abſagebrief aus Hohen⸗ 
Cremmen kam und ſie mit dem Abendzuge von Ems nach 
Berlin zuruͤckreiſte, nicht gleich eine ſelbſtaͤndige Wohnung 
genommen, ſondern es mit einem Unterkommen in einem 


Penſionate verſucht. Es war ihr damit auch leidlich gegluͤckt. 


Die beiden Damen, die dem Penſionat vorſtanden, waren 
gebildet und voll Ruͤckſicht und hatten es laͤngſt verlernt, 


neugierig zu ſein. Es kam da ſo vieles zuſammen, daß ein 


415 


Eindringenwollen in die Geheimniſſe jedes einzelnen viel zu 
umſtaͤndlich geweſen waͤre. Dergleichen hinderte nur den Ge⸗ 
ſchaͤftsgang. Effi, die die mit den Augen angeſtellten Kreuz⸗ 
verhoͤre der Zwicker noch in Erinnerung hatte, fuͤhlte ſich denn 
auch von dieſer Zuruͤckhaltung der Penſionsdamen ſehr an⸗ 
genehm beruͤhrt; als aber vierzehn Tage voruͤber waren, 
empfand ſie doch deutlich, daß die hier herrſchende Geſamt⸗ 
atmoſphaͤre, die phyſiſche wie die moraliſche, nicht wohl ertrag⸗ 
bar fuͤr ſie ſei. Bei Tiſch waren ſie zumeiſt zu ſieben, und zwar 
außer Effi und der einen Penſionsvorſteherin (die andere 
leitete draußen das Wirtſchaftliche) zwei die Hochſchule be⸗ 
ſuchende Englaͤnderinnen, eine adelige Dame aus Sachſen, 
eine ſehr huͤbſche galiziſche Juͤdin, von der niemand wußte, 
was ſie eigentlich vorhatte, und eine Kantorstochter aus 
Polzin in Pommern, die Malerin werden wollte. Das war 4 
eine ſchlimme Zuſammenſetzung, und die gegenſeitigen Übers 4 
heblichkeiten, bei denen die Engländerinnen merkwuͤrdigerweiſe 
nicht abſolut obenan ſtanden, ſondern mit der vom hoͤchſten 
Malergefuͤhl erfüllten Polzinerin um die Palme rangen, waren 
unerquicklich; dennoch waͤre Effi, die ſich paſſiv verhielt, uͤber 
den Druck, den dieſe geiſtige Atmoſphäre übte, hinwegge⸗ 
kommen, wenn nicht, rein phyſiſch und aͤußerlich, die ſich hinzu⸗ 
geſellende Penſionsluft geweſen waͤre. Woraus ſich dieſe eigent⸗ 
lich zuſammenſetzte, war vielleicht uͤberhaupt unerforſchlich, aber 3 
daß fie der ſehr empfindlichen Effi den Atem raubte, war nur 
zu gewiß, und ſo ſah ſie ſich, aus dieſem aͤußerlichen Grunde, 4 
ſehr bald ſchon zur Aus⸗ und Umſchau nach einer anderen 
Wohnung gezwungen, die fie denn auch in verhältnismäßiger # 
Nahe fand. Es war dies die vorgeſchilderte Wohnung in der 
Koͤniggraͤtzerſtraße. Sie ſollte dieſelbe zu Beginn des Herbſt⸗ 
vierteljſahres beziehen, hatte das Noͤtige dazu beſchafft und ; 
zählte während der letzten Septembertage die Stunden er 
zur Erlöfung aus dem Penſionat. 


416 


7 


1 
2 
*. 


3 
5 
3 
. 


An einem dieſer letzten Tage — fie hatte ſich eine Viertel⸗ 
ſtunde zuvor aus dem Eßzimmer zuruͤckgezogen und gedachte ſich 


5 eben auf einem mit einem großblumigen Wollſtoff uͤberzogenen 


Seegrasſofa auszuruhen —, wurde leiſe an ihre Tuͤr geklopft. 
„Herein.“ 
Das eine Hausmaͤdchen, eine kraͤnklich ausſehende Perſon 


W von Mitte Dreißig, die durch beſtaͤndigen Aufenthalt auf dem 


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Korridor des Penſionats den hier lagernden Dunſtkreis überall 
hin in ihren Falten mitſchleppte, trat ein und ſagte: „Die 


gnaͤdige Frau moͤchte entſchuldigen, aber es wolle ſie jemand 
ſprechen.“ 

„Wer?“ 

„Eine Frau.“ 

„Und hat ſie ihren Namen genannt?“ 

„Ja. Roswitha.“ 

Und ſiehe da, kaum daß Effi dieſen Namen gehoͤrt hatte, 
ſo ſchuͤttelte ſie den Halbſchlaf von ſich ab und ſprang auf und 
lief auf den Korridor hinaus, um Roswitha bei beiden Haͤnden 


zu faſſen und in ihr Zimmer zu ziehen. 


„Roswitha. Du. Iſt das eine Freude. Was bringſt du? 


Natuͤrlich was Gutes. Ein ſo gutes, altes Geſicht kann nur 


was Gutes bringen. Ach, wie gluͤcklich ich bin, ich koͤnnte dir 


einen Kuß geben; ich haͤtte nicht gedacht, daß ich noch ſolche 


Freude haben koͤnnte. Mein gutes, altes Herz, wie geht es 
dir denn? Weißt du noch, wie's damals war, als der Chineſe 
ſpukte? Das waren gluͤckliche Zeiten. Ich habe damals ge⸗ 
dacht, es waͤren ungluͤckliche, weil ich das Harte des Lebens 
noch nicht kannte. Seitdem habe ich es kennen gelernt. Ach, 
Spuk iſt lange nicht das ſchlimmſte! Komm, meine gute Ros⸗ 
witha, komm, ſetze dich hier zu mir und erzähle mir ... Ach, ich 
habe ſolche Sehnſucht. Was macht Annie?“ 

Roswitha konnte kaum reden und ſah ſich in dem ſonder⸗ 
baren Zimmer um, deſſen grau und verſtaubt ausſehende 


IV 27 417 


Waͤnde in ſchmale Goldleiſten gefaßt waren. endlich aber 
fand ſie ſich und ſagte, daß de der gnädige Herr nun wieder aus 
Glatz zuruͤck ſei; der alte Kaiſer aber habe geſagt, „ſechs Wochen 
in ſolchem Falle ſei gerade genug,“ und auf den Tag, wo der 
gnaͤdige Herr wieder da ſein wuͤrde, darauf habe ſie bloß ge⸗ 
wartet, wegen Annie, die doch eine Aufſicht haben muͤſſe. Denn 
Johanna ſei wohl eine propre Perſon, aber ſie ſei doch noch zu 
huͤbſch und beſchaͤftige ſich noch zu viel mit ſich ſelbſt und denke 


vielleicht Gott weiß was alles. Aber nun, wo der gnaͤdige 


Herr wieder aufpaſſen und in allem nach dem Rechten ſehen 


koͤnne, da habe ſie ſich's doch antun wollen und mal ſehen, 


wie's der gnaͤdigen Frau gehe... ER 
„Das iſt recht, Roswitha ...“ 


„. . . Und habe mal ſehen Be ob der 1 Frau 1 


was fehle und ob ſie ſie vielleicht brauche, dann wolle ſie gleich 
hierbleiben und beiſpringen und alles machen und dafuͤr 
ſorgen, daß es der gnaͤdigen Frau wieder gut ginge.“ 

Effi hatte ſich in die Sofaecke zuruͤckgelehnt und die Augen 


geſchloſſen. Aber mit eins richtete ſie ſich auf und ſagte: „Ja, ; 


Roswitha, was du da ſagſt, das iſt ein Gedanke; das iſt was. 


Denn du mußt wiſſen, ich bleibe hier nicht in dieſer Penſion, 


ich habe da weiterhin eine Wohnung gemietet und auch Ein⸗ 


N 


. 


richtung beſorgt, und in drei Tagen will ich da einziehen. Und i 
wenn ich da mit dir ankaͤme und zu dir ſagen koͤnnte:, Nein, Ros⸗ 


witha, da nicht, der Schrank muß dahin und der Spiegel da, 
ja, das waͤre was, das ſollte mir ſchon gefallen. Und wenn 
wir dann muͤde von all der Plackerei waͤren, dann ſagte ich: 


„Nun, Roswitha, gehe da hinuͤber und hole uns eine Karaffe 


Spatenbraͤu, denn wenn man gearbeitet hat, dann will man 
doch auch trinken, und wenn du kannſt, ſo bring uns auch etwas 
Gutes aus dem Habsburger Hof mit, du kannſt ja das Ge⸗ 
ſchirr nachher wieder heruͤberbringen — ja, Roswitha, wenn 


ich mir das denke, da wird mir ordentlich leichter ums Herz. 


418 


R — 


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1 


Aber ich muß dich doch fragen, haft du dir auch alles überlegt? 


Von Annie will ich nicht ſprechen, an der du doch haͤngſt, ſie iſt ja 
faſt wie dein eigen Kind, — aber trotzdem, fuͤr Annie wird ſchon 
geſorgt werden, und die Johanna haͤngt ja auch an ihr. Alſo 


davon nichts. Aber bedenke, wie ſich alles veraͤndert hat, wenn 
du wieder zu mir willſt. Ich bin nicht mehr wie damals; ich 


habe jetzt eine ganz kleine Wohnung genommen, und der 
Portier wird ſich wohl nicht ſehr um dich und um mich bemuͤhen. 
Und wir werden eine ſehr kleine Wirtſchaft haben, immer das, 
was wir ſonſt unſer Donnerstageſſen nannten, weil da rein⸗ 
gemacht wurde. Weißt du noch? Und weißt du noch, wie 
der gute Gieshuͤbler mal dazu kam und ſich zu uns ſetzen mußte, 
und wie er dann ſagte: ‚So was Delikates habe er noch nie 
gegeſſen. Du wirſt dich noch erinnern, er war immer ſo 
ſchrecklich artig, denn eigentlich war er doch der einzige Menſch 
in der Stadt, der von Eſſen was verſtand. Die andern fanden 
alles ſchoͤn.“ 

Roswitha freute ſich über jedes Wort und ſah ſchon alles 
in beſtem Gange, bis Effi wieder ſagte: „Haſt du dir das 
alles uͤberlegt? Denn du biſt doch — ich muß das ſagen, 
wiewohl es meine eigne Wirtſchaft war —, du biſt doch nun 
durch viele Jahre hin verwoͤhnt, und es kam nie darauf an, 
wir hatten es nicht noͤtig, ſparſam zu ſein; aber jetzt muß ich 
ſparſam ſein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir 
gibt, du weißt von Hohen⸗Cremmen her. Meine Eltern ſind 
ſehr gut gegen mich, ſoweit ſie's koͤnnen, aber ſie ſind nicht reich. 


und nun ſage, was meinſt du?“ 


„Daß ich naͤchſten Sonnabend mit meinem Koffer an⸗ 
ziehe, nicht am Abend, ſondern gleich am Morgen, und daß 
ich da bin, wenn das Einrichten losgeht. Denn ich kann doch 
ganz anders zufaſſen wie die gnaͤdige Frau.“ b 

„Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man 
muß, kann man alles.“ 


17. 419 


„Und dann, gnädige Frau, Sie brauchen fid) wegen meiner 
nicht zu fürchten, als ob ich mal denken könnte: ‚für Roswitha 
iſt das nicht gut genug. Fuͤr Roswitha iſt alles gut, was ſie 
mit der gnaͤdigen Frau teilen muß, und am liebſten, wenn 
es was Trauriges iſt. Ja, darauf freue ich mich ſchon ordent⸗ 
lich. Dann ſollen Sie mal ſehen, das verſtehe ich. Und wenn 
ich es nicht verſtuͤnde, dann wollte ich es ſchon lernen. Denn, 
gnaͤdige Frau, das hab ich nicht vergeſſen, als ich da auf dem 
Kirchhof ſaß, mutterwindallein und bei mir dachte, nun waͤre 
es doch wohl das beſte, ich laͤge da gleich mit in der Reihe. 
Wer kam da? Wer hat mich da bei Leben erhalten? Ach, ich 
habe ſo viel durchzumachen gehabt. Als mein Vater damals 
mit der gluͤhenden Stange auf mich loskam. ..“ 

V ch weiß ſchon, Roswitha...“ 

„Ja, das war ſchlimm genug. Aber als ich da auf dem 
Kirchhof ſaß, ſo ganz arm und verlaſſen, das war doch noch 
ſchlimmer. Und da kam die gnaͤdige Frau. Und ich will nicht 
ſelig werden, wenn ich das vergeſſe.“ 

Und dabei ſtand ſie auf und ging aufs Fenſter zu. „Sehen 
Sie, gnaͤdige Frau, den muͤſſen Sie doch auch noch ſehen.“ 

Und nun trat auch Effi heran. 

Druͤben, auf der anderen Seite der Straße, ſaß Rollo 
und ſah nach den Fenſtern der Penſion hinauf. 


Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unter⸗ 
ſtuͤtzt, ihre Wohnung in der Koͤniggraͤtzerſtraße, darin es ihr 
von Anfang an gefiel. Umgang fehlte freilich, aber ſie hatte 
waͤhrend ihrer Penſionstage von dem Verkehr mit Menſchen 
ſo wenig Erfreuliches gehabt, daß ihr das Alleinſein nicht ſchwer 
fiel, wenigſtens anfaͤnglich nicht. Mit Roswitha ließ ſich aller⸗ 
dings kein aͤſthetiſches Geſpraͤch führen, auch nicht mal ſprechen 
uͤber das, was in der Zeitung ſtand; aber wenn es einfach 
menſchliche Dinge betraf und Effi mit einem „ach Roswitha, 


420 


mich aͤngſtigt es wieder ..“ ihren Satz begann, dann wußte 
die treue Seele jedesmal gut zu antworten und hatte immer 


Troſt und meiſt auch Rat. 

Bis Weihnachten ging es vorzuͤglich; aber der Heiligabend 
verlief ſchon recht traurig, und als das neue Jahr herankam, 
begann Effi ganz ſchwermuͤtig zu werden. Es war nicht kalt, 
nur grau und regneriſch, und wenn die Tage kurz waren, ſo 
waren die Abende deſto laͤnger. Was tun? Sie las, ſie ſtickte, 
ſie legte Patience, ſie ſpielte Chopin, aber dieſe Notturnos 
waren auch nicht angetan, viel Licht in ihr Leben zu tragen, 
und wenn Roswitha mit dem Teebrett kam und außer dem 
Teezeug auch noch zwei Tellerchen mit einem Ei und einem in 
kleine Scheiben geſchnittenen Wiener Schnitzel auf den Tiſch 
ſetzte, ſagte Effi, waͤhrend ſie das Pianino ſchloß: „Ruͤcke 
heran, Roswitha. Leiſte mir Geſellſchaft.“ 

Roswitha kam denn auch. „Ich weiß ſchon, die gnaͤdige Frau 
haben wieder zu viel geſpielt; dann ſehen Sie immer ſo aus 
und haben rote Flecke. Der Geheimrat hat es doch verboten.“ 

„Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und 
du haſt es auch leicht, all das nachzuſprechen. Aber was ſoll 
ich denn machen? Ich kann doch nicht den ganzen Tag am Fenſter 
ſitzen und nach der Chriſtuskirche hinuͤberſehen. Sonntags, 
beim Abendgottesdienſt, wenn die Fenſter erleuchtet ſind, 
ſehe ich ja immer hinüber; aber es hilft mir auch nichts, mir 
wird dann immer noch ſchwerer ums Herz.“ 

„Ja, gnaͤdige Frau, dann ſollten Sie mal hineingehen. 
Einmal waren Sie ja ſchon druͤben.“ 

„O, ſchon oͤfters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt. 
Er predigt ganz gut und iſt ein ſehr kluger Mann, und ich waͤre 
froh, wenn ich das Hundertſte davon wuͤßte. Aber es iſt doch 
alles bloß, wie wenn ich ein Buch leſe; und wenn er dann ſo 
laut ſpricht und herumficht und ſeine ſchwarzen Locken ſchuͤttelt, 
dann bin ich aus meiner Andacht heraus.“ 


421 


„Heraus?“ 5 

Effi lachte. „Du meinſt, ich war noch gar nicht drin. Und 
es wird wohl ſo ſein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch 
nicht an mir. Er ſpricht immer ſo viel vom Alten Teſtament. 
Und wenn es auch ganz gut iſt, es erbaut mich nicht. Über⸗ 
haupt all das Zuhoͤren; es iſt nicht das rechte. Sieh, ich muͤßte 
ſoviel zu tun haben, daß ich nicht ein noch aus wuͤßte. Das 
waͤre was fuͤr mich. Da gibt es ſo Vereine, wo junge Maͤdchen 
die Wirtſchaft lernen oder Naͤhſchulen oder Kindergaͤrtnerinnen. 
Haft du nie davon gehört?” 

„Ja, ich habe mal davon gehoͤrt. Anniechen ſollte mal in 
einen Kindergarten.“ 

„Nun ſiehſt du, du weißt es beſſer als ich. Und in ſolchen 
Verein, wo man ſich nuͤtzlich machen kann, da moͤchte ich ein⸗ 
treten. Aber daran iſt gar nicht zu denken; die Damen nehmen 
mich nicht an und koͤnnen es auch nicht. Und das iſt das ſchreck⸗ 
lichſte, daß einem die Welt ſo zu iſt, und daß es ſich einem ſogar 
verbietet, bei Gutem mit dabei zu ſein. Ich > nicht mal 
armen Kindern eine Nachhilfeſtunde geben ... 

„Das wäre auch nichts für Sie, gnaͤdige Frau; die Kinder 
haben immer ſo fettige Stiefel an, und wenn es naſſes Wetter 
iſt, — das iſt dann ſolch Dunſt und Schmook, das halten die 
gnaͤdige Frau gar nicht aus.“ 

Effi laͤchelte. „Du wirft wohl recht haben, Roswitha; 
aber es iſt ſchlimm, daß du recht haſt, und ich ſehe daran, 
daß ich noch zu viel von dem alten Menſchen in mir habe und 
daß es mir noch zu gut geht.“ 

Davon wollte aber Roswitha nichts wiſſen. „Wer ſo gut 
iſt wie gnaͤdige Frau, dem kann es gar nicht zu gut gehen. 
Und Sie muͤſſen nur nicht immer fo was Trauriges ſpielen, 
und mitunter denke ich mir, es wird alles noch wieder gut, und 
es wird ſich ſchon was finden.“ 

Und es fand ſich auch was. Effi, trotz der Kantorstochter 


422 


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aus Polin, deren Kuͤnſtlerduͤnkel ihr immer noch als etwas 
Schreckliches vorſchwebte, wollte Malerin werden, und wie⸗ 
wohl fie ſelber darüber lachte, weil fie ſich bewußt war, über 
eine unterſte Stufe des Dilettantismus nie hinauskommen zu 


koͤnnen, ſo griff ſie doch mit Paſſion danach, weil ſie nun eine 


4 Beſchaͤftigung hatte, noch dazu eine, die, weil ſtill und ge⸗ 


raͤuſchlos, ganz nach ihrem Herzen war. Sie meldete ſich denn 


4 auch bei einem ganz alten Malerprofeſſor, der in der maͤrkiſchen 
Ariſtokratie ſehr bewandert und zugleich ſo fromm war, daß 


ihm Effi von Anfang an ans Herz gewachſen erſchien. Hier, 
ſo gingen wohl ſeine Gedanken, war eine Seele zu retten, und 
ſo kam er ihr, als ob ſie ſeine Tochter geweſen waͤre, mit einer 
ganz beſonderen Liebenswuͤrdigkeit entgegen. Effi war ſehr 
gluͤcklich daruͤber, und der Tag ihrer erſten Malſtunde bezeich⸗ 
nete fuͤr ſie einen Wendepunkt zum Guten. Ihr armes Leben 
war nun nicht ſo arm mehr, und Roswitha triumphierte, 
daß ſie recht gehabt und ſich nun doch etwas gefunden habe. 

Das ging ſo Jahr und Tag und daruͤber hinaus. Aber 
daß ſie nun wieder eine Beruͤhrung mit den Menſchen hatte, 
wie ſie's begluͤckte, ſo ließ es auch wieder den Wunſch in ihr 
entſtehen, daß dieſe Beruͤhrungen ſich erneuern und mehren 
moͤchten. Sehnſucht nach Hohen-Cremmen erfaßte ſie mit⸗ 
unter mit einer wahren Leidenſchaft, und noch leidenſchaftlicher 
ſehnte ſie ſich danach, Annie wiederzuſehen. Es war doch ihr 
Kind, und wenn ſie dem nachhing und ſich gleichzeitig der 
Trippelli erinnerte, die mal geſagt hatte: ‚Die Welt ſei fo klein, 


und in Mittelafrika könne man ſicher fein, plotzlich einem alten 


Bekannten zu begegnen, ſo war ſie mit Recht verwundert, 
Annie noch nie getroffen zu haben. Aber auch das ſollte ſich 
eines Tages aͤndern. Sie kam aus der Malſtunde, dicht am 
Zoologiſchen Garten, und ſtieg, nahe dem Halteplatz, in einen 
die lange Kurfürſtenſtraße paffierenden Pferdebahnwagen ein. 
Alles andere heiß, und die herabgelaſſenen Vorhänge, die bei 


y 
423 


dem ſtarken Luftzuge, der ging, hin und her bauſchten, taten 
ihr wohl. Sie lehnte ſich in die dem Vorderperron zugekehrte 
Ecke und muſterte eben mehrere in eine Glasſcheibe einge⸗ 
brannte Sofas, blau mit Quaſten und Puſcheln daran, als 
ſie — der Wagen war gerade in einem langſamen Fahren — 
drei Schulkinder aufſpringen ſah, die Mappen auf dem Ruͤcken, 
mit kleinen ſpitzen Huͤten, zwei blond und ausgelaſſen, die 
dritte dunkel und ernſt. Es war Annie. Effi fuhr heftig zu⸗ 
ſammen, und eine Begegnung mit dem Kinde zu haben, wonach 
ſie ſich doch ſo lange geſehnt, erfuͤllte ſie jetzt mit einer wahren 
Todesangſt. Was tun? Raſch entſchloſſen öffnete fie die Tür 
zu dem Vorderperron, auf dem niemand ſtand als der Kutſcher, 
und bat dieſen, ſie bei der naͤchſten Halteſtelle vorn abſteigen 
zu laſſen. „Is verboten, Fraͤulein,“ ſagte der Kutſcher; ſie 
gab ihm aber ein Geldſtuͤck und ſah ihn ſo bittend an, daß der 
gutmuͤtige Menſch anderen Sinnes wurde und vor ſich hin 
ſagte: „Sind ſoll es eigentlich nich; aber es wird ja woll mal 
gehen.“ Und als der Wagen hielt, nahm er das Gitter aus, 
und Effi ſprang ab. l 
Noch in großer Erregung kam Effi nach Hauſe. 1 
„Denke dir, Roswitha, ich habe Annie geſehen.“ und 
nun erzaͤhlte ſie von der Begegnung in dem Pferdebahnwagen. 
Roswitha war unzufrieden, daß Mutter und Tochter keine 
Wiederſehensſzene gefeiert hatten und ließ ſich nur ungern 
uͤberzeugen, daß das in Gegenwart ſo vieler Menſchen nicht 
wohl angegangen ſei. Dann mußte Effi erzaͤhlen, wie Annie 
ausgeſehen habe, und als ſie das mit muͤtterlichem Stolze 
getan, ſagte Roswitha: „Ja, ſie iſt ſo halb und halb. Das 
Huͤbſche und, wenn ich es ſagen darf, das Sonderbare, das hat 
fie von der Mama; aber das Ernſte, das iſt ganz der Pappa. 
Und wenn ich mir ſo alles uͤberlege, iſt ſie doch wohl mehr wie 
der gnaͤdige Herr.“ 
„Gott ſei Dank!“ ſagte Effi. 447 antorstochter 
424 


* 
* 4. 


er 


„Na, gnaͤdge Frau, das iſt nu doch auch noch die Frage. 
| Und da wird ja wohl mancher fein, der mehr für die Mama iſt.“ 
„Glaubſt du, Roswitha? Ich glaube es nicht.“ 

„Na, na, ich laſſe mir nichts vormachen und ich glaube, 
die gnaͤdige Frau weiß auch ganz gut, wie's eigentlich iſt und 
was die Männer am liebſten haben.“ 

„Ach, ſprich nicht davon, Roswitha.“ 

Damit brach das Geſpraͤch ab und wurde auch nicht wieder 
aufgenommen. Aber Effi, wenn ſie's auch vermied, gerade 
uͤber Annie mit Roswitha zu ſprechen, konnte die Begegnung 
in ihrem Herzen doch nicht verwinden und litt unter der Vor⸗ 
ſtellung, vor ihrem eigenen Kinde geflohen zu ſein. Es quaͤlte 
fie bis zur Beſchaͤmung, und das Verlangen nach einer Bes 
gegnung mit Annie ſteigerte ſich bis zum Krankhaften. An 
Innſtetten ſchreiben und ihn darum bitten, das war nicht 
moͤglich. Ihrer Schuld war ſie ſich wohl bewußt, ja, ſie naͤhrte 
das Gefuͤhl davon mit einer halb leidenſchaftlichen Gefliſſent⸗ 
lichkeit; aber inmitten ihres Schuldbewußtſeins fuͤhlte ſie ſich 
andererſeits auch von einer gewiſſen Auflehnung gegen Inn⸗ 
ſtetten erfuͤllt. Sie ſagte ſich: er hatte recht und noch einmal 
und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht. Alles Ge⸗ 
ſchehene lag ſo weit zuruͤck, ein neues Leben hatte begonnen, — 
er haͤtte es koͤnnen verbluten laſſen, ſtatt deſſen verblutete der 
arme Crampas. 

Nein, an Innſtetten ſchreiben, das ging nicht; aber Annie 
wollte ſie ſehen und ſprechen und an ihr Herz druͤcken, und nach⸗ 
dem ſie's tagelang uͤberlegt hatte, ſtand ihr feſt, wie's am beſten 
zu machen ſei. 

Gleich am andern Vormittage kleidete ſie ſich ſorgfaͤltig 
in ein dezentes Schwarz und ging auf die Linden zu, ſich hier 
bei der Miniſterin melden zu laſſen. Sie ſchickte ihre Karte 
hinein, auf der nur ſtand: Effi von Innſtetten geb. von Brieſt. 
Alles andere ar fortgelaffen, auch die Baronin. „Exzellenz 


„ 


* 


425 


> Pr 
— 


* 


laſſen bitten,“ und Effi folgte dem Diener bis in ein Vor; 
zimmer, wo ſie ſich niederließ und trotz der Erregung, in der 
fie ſich befand, den Bilderſchmuck an den Wänden muſterte. 
Da war zunaͤchſt Guido Renis Aurora, gegenüber aber hingen 
engliſche Kupferſtiche, Stiche nach Benjamin Weſt, in der be⸗ 


kannten Aquatinta⸗Manier von viel Licht und Schatten. Eines 


der Bilder war Koͤnig Lear im Unwetter auf der Heide. 

Effi hatte ihre Muſterung kaum beendet, als die Tuͤr des 
angrenzenden Zimmers ſich oͤffnete und eine große, ſchlanke 
Dame von einem ſofort fuͤr ſie einnehmenden Ausdruck auf 
die Bittſtellerin zutrat und ihr die Hand reichte. „Meine liebe, 
gnaͤdigſte Frau,“ ſagte ſie, „welche Freude fuͤr mich, Sie wieder⸗ 
zuſehen ...“ 

Und waͤhrend ſie das ſagte, ſchritt ſie auf das Sofa zu 


und zog Effi, waͤhrend ſie ſelber Platz nahm, zu ſich nieder. 


Effi war bewegt durch die ſich in allem ausſprechende 
Herzensguͤte. Keine Spur von Überheblichkeit oder Vorwurf, 
nur menſchlich ſchoͤne Teilnahme. „Womit kann ich Ihnen 
dienen?“ nahm die Miniſterin noch einmal das Wort. 


Um Effis Mund zuckte es. Endlich ſagte ſie: „Was mich 
herfuͤhrt, iſt eine Bitte, deren Erfuͤllung Exzellenz vielleicht 
moͤglich machen. Ich habe eine zehnjaͤhrige Tochter, die ich 
ſeit drei Jahren nicht geſehen habe und gern wiederſehen 


moͤchte.“ 


lich an. 


und ich will nichts aͤndern in meinem Leben. Wie es iſt, ſo 


iſt es recht; ich habe es nicht anders gewollt. Aber das mit = 


426 


1 


er ee re 


Die Minifterin nahm Effis Hand und fah fie freund: 3 


„Wenn ich fage, in drei Jahren nicht gefehen, fo iſt das 
nicht ganz richtig. Vor drei Tagen habe ich ſie wiedergeſehen.“ 1 f 
Und nun ſchilderte Effi mit großer Lebendigkeit die Begegnung, 
die ſie mit Annie gehabt hatte. „Vor meinem eigenen Kinde E 
auf der Flucht. Ich weiß wohl, man liegt, wie man fich Bette, 


„ene 


dem Kinde, das iſt doch zu hart, und fo habe ich denn den Wunſch, 

es dann und wann ſehen zu duͤrfen, nicht heimlich und ver⸗ 

ſtohlen, ſondern mit Wiſſen und Zuſtimmung aller Be⸗ 
teiligten.“ 


„Unter Wiſſen und Zuſtimmung aller Beteiligten,“ wieder⸗ 


holte die Miniſterin Effis Worte. „Das heißt alſo unter Zu⸗ 
ſtimmung Ihres Herrn Gemahls. Ich ſehe, daß feine Erz 


ziehung dahin geht, das Kind von der Mutter fernzuhalten, 


ein Verfahren, uͤber das ich mir kein Urteil erlaube. Vielleicht, 


daß er recht hat; verzeihen Sie mir dieſe Bemerkung, gnaͤdige 
Frau.“ 

Effi nickte. 

„Sie finden ſich ſelbſt in der Haltung Ihres Herrn Ges 
mahls zurecht und verlangen nur, daß einem natuͤrlichen Ge⸗ 
fuͤhle, wohl dem ſchoͤnſten unſerer Gefuͤhle (wenigſtens wir 
Frauen werden uns darin finden), ſein Recht werde. Treff ich 
es darin?“ 

„In allem.“ 

„Und ſo ſoll ich denn die Erlaubnis zu gelegentlichen Be⸗ 
gegnungen erwirken, in Ihrem Hauſe, wo Sie verſuchen koͤnnen, 


ſich das Herz Ihres Kindes zurückzuerobern.“ 


Effi druͤckte noch einmal ihre Zuſtimmung aus, waͤhrend 
die Miniſterin fortfuhr: „Ich werde alſo tun, meine gnaͤdigſte 
Frau, was ich tun kann. Aber wir werden es nicht eben leicht 
haben. Ihr Herr Gemahl, verzeihen Sie, daß ich ihn nach wie 
vor ſo nenne, iſt ein Mann, der nicht nach Stimmungen und 
Laune, ſondern nach Grundſaͤtzen handelt und dieſe fallen zu 
laſſen oder auch nur momentan aufzugeben, wird ihm hart 
ankommen. Laͤg es nicht fo, fo wäre feine Handlungs; und 
Erziehungsweiſe laͤngſt eine andere geweſen. Was, was hart 
für Ihr Herz iſt, Hält er für richtig.“ 

„So meinen Exzellenz vielleicht, es waͤre beſſer, meine Bitte 
zuruͤckzunehmen?“ 


427 


„Doch nicht. Ich wollte nur das Tun Ihres Herrn Ge⸗ 
mahls erklaͤren, um nicht zu ſagen rechtfertigen, und wollte 
zugleich die Schwierigkeiten andeuten, auf die wir aller Wahr⸗ 
ſcheinlichkeit nach ſtoßen werden. Aber ich denke, wir zwingen 
es trotzdem. Denn wir Frauen, wenn wir's klug einleiten 
und den Bogen nicht uͤberſpannen, wiſſen mancherlei durch⸗ 
zuſetzen. Zudem gehoͤrt Ihr Herr Gemahl zu meinen beſon⸗ 
deren Verehrern, und er wird mir eine Bitte, die ich an ihn 
richte, nicht wohl abſchlagen. Wir haben morgen einen kleinen 
Zirkel, auf dem ich ihn ſehe, und uͤbermorgen fruͤh haben Sie 
ein paar Zeilen von mir, die Ihnen ſagen werden, ob ich's 
klug, das heißt gluͤcklich eingeleitet oder nicht. Ich denke, wir 
ſiegen in der Sache, und Sie werden Ihr Kind wiederſehen und 
ſich ſeiner freuen. Es ſoll ein ſehr ſchoͤnes Maͤdchen ſein. Nicht 
zu verwundern.“ 


Oreiunddreißigſtes Kapitel 


Am zweitfolgenden Tage trafen, wie verſprochen, einige 
Zeilen ein und Effi las: „Es freut mich, liebe gnaͤdige Frau, 


Ihnen gute Nachricht geben zu koͤnnen. Alles ging nach 


Wunſch; Ihr Herr Gemahl iſt zu ſehr Mann von Welt, um 
einer Dame eine von ihr vorgetragene Bitte abſchlagen zu 
koͤnnen; zugleich aber — auch das darf ich Ihnen nicht ver⸗ 
ſchweigen, — ich ſah deutlich, daß fein ‚Ja‘ nicht dem entſprach, 
was er fuͤr klug und recht haͤlt. Aber kritteln wir nicht, wo wir 
uns freuen ſollen. Ihre Annie, ſo haben wir es verabredet, 
wird uͤber Mittag kommen, und ein guter Stern ſtehe uͤber 
Ihrem Wiederſehen.“ 

Es war mit der zweiten Poſt, daß Effi dieſe Zeilen empfing, 
und bis zu Annies Erſcheinen waren mutmaßlich keine zwei 
Stunden mehr. Eine kurze Zeit, aber immer noch zu lang, 


428 


Wenn 


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4 


und Effi ſchritt in Unruhe durch beide Zimmer und dann wiedet 


in die Kuͤche, wo ſie mit Roswitha von allem moͤglichen ſprach: 


von dem Efeu druͤben an der Chriſtuskirche, naͤchſtes Jahr 
wuͤrden die Fenſter wohl ganz zugewachſen fein, von dem Porz 
tier, der den Gashahn wieder ſo ſchlecht zugeſchraubt habe 
(ſie würden doch noch naͤchſtens in die Luft fliegen), und daß 
ſie das Petroleum doch lieber wieder aus der großen Lampen⸗ 


handlung Unter den Linden als aus der Anhaltſtraße holen 
ſolle, — von allem moͤglichen ſprach ſie, nur von Annie nicht, 


weil ſie die Furcht nicht aufkommen laſſen wollte, die trotz 


der Zeilen der Miniſterin, oder vielleicht auch um dieſer Zeilen 
willen, in ihr lebte. 
Nun war Mittag. Endlich wurde geklingelt, ſchuͤchtern, 


und Roswitha ging, um durch das Guckloch zu ſehen. Richtig, 
es war Annie. Roswitha gab dem Kinde einen Kuß, ſprach 
aber ſonſt kein Wort, und ganz leiſe, wie wenn ein Kranker im 


Hauſe waͤre, fuͤhrte ſie das Kind vom Korridor her erſt in die 
Hinterſtube und dann bis an die nach vorn fuͤhrende Tuͤr. 

„Da geh hinein, Annie.“ Und unter dieſen Worten, ſie 
wollte nicht ſtoͤren, ließ ſie das Kind allein und ging wieder auf 
die Kuͤche zu. 

Effi ſtand am andern Ende des Zimmers, den Ruͤcken 
gegen den Spiegelpfeiler, als das Kind eintrat. „Annie!“ 
Aber Annie blieb an der nur angelehnten Tuͤr ſtehen, halb 
verlegen, aber halb auch mit Vorbedacht, und ſo eilte denn 
Effi auf das Kind zu, hob es in die Hoͤhe und kuͤßte es. 

„Annie, mein ſuͤßes Kind, wie freue ich mich. Komm, 
erzaͤhle mir,“ und dabei nahm ſie Annie bei der Hand und 
ging auf das Sofa zu, um ſich da zu ſetzen. Annie ſtand auf⸗ 
recht und griff, waͤhrend ſie die Mutter immer noch ſcheu anſah, 
mit der Linken nach dem Zipfel der herabhaͤngenden Tiſchdecke. 
„Weißt du wohl, Annie, daß ich dich einmal geſehen habe?“ 

„Ja, mir war es auch ſo.“ 


429 


„Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß du geworden 
biſt! Und das iſt die Narbe da; Roswitha hat mir davon 
erzaͤhlt. Du warſt immer ſo wild und ausgelaſſen beim Spielen. 
Das haſt du von deiner Mama, die war auch ſo. Und in der 
Schule? ich denke mir, du biſt immer die Erſte, du ſiehſt mir 
ſo aus, als muͤßteſt du eine Muſterſchuͤlerin ſein und immer 
die beſten Zenſuren nach Hauſe bringen. Ich habe auch gehoͤrt, 
daß dich das Fräulein von Wedelſtaͤdt fo gelobt haben ſoll. Das 
iſt recht; ich war auch ſo ehrgeizig, aber ich hatte nicht ſolche 
gute Schule. Mythologie war immer mein Beſtes. Worin biſt 
du denn am beſten?“ 

„Ich weiß es nicht.“ 3 

„O, du wirft es ſchon wiſſen. Das weiß man. Worin haſt 
du denn die beſte Zenſur?“ 4 

„In der Religion.“ 

„Nun, ſiehſt du, da weiß ich es doch. Ja, das iſt ſehr 
ſchoͤn; ich war nicht ſo gut darin, aber es wird wohl auch 
an dem Unterricht gelegen haben. Wir hatten bloß einen 
Kandidaten.“ 5 

„Wir hatten auch einen Kandidaten.“ 

„Und der iſt fort?“ 

Annie nickte. 

„Warum iſt er fort?“ 2 

„Ich weiß es nicht. Wir haben nun wieder den Prediger 

„Den ihr alle ſehr liebt.“ 2 

„Ja; zwei aus der erſten Klaſſe wollen auch uͤbertreten.“ 

„Ah, ich verſtehe; das iſt ſchoͤn. Und was macht Johanna ea 

„Johanna hat mich bis vor das Haus begleitet.“ 

„Und warum haſt du ſie nicht mit heraufgebracht?“ * 

„Sie ſagte, ſie wolle lieber unten bleiben und an der Kirch- 2 
drüben warten.“ ne 

„Und da ſollſt du fie wohl abholen?“ 

„Ja.“ 


430 


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5 „Nun, fie wird da hoffentlich nicht ungeduldig werden. 


N 
{ 


Es iſt ein kleiner Vorgarten da, und die Fenſter find ſchon 
halb von Efeu uͤberwachſen, als ob es eine alte Kirche waͤre.“ 
„Ich moͤchte ſie aber doch nicht gerne warten laſſen.“ 

„Ach, ich ſehe, du biſt ſehr ruͤckſichtsboll, und daruͤber werde 
ich mich wohl freuen muͤſſen. Man muß es nur richtig ein⸗ 


teilen ... Und nun ſage mir noch, was macht Rollo?“ 


„Rollo iſt ſehr gut. Aber Papa ſagt, er wuͤrde ſo faul; 

er liegt immer in der Sonne.“ 

„Das glaub ich. So war er ſchon, als du noch ganz klein 
warf... Und nun ſage mir, Annie, — denn heute haben wir 
uns ja bloß ſo mal wiedergeſehen, — wirſt du mich oͤfter be⸗ 
ſuchen?“ 

„O gewiß, wenn ich darf.“ 

„Wir koͤnnen dann in dem Prinz Albrechtſchen Garten 
ſpazierengehen.“ 

„O gewiß, wenn ich darf.“ 

„Oder wir gehen zu Schilling und eſſen Eis, Ananas oder 
Vanilleneis, das aß ich immer am liebſten.“ 


550 gewiß, wenn ich darf.“ 


N 


Und bei dieſem dritten „wenn ich darf“ war das Maß voll; 
Effi ſprang auf, und ein Blick, in dem es wie Empoͤrung 
aufflammte, traf das Kind. „Ich glaube, es iſt die hoͤchſte Zeit, 
Annie; Johanna wird ſonſt ungeduldig.“ Und ſie zog die 
Klingel. Roswitha, die ſchon im Nebenzimmer war, trat 
gleich ein. „Roswitha, gib Annie das Geleit bis druͤben zur 
Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat ſie ſich nicht er⸗ 
kaͤltet. Es ſollte mir leid tun. Grüße Johanna.“ 

Und nun gingen beide. 

Kaum aber, daß Roswitha draußen die Tuͤr ins Schloß 


gezogen hatte, ſo riß Effi, weil ſie zu erſticken drohte, ihr Kleid 
auf und verfiel in ein krampfhaftes Lachen. „So alſo ſieht 


ein Wiederſehen aus,“ und dabei ſtuͤrzte fie nach vorn, oͤffnete 


431 


die Fenſterfluͤgel und ſuchte nach etwas, das ihr beiſtehe. Und 
ſie fand auch was in der Not ihres Herzens. Da neben dem 
Fenſter war ein Bücherbrett, ein paar Bande von Schiller 


und Koͤrner darauf, und auf den Gedichtbuͤchern, die alle 


gleiche Hoͤhe hatten, lag eine Bibel und ein Geſangbuch. Sie 
griff danach, weil ſie was haben mußte, vor dem ſie knien und 


beten konnte, und legte Bibel und Geſangbuch auf den Tiſch⸗ 
rand, gerade da, wo Annie geſtanden hatte, und mit einem 


heftigen Ruck warf ſie ſich davor nieder und ſprach halblaut vor 
ſich hin: „O, du Gott im Himmel, vergib mir, was ich getan; 


ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich g 
war alt genug, um zu wiſſen, was ich tat. Ich hab es auch 


gewußt, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, 


aber das iſt zu viel. Denn das hier, mit dem Kind, das biſt 


nicht du, Gott, der mich ſtrafen will, das iſt er, bloß er! Ich 


habe geglaubt, daß er ein edles Herz habe und habe mich immer 
klein neben ihm gefuͤhlt; aber jetzt weiß ich, das er es iſt, 


er iſt klein. Und weil er klein iſt, iſt er grauſam. Alles, was 


klein iſt, iſt grauſam. Das hat er dem Kinde beigebracht, f 


ein Schulmeiſter war er immer, Crampas hat ihn ſo genannt, 
ſpoͤttiſch damals, aber er hat recht gehabt. ‚D gewiß, wenn ich 
darf. Du brauchſt nicht zu dürfen; ich will euch nicht mehr, 
ich haſſ' euch, auch mein eigen Kind. Was zu viel iſt, iſt zu viel. 


m. 


Ein Streber war er, weiter nichts. — Ehre, Ehre, Ehre... 3 
und dann hat er den armen Kerl totgeſchoſſen, den ich nicht 
einmal liebte und den ich vergeſſen hatte, weil ich ihn nicht liebte. 4 


Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich 


ſchuld. Und nun ſchickt er mir das Kind, weil er einer Miniſterin 


nichts abſchlagen kann, und ehe er das Kind ſchickt, richtet er's 
ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phraſe bei wenn ich 
darf“. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr 
ekelt, das iſt eure Tugend. Weg mit euch. Ich muß leben, 
aber ewig wird es ja wohl nicht dauern.“ 


432 


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Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden, das Geſicht 
abgewandt, wie leblos. 


Vierunddreißigſtes Kapitel 


Rummſchüttel, als er gerufen wurde, fand Effis Zuſtand 
nicht unbedenklich. Das Hektiſche, das er ſeit Jahr und Tag 
an ihr beobachtete, trat ihm ausgeſprochener als fruͤher ent⸗ 
gegen, und was ſchlimmer war, auch die erſten Zeichen eines 
Nervenleidens waren da. Seine ruhig freundliche Weiſe 
aber, der er einen Beiſatz von Laune zu geben wußte, tat 
Effi wohl, und ſie war ruhig, ſolange Rummſchuͤttel um ſie 


war. Als er ſchließlich ging, begleitete Roswitha den alten 


Herrn bis in den Vorflur und ſagte: „Gott, Herr Geheimrat, 


mir iſt ſo bange; wenn es nu mal wiederkommt, und es kann 
doch; Gott — da hab ich ja keine ruhige Stunde mehr. Es 
war aber doch auch zu viel, das mit dem Kind. Die arme, 


gnaͤdige Frau. Und noch ſo jung, wo manche erſt anfangen.“ 
„Laſſen Sie nur, Roswitha. Kann noch alles wieder werden. 
Aber fort muß ſie. Wir wollen ſchon ſehen. Andere Luft, 


andere Menſchen.“ 


Den zweiten Tag danach traf ein Brief in Hohen⸗Cremmen 


ein, der lautete: „Gnaͤdigſte Frau! Meine alten freundſchaft⸗ 


lichen Beziehungen zu den Haͤuſern Brieſt und Belling und 


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nicht zum wenigſten die herzliche Liebe, die ich zu Ihrer Frau 
Tochter hege, werden dieſe Zeilen rechtfertigen. Es geht ſo 
nicht weiter. Ihre Frau Tochter, wenn nicht etwas geſchieht, 
as ſie der Einſamkeit und dem Schmerzlichen ihres nun ſeit 
ahren geführten Lebens entreißt, wird ſchnell hinſiechen. Eine 
3pofition zu Phtiſis war immer da, weshalb ich ſchon vor 


ren Ems verordnete; zu dieſem alten Übel hat ſich nun 
ein neues geſellt: ihre Nerven zehren ſich auf. Dem Einhalt 


Er 433 


zu tun iſt ein Luftwechſel nötig. Aber wohin? Es wurde 
nicht ſchwer ſein, in den ſchleſiſchen Baͤdern eine Auswahl zu 
treffen, Salzbrunn gut, und Reinerz, wegen der Nerven⸗ 
komplikation, noch beſſer. Aber es darf nur Hohen⸗Cremmen 
ſein. Denn, meine gnaͤdigſte Frau, was Ihrer Frau Tochter 
Geneſung bringen kann, iſt nicht Luft allein; ſie ſiecht hin, 
weil ſie nichts hat als Roswitha. Dienertreue iſt ſchoͤn, aber 
Elternliebe iſt beſſer. Verzeihen Sie einem alten Manne dies 
Sicheinmiſchen in Dinge, die jenſeits feines Arztlichen Berufes 
liegen. Und doch auch wieder nicht, denn es iſt ſchließlich auch 
der Arzt, der hier ſpricht und ſeiner Pflicht nach, verzeihen 
Sie dies Wort, Forderungen ſtellt ... Ich habe fo viel vom 
Leben geſehen ... aber nichts mehr in dieſem Sinne. Mit 
der Bitte, mich Ihrem Herrn Gemahl empfehlen zu wollen, 
in vorzuͤglicher Ergebenheit Doktor Rummſchuͤttel.“ 

Frau von Brieſt hatte den Brief ihrem Manne vorgeleſen; 
beide ſaßen auf dem ſchattigen Steinflieſengange, den Garten⸗ 
ſaal im Ruͤcken, das Rondell mit der Sonnenuhr vor ſich. 
Der um die Fenſter ſich rankende wilde Wein bewegte ſich leis 
in dem Luftzuge, der ging, und uͤber dem Waſſer ſtanden ein 
paar Libellen im hellen Sonnenſchein. 

Brieſt ſchwieg und trommelte mit dem Finger auf dem 
Teebrett. 

„Bitte, trommle nicht; ſprich lieber.“ 


„Ach, Luiſe, was ſoll ich ſagen. Daß ich trommle, ſagt 


gerade genug. Du weißt ſeit Jahr und Tag, wie ich darüber 
denke. Damals, als Innſtettens Brief kam, ein Blitz aus 


heiterem Himmel, damals war ich deiner Meinung. Aber das 


iſt nun ſchon wieder eine halbe Ewigkeit her; foll ich hier bis 


an mein Lebensende den Seo ſpielen? Ich kann 5 


dir ſagen, ich hab es ſeit lange ſatt ...“ 
„Mache mir keine Vorwuͤrfe, Brieſt; ich liebe ſie ſo wie du, 
vielleicht noch mehr, jeder hat ſeine Art. Aber man lebt doch 


434 


5 
7 


| nicht bloß in der Welt, um ſchwach und zärtlich zu fein und alles 
mit Nachſicht zu behandeln, was gegen Geſetz und Gebot iſt 
und was die Menſchen verurteilen und, vorlaͤufig wenigſtens, 
auch noch — mit Recht verurteilen.“ 

„Ach was. Eins geht vor.“ 

„Natuͤrlich, eins geht vor; aber was iſt das eine?“ 

„Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Und wenn man gar 
bloß eines hat...” 

„Dann iſt es vorbei mit Katechismus und Moral und mit 
dem Anſpruch der „Geſellſchaft'.“ 

„Ach, Luiſe, komme mir mit Katechismus ſoviel du willſt; 
aber komme mir nicht mit „Geſellſchaft'.“ 

„Es iſt ſehr ſchwer, ſich ohne Geſellſchaft zu behelfen.“ 

„Ohne Kind auch. Und dann glaube mir, Luiſe, die ‚Ge; 
ſellſchaft', wenn fie nur will, kann auch ein Auge zudruͤcken. 
Und ich ſtehe ſo zu der Sache: kommen die Rathenower, ſo iſt 
es gut, und kommen ſie nicht, ſo iſt es auch gut. Ich werde 
ganz einfach telegraphieren: ‚Effi komm.“ Biſt du einver⸗ 
ſtanden?“ 

Sie ſtand auf und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. 
„Natuͤrlich bin ich's. Du ſollſt mir nur keinen Vorwurf machen. 
Ein leichter Schritt iſt es nicht. Und unſer Leben wird von 
Stund an ein anderes.“ 

„Ich kann's aushalten. Der Raps ſteht gut, und im 
Herbſt kann ich einen Haſen hetzen. Und der Rotwein ſchmeckt 
mir noch. Und wenn ich das Kind erſt wieder im Hauſe habe, 
dann ſchmeckt er mir noch beſſer ... Und nun will ich das 
Telegramm ſchicken.“ 


Effi war nun ſchon uͤber ein halbes Jahr in Hohen⸗Crem⸗ 
men; ſie bewohnte die beiden Zimmer im erſten Stock, die 
ſie ſchon fruͤher, wenn ſie zu Beſuch da war, bewohnt hatte; 
das groͤßere war fuͤr ſie perſoͤnlich hergerichtet, nebenan ſchlief 


28 435 


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Roswitha. Was Rummſchuͤttel von dieſem Aufenthalt und 
all dem andern Guten erwartet hatte, das hatte ſich auch er⸗ 
fuͤllt, ſo weit ſich's erfuͤllen konnte. Das Huͤſteln ließ nach, 
der herbe Zug, der das ſo guͤtige Geſicht um ein gut Teil ſeines 


Liebreizes gebracht hatte, ſchwand wieder hin, und es kamen 


Tage, wo ſie wieder lachen konnte. Von Keſſin und allem, 
was da zuruͤcklag, wurde wenig geſprochen, mit alleiniger 
Ausnahme von Frau von Padden und natuͤrlich von Gies⸗ 


huͤbler, fuͤr den der alte Brieſt eine lebhafte Vorliebe hatte. 


„Diefer Alonzo, dieſer Precioſa-Spanier, der einen Mirambo 
beherbergt und eine Trippelli großzieht — ja, das muß ein 
Genie ſein, das laß ich mir nicht ausreden.“ Und dann mußte 
ſich Effi bequemen, ihm den ganzen Gieshuͤbler, mit dem 


Hut in der Hand und ſeinen endloſen Artigkeitsverbeugungen, 


vorzuſpielen, was ſie, bei dem ihr eigenen Nachahmungstalent, 
ſehr gut konnte, trotzdem aber ungern tat, weil ſie's allemal 
als ein Unrecht gegen den guten und lieben Menſchen empfand. 
— Von Innſtetten und Annie war nie die Rede, wiewohl 


feſtſtand, daß Annie Erbtochter ſei und Hohen⸗Cremmen ihr 


zufallen wuͤrde. | 
Ja, Effi lebte wieder auf, und die Mama, die nach Frauen⸗ 


art nicht ganz abgeneigt war, die ganze Sache, ſo ſchmerzlich 4 
ſie blieb, als einen intereſſanten Fall anzuſehen, wetteiferte 


mit ihrem Manne in Liebes; und Aufmerkſamkeitsbezeugungen. 
„Solchen guten Winter haben wir lange nicht gehabt,“ 
ſagte Brieſt. Und dann erhob ſich Effi von ihrem Platz und 


ſtreichelte ihm das ſpaͤrliche Haar aus der Stirn. Aber ſo ſchoͤn 4 


das alles war, auf Effis Geſundheit hin angeſehen, war es 
doch alles nur Schein, in Wahrheit ging die Krankheit weiter 
und zehrte ſtill das Leben auf. Wenn Effi — die wieder, wie 
damals an ihrem Verlobungstage mit Innſtetten, ein blau 
und weiß geſtreiftes Kittelkleid mit einem loſen Guͤrtel trug — 
raſch und elaſtiſch auf die Eltern zutrat, um ihnen einen guten 


436 


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Morgen zu bieten, ſo ſahen ſich dieſe freudig verwundert an, 
freudig verwundert, aber doch auch wehmuͤtig, weil ihnen nicht 
entgehen konnte, daß es nicht die helle Jugend, ſondern eine 
Verklaͤrtheit war, was der ſchlanken Erſcheinung und den 
leuchtenden Augen dieſen eigentuͤmlichen Ausdruck gab. Alle, 
die ſchaͤrfer zuſahen, ſahen dies, nur Effi ſelbſt ſah es nicht 
und lebte ganz dem Gluͤcksgefuͤhle, wieder an dieſer fuͤr ſie ſo 
freundlich friedreichen Stelle zu fein, in Verſoͤhnung mit denen, 
die ſie immer geliebt hatte und von denen ſie immer geliebt 
worden war, auch in den Jahren ihres Elends und ihrer 
Verbannung. 

Sie beſchaͤftigte ſich mit allerlei Wirtſchaftlichem und ſorgte 
für Ausſchmuͤckung und kleine Verbeſſerungen im Haushalt. 
Ihr Sinn für das Schöne ließ fie darin immer das Richtige 
treffen. Leſen aber und vor allem die Beſchaͤftigung mit den 
Kuͤnſten hatte ſie ganz aufgegeben. „Ich habe davon ſo viel 
gehabt, daß ich froh bin, die Haͤnde in den Schoß legen zu 
koͤnnen.“ Es erinnerte ſie auch wohl zu ſehr an ihre traurigen 
Tage. Sie bildete ſtatt deſſen die Kunſt aus, ſtill und ent⸗ 
zuͤckt auf die Natur zu blicken, und wenn das Laub von den 
Platanen fiel, wenn die Sonnenſtrahlen auf dem Eis des 
kleinen Teiches blitzten oder die erſten Krokus aus dem noch 


halb winterlichen Rondell aufbluͤhten — das tat ihr wohl, 


und auf all das konnte ſie ſtundenlang blicken und dabei ver⸗ 
geſſen, was ihr das Leben verſagt, oder richtiger wohl, um 


was ſie ſich ſelbſt gebracht hatte. 


Beſuch blieb nicht ganz aus, nicht alle ſtellten ſich gegen fie; 
ihren Hauptverkehr aber hatte ſie doch in Schulhaus und 
Pfarre. 

Daß im Schulhaus die Toͤchter ausgeflogen waren, ſchadete 
nicht viel, es wuͤrde nicht mehr ſo recht gegangen ſein; aber 


| zu Jahnke ſelbſt — der nicht bloß ganz Schwediſch-Pommern, 


* 
— 


ſondern auch die Keſſiner Gegend als ſkandinaviſches Vorland 
437 


anſah und beſtaͤndig darauf bezuͤgliche Fragen ſtellte —, zu 
dieſem alten Freunde ſtand ſie beſſer denn je. „Ja, Jahnke, 
wir hatten ein Dampfſchiff, und wie ich Ihnen, glaub ich, 
ſchon einmal ſchrieb oder vielleicht auch ſchon mal erzaͤhlt habe, 
beinahe wär ich wirklich rüber nach Wisby gekommen. Denken 
Sie ſich, beinahe nach Wisby. Es iſt komiſch, aber ich kann 
eigentlich von vielem in meinem Leben ſagen „beinah.“ 
„Schade, ſchade,“ ſagte Jahnke. 


„Ja, freilich ſchade. Aber auf Ruͤgen bin ich wirklich umher⸗ 


gefahren. Und das waͤre ſo was fuͤr Sie geweſen, Jahnke. 
Denken Sie ſich, Arkona mit einem großen Wendenlagerplatz, 
der noch ſichtbar fein ſoll; denn ich bin nicht hingekommen; 
aber nicht allzu weit davon iſt der Herthaſee mit weißen und 
gelben Mummeln. Ich habe da viel an Ihre Hertha denken 
muͤſſen. ..“ 

„Nun, ja, ja, Hertha... Aber Sie wollten von dem 
Hertha ſee ſprechen ...“ 

„Ja, das wollt ih... Und denken Sie ſich, Jahnke, dicht 
an dem See ſtanden zwei große Opferſteine, blank und noch 


die Rinnen drin, in denen vordem das Blut ablief. Ich habe 


von der Zeit an einen Widerwillen gegen die Wenden.“ 
„Ach, gnaͤdge Frau verzeihen. Aber das waren ja keine 
Wenden. Das mit den Opferſteinen und mit dem Herthaſee 
das war ja ſchon wieder viel, viel fruͤher, ganz vor Christum 
natum; reine Germanen, von denen wir alle abſtammen “ 
„Verſteht ſich,“ lachte Effi, „von denen wir alle abſtammen, 
die Jahnkes gewiß und vielleicht auch die Brieſts.“ 


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Und dann ließ ſie Ruͤgen und den Herthaſee fallen und #4 


fragte nach feinen Enkeln und welche ihm lieber wären: die 
von Bertha oder die von Hertha. 

Ja, Effi ſtand gut zu Jahnke. Aber trotz ſeiner intimen 
Stellung zu Herthaſee, Skandinavien und Wisby war er 
doch nur ein einfacher Mann, und ſo konnte es nicht aus⸗ 


438 


bleiben, daß der vereinſamten jungen Frau die Plaudereien 
mit Niemeyer um vieles lieber waren. Im Herbſt, ſolange 
ſich im Parke promenieren ließ, hatte ſie denn auch die Huͤlle 
und Fuͤlle davon; mit dem Eintreten des Winters aber kam 
eine mehrmonatliche Unterbrechung, weil ſie das Predigerhaus 
ſelbſt nicht gern betrat; Frau Paſtor Niemeyer war immer 
eine ſehr unangenehme Frau geweſen und ſchlug jetzt vollends 
hohe Toͤne an, trotzdem ſie nach Anſicht der Gemeinde ſelber 
nicht ganz einwandsfrei war. 

Das ging ſo den ganzen Winter durch, ſehr zu Effis Leid⸗ 
weſen. Als dann aber, Anfang April, die Straͤucher einen 
gruͤnen Rand zeigten und die Parkwege raſch abtrockneten, da 
wurden auch die Spaziergaͤnge wieder aufgenommen. 

Einmal gingen ſie auch wieder ſo. Von fernher hoͤrte man 
den Kuckuck, und Effi zaͤhlte, wie viele Male er rief. Sie hatte 
ſich an Niemeyers Arm gehaͤngt und ſagte: „Ja, da ruft der 
Kuckuck. Ich mag ihn nicht befragen. Sagen Sie, Freund, 
was halten Sie vom Leben?“ 

„Ach, liebe Effi, mit ſolchen Doktorfragen darfſt du mir 
nicht kommen. Da mußt du dich an einen Philoſophen wenden 
ober ein Ausſchreiben an eine Fakultaͤt machen. Was ich vom 
Leben halte? Viel und wenig. Mitunter iſt es recht viel und 
mitunter iſt es recht wenig.“ 

„Das iſt recht, Freund, das gefaͤllt mir; mehr brauch ich 
nicht zu wiſſen.“ Und als ſie das ſo ſagte, waren ſie bis an 
die Schaukel gekommen. Sie ſprang hinauf mit einer Be⸗ 
hendigkeit wie in ihren juͤngſten Maͤdchentagen, und ehe ſich 
noch der Alte, der ihr zuſah, von ſeinem halben Schreck erholen 
konnte, huckte ſie ſchon zwiſchen den zwei Stricken nieder und 
ſetzte das Schaukelbrett durch ein geſchicktes Auf⸗ und Nieder⸗ 
ſchnellen ihres Koͤrpers in Bewegung. Ein paar Sekunden 
noch, und ſie flog durch die Luft, und bloß mit einer Hand 

ſich haltend, riß ſie mit der andern ein kleines Seidentuch von 


439 


Bruſt und Hals und ſchwenkte es wie in Glüd und Abermut. 
Dann ließ ſie die Schaukel wieder langſam gehen und ſprang 
herab und nahm wieder Niemeyers Arm. 

„Effi, du biſt doch noch immer wie du fruͤher warſt.“ 


„Nein. Ich wollte, es waͤre ſo. Aber es liegt ganz zuruͤck, 4 


und ich hab es nur noch einmal verſuchen wollen. Ach, wie 
ſchoͤn es war, und wie mir die Luft wohltat; mir war, als 
floͤg ich in den Himmel. Ob ich wohl hineinkomme? Sagen 
Sie mir's, Freund, Sie muͤſſen es wiſſen. Bitte, bitte.“ 

Niemeyer nahm ihren Kopf in ſeine zwei alten Haͤnde und 
gab ihr einen Kuß auf die Stirn und ſagte: „Ja, Effi, du wirſt.“ 


Fuͤnfunddreißigſtes Kapitel 
Sr war den ganzen Tag draußen im Park, weil fie das 


Luftbeduͤrfnis hatte; der alte Frieſacker Doktor Wieſike war auch 
einverſtanden damit, gab ihr aber in dieſem Stuͤcke doch zuviel 


Freiheit, zu tun, was ſie wolle, ſo daß ſie ſich waͤhrend der 
kalten Tage im Mai heftig erkaltete: fie wurde fiebrig, huſtete 
viel, und der Doktor, der ſonſt jeden dritten Tag heruͤberkam, 
kam jetzt täglich und war in Verlegenheit, wie er der Sache 


beikommen ſollte, denn die Schlaf- und Huſtenmittel, nach 
denen Effi verlangte, konnten ihr des Fiebers halber nicht 
gegeben werden. 


„Doktor,“ ſagte der alte Brieſt, „was wird aus = Ge- 


ſchichte? Sie kennen ſie ja von klein auf, haben ſie geholt. 


Mir gefällt das alles nicht; fie nimmt ſichtlich ab, und die 


roten Flecke und der Glanz in den Augen, wenn ſie mich mit 


einem Male ſo fragend anſieht. Was meinen Sie? Was er 5 


wird? Muß ſie ſterben?“ 1 
Wieſike wiegte den Kopf langſam hin und her. „Das will 
ich nicht ſagen, Herr von Brieſt. Daß ſie ſo fiebert, gefaͤllt 


440 


mir nicht. Aber wir werden es ſchon wieder runter kriegen, 
dann muß ſie nach der Schweiz oder nach Mentone. Reine 
Luft und freundliche Eindrücke, die das Alte vergeſſen machen..“ 


„Lethe, Lethe.“ 
„Ja, Lethe,“ laͤchelte Wieſike. „Schade, daß uns die alten 


Schweden, die Griechen, bloß das Wort hinterlaſſen haben 


und nicht zugleich auch die Quelle ſelbſt ...“ 

„Oder wenigſtens das Rezept dazu; Waͤſſer werden ja jetzt 
nachgemacht. Alle Wetter, Wieſike, das waͤr ein Geſchaͤft, 
wenn wir hier ſo ein Sanatorium anlegen koͤnnten: Frieſack 
als Vergeſſenheitsquelle. Nun, vorlaͤufig wollen wir's mit der 
Riviera verſuchen. Mentone iſt ja wohl Riviera? Die Kornpreife 
ſind zwar in dieſem Augenblicke wieder ſchlecht, aber was ſein 
muß, muß ſein. Ich werde mit meiner Frau daruͤber ſprechen.“ 

Das tat er denn auch und fand ſofort ſeiner Frau Zu⸗ 
ſtimmung, deren in letzter Zeit — wohl unter dem Eindruck 
zuruͤckgezogenen Lebens — ſtark erwachte Luft, auch mal den 
Suͤden zu ſehen, ſeinem Vorſchlage zu Hilfe kam. Aber Effi 
ſelbſt wollte nichts davon wiſſen. „Wie gut ihr gegen mich 
ſeid. Und ich bin egoiſtiſch genug, ich wuͤrde das Opfer auch 
annehmen, wenn ich mir etwas davon verſpraͤche. Mir ſteht 
es aber feſt, daß es mir bloß ſchaden wuͤrde.“ 

„Das redeſt du dir ein, Effi.“ 

„Nein. Ich bin ſo reizbar geworden; alles aͤrgert mich. 
Nicht hier bei euch. Ihr verwoͤhnt mich und raͤumt mir alles 
aus dem Wege. Aber auf einer Reiſe, da geht das nicht, da 
laßt ſich das Unangenehme nicht fo beiſeite tun; mit dem 


Schaffner faͤngt es an, und mit dem Kellner hört es auf. 


Wenn ich mir die ſuffiſanten Geſichter bloß vorſtelle, ſo wird 
mir ſchon ganz heiß. Nein, nein, laßt mich hier. Ich mag 
nicht mehr weg von Hohen⸗Cremmen, hier iſt meine Stelle. 
Der Heliotrop unten auf dem Rondell, um die Sonnenuhr 
herum, iſt mir lieber als Mentone.“ 


441 


Nach dieſem Geſpraͤch ließ man den Plan wieder fallen, und 
Wieſike, fo viel er fi) von Italien verſprochen hatte, ſagte: „Das 
muͤſſen wir reſpektieren, denn das ſind keine Launen; ſolche 
Kranken haben ein ſehr feines Gefuͤhl und wiſſen mit merk⸗ 
wuͤrdiger Sicherheit, was ihnen hilft und was nicht. Und was 
Frau Effi da geſagt hat von Schaffner und Kellner, das iſt 
doch auch eigentlich ganz richtig, und es gibt keine Luft, die 
ſo viel Heilkraft haͤtte, den Hotelaͤrger (wenn man ſich uͤber⸗ 
haupt daruͤber aͤrgert) zu balancieren. Alſo laſſen wir ſie hier; 
wenn es nicht das beſte iſt, fo iſt es gewiß nicht das ſchlechteſte.“ 

Das beſtaͤtigte ſich denn auch. Effi erholte ſich, nahm um 


ein geringes wieder zu (der alte Brieſt gehörte zu den Wiege⸗ 


fanatikern) und verlor ein gut Teil ihrer Reizbarkeit. Dabei 
war aber ihr Luftbeduͤrfnis in einem beſtaͤndigen Wachſen, 


und zumal wenn Weſtwind ging und graues Gewoͤlk am 


Himmel zog, verbrachte ſie viele Stunden im Freien. An 
ſolchen Tagen ging ſie wohl auch auf die Felder hinaus und 
ins Luch, oft eine halbe Meile weit, und ſetzte ſich, wenn ſie 


muͤde geworden, auf einen Huͤrdenzaun und ſah, in Traͤume 
verloren, auf die Ranunkeln und roten Ampferſtauden, die 


ſich im Winde bewegten. 


„Du gehſt immer ſo allein,“ ſagte Frau von Brieſt. „Unter 
unſeren Leuten biſt du ſicher; aber es ſchleicht auch ſo viel 


fremdes Geſindel umher.“ 

Das machte doch einen Eindruck auf Effi, die an Gefahr 
nie gedacht hatte, und als ſie mit Roswitha allein war, ſagte 
ſie: „Dich kann ich nicht gut mitnehmen, Roswitha; du a 
zu dick und nicht mehr feſt auf den Füßen.” 


„Nu, gnaͤdge Frau, ſo ſchlimm iſt es doch noch nicht. Ich 


koͤnnte ja doch noch heiraten.“ 
„Naturlich,“ lachte Effi. „Das kann man immer noch. 


Aber weißt du, Roswitha, wenn ich einen Hund haͤtte, der 


mich begleitete. Papas Jagdhund hat gar kein Attachement 


442 


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für mich, Jagdhunde find fo dumm, und er rührt ſich immer 
erſt, wenn der Jaͤger oder der Gaͤrtner die Flinte vom Riegel 
nimmt. Ich muß jetzt oft an Rollo denken.“ 

„Ja,“ ſagte Roswitha, „ſo was wie Rollo haben ſie hier 
gar nicht. Aber damit will ich nichts gegen, hier“ geſagt haben. 
Hohen⸗Cremmen iſt ſehr gut.“ 


Es war drei, vier Tage nach dieſem Geſpraͤche zwiſchen 
Effi und Roswitha, daß Innſtetten um eine Stunde fruͤher 
in ſein Arbeitszimmer trat als gewoͤhnlich. Die Morgenſonne, 
die ſehr hell ſchien, hatte ihn geweckt, und weil er fuͤhlen mochte, 
daß er nicht wieder einſchlafen wuͤrde, war er aufgeſtanden, 
um ſich an eine Arbeit zu machen, die ſchon ſeit geraumer Zeit 
der Erledigung harrte. 

Nun war es eine Viertelſtunde nach acht, und er klingelte. 
Johanna brachte das Fruͤhſtuͤckstablett, auf dem neben der 
Kreuzzeitung und der Norddeutſchen Allgemeinen auch noch 
zwei Briefe lagen. Er uͤberflog die Adreſſen und erkannte an 
der Handſchrift, daß der eine vom Miniſter war. Aber der 
andere? Der Poſtſtempel war nicht deutlich zu leſen, und das 
„Sr. Wohlgeboren Herrn Baron von Innſtetten“ bezeugte 
eine gluͤckliche Unvertrautheit mit den landesuͤblichen Titula⸗ 
turen. Dem entſprachen auch die Schriftzuͤge von ſehr primi⸗ 
tivem Charakter. Aber die Wohnungsangabe war wieder merk⸗ 
würdig genau: W. Keithſtraße 1c, zwei Treppen hoch. 

Innſtetten war Beamter genug, um den Brief von „Ex⸗ 
zellenz“ zuerſt zu erbrechen. „Mein lieber Innſtetten! Ich 
freue mich, Ihnen mitteilen zu koͤnnen, daß Seine Maje⸗ 
ſtaͤt Ihre Ernennung zu unterzeichnen geruht haben, und 
gratuliere Ihnen aufrichtig dazu.“ Innſtetten war erfreut 
über die liebenswuͤrdigen Zeilen des Miniſters, faſt mehr als 
uͤber die Ernennung ſelbſt. Denn was das Hoͤherhinauf⸗ 
klimmen auf der Leiter anging, ſo war er ſeit dem Morgen 


443 


in Keſſin, wo Crampas mit einem Blick, den er immer vor 


Augen hatte, Abſchied von ihm genommen, etwas kritiſch gegen | 


derlei Dinge geworden. Er maß feitdem mit anderem Maße, 


ſah alles anders an. Auszeichnung, was war es am Ende? 


Mehr als einmal hatte er waͤhrend der ihm immer freudloſer 


dahinfließenden Tage einer halbvergeſſenen Miniſterialanek⸗ 


dote aus den Zeiten des aͤlteren Ladenberg her gedenken 
muͤſſen, der, als er nach langem Warten den Roten Adler⸗ 


orden empfing, ihn wuͤtend und mit dem Ausrufe beiſeite 


warf: „Da liege, bis du ſchwarz wirſt.“ Wahrſcheinlich war 
er dann hinterher auch „ſchwarz“ geworden, aber um viele 
Tage zu ſpaͤt und ſicherlich ohne rechte Befriedigung für den 
Empfaͤnger. Alles, was uns Freude machen ſoll, iſt an Zeit 
und Umſtaͤnde gebunden, und was uns heute noch begluͤckt, 
iſt morgen wertlos. Innſtetten empfand das tief, und ſo 
gewiß ihm an Ehren und Gunſtbezeugungen von oberſter 
Stelle her lag, wenigſtens gelegen hatte, ſo gewiß ſtand ihm 
jetzt feſt, es kaͤme bei dem glaͤnzenden Schein der Dinge nicht 


viel heraus, und das, was man „das Gluͤck“ nenne, wenn's 
uͤberhaupt exiſtiere, ſei was anderes als dieſer Schein. „Das 


Gluͤck, wenn mir recht iſt, liegt in zweierlei: darin, daß man 


ganz da ſteht, wo man hingehoͤrt (aber welcher Beamte kann 7 


das von ſich ſagen), und zum zweiten und beſten in einem 


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behaglichen Abwickeln des ganz Alltaͤglichen, alſo darin, daß 
man ausgeſchlafen hat und daß einen die neuen Stiefel nicht 


druͤcken. Wenn einem die 720 Minuten eines zwoͤlfſtuͤndigen 
Tages ohne beſonderen Arger vergehen, ſo laͤßt ſich von einem 
gluͤcklichen Tage ſprechen.“ In einer Stimmung, die derlei 


ſchmerzlichen Betrachtungen nachhing, war Innſtetten auch 
heute wieder. Er nahm nun den zweiten Brief. Als er inn 
geleſen, fuhr er uͤber ſeine Stirn und empfand ſchmerzlich, 
daß es ein Glüd gebe, daß er es gehabt, aber daß er es nicht 


mehr habe und nicht mehr haben koͤnne. 


444 


4 


Johanna trat ein und meldete: „Geheimrat Wullersdorf.“ 
Dieſer ſtand ſchon auf der Tuͤrſchwelle. „Gratuliere, Inn⸗ 
ſtetten.“ 
„Ihnen glaub ich's; die anderen werden ſich aͤrgern. Im 
uͤbrigen ..“ 
„Im uͤbrigen. Sie werden doch in dieſem Augenblicke 
nicht kritteln wollen.“ 
„Nein. Die Gnade Seiner Majeſtät beſchaͤmt mich, und 


die wohlwollende Geſinnung des Miniſters, dem ich das alles 


verdanke, faſt noch mehr.“ 

„Aber ...“ 

„Aber ich habe mich zu freuen verlernt. Wenn ich es 
einem anderen als Ihnen ſagte, ſo wuͤrde ſolche Rede fuͤr 
redensartlich gelten. Sie aber, Sie finden ſich darin zurecht. 
Sehen Sie ſich hier um; wie leer und oͤde iſt das alles. Wenn 
die Johanna eintritt, ein ſogenanntes Juwel, ſo wird mir 
angſt und bange. Dieſes Sich⸗in⸗Szene⸗ſetzen (und Innſtetten 
ahmte Johannas Haltung nach), dieſe halb komiſche Buͤſten⸗ 
plaſtik, die wie mit einem Spezialanſpruch auftritt, ich weiß 
nicht, ob an die Menſchheit oder an mich — ich finde das alles 
ſo triſt und elend, und es waͤre zum Totſchießen, wenn es nicht 
ſo laͤcherlich waͤre.“ 

„Lieber Innſtetten, in dieſer Stimmung wollen Sie 
Miniſterialdirektor werden?“ 

„Ah, bah. Kann es anders ſein? Leſen Sie; dieſe Zeilen 
habe ich eben bekommen.“ 

Wullersdorf nahm den zweiten Brief mit dem unleſer⸗ 
lichen Poſtſtempel, amuͤſierte fich über das, Wohlgeboren“ und 
trat dann ans Fenſter, um bequemer leſen zu koͤnnen. 

„Gnaͤdger Herr! Sie werden ſich wohl am Ende wundern, 
daß ich Ihnen ſchreibe, aber es iſt wegen Rollo. Anniechen 
hat uns ſchon voriges Jahr geſagt: Rollo waͤre jetzt ſo faul; 
aber das tut hier nichts, er kann hier ſo faul ſein, wie er will, 


445 


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je fauler, je beſſer. Und die gnadge Frau möchte es doch ſo 
gern. Sie ſagt immer, wenn ſie ins Luch oder uͤber Feld geht: 
Ich fürchte mich eigentlich, Roswitha, weil ich da fo allein bin; 
aber wer ſoll mich begleiten? Rollo, ja, das ginge; der iſt mir 
auch nicht gram. Das iſt der Vorteil, daß ſich die Tiere nicht 
ſo drum kuͤmmern. Das ſind die Worte der gnaͤdgen Frau, 
und weiter will ich nichts ſagen und den gnaͤdgen Herrn bloß 
noch bitten, mein Anniechen zu grüßen. Und auch die Johanna. 
Von Ihrer treu ergebenſten Dienerin 9 
Roswitha Gellenhagen.“ 

„Ja,“ ſagte Wuͤllersdorf, als er das Papier wieder zu⸗ 
ſammenfaltete, „die iſt uns über,“ 

„Finde ich auch.“ 

„Und das iſt auch der Grund, daß Ihnen alles andere ſo 
fraglich erſcheint.“ 

„Sie treffen's. Es geht mir ſchon lange durch den Kopf, 
und dieſe ſchlichten Worte mit ihrer gewollten oder vielleicht 
auch nicht gewollten Anklage haben mich wieder vollends aus 
dem Haͤuschen gebracht. Es quaͤlt mich ſeit Jahr und Tag 
ſchon, und ich moͤchte aus dieſer ganzen Geſchichte heraus; 
nichts gefällt mir mehr; je mehr man mich auszeichnet, je 
mehr fuͤhle ich, daß dies alles nichts iſt. Mein Leben iſt ver⸗ 
pfuſcht, und ſo hab ich mir im ſtillen ausgedacht, ich müßte 
mit all den Strebungen und Eitelkeiten überhaupt nichts 
mehr zu tun haben und mein Schulmeiſtertum, was ja wohl 
mein Eigentlichſtes iſt, als ein hoͤherer Sittendirektor ver⸗ 
wenden koͤnnen. Es hat ja dergleichen gegeben. Ich muͤßte 
alſo, wenn's ginge, ſolche ſchrecklich berühmte Figur werden, 
wie beiſpielsweiſe der Doktor Wichern im Rauhen Hauſe zu 
Hamburg geweſen iſt, dieſer Mirakelmenſch, der alle Verbrecher 
mit feinem Blick und feiner Froͤmmigkeit baͤndigte ...“ 

„Hm, dagegen iſt nichts zu ſagen; das wuͤrde gehen.“ 

„Nein, es geht auch nicht. Auch das nicht mal. Mir iſt 


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8 


eben alles verſchloſſen. Wie ſoll ich einen Torfchläger an feiner 
Seele packen? Dazu muß man ſelber intakt ſein. Und wenn 
man's nicht mehr iſt und ſelber ſo was an den Fingerſpitzen 
hat, dann muß man wenigſtens vor ſeinen zu bekehrenden 
Konfratres den wahnſinnigen Buͤßer ſpielen und eine Rieſen⸗ 
zerknirſchung zum beſten geben koͤnnen.“ 

Wuͤllersdorf nickte. 

„ . Nun ſehen Sie, Sie nicken. Aber das alles kann ich 
nicht mehr. Den Mann im Buͤßerhemd bring ich nicht mehr 
heraus, und den Derwiſch oder Fakir, der unter Selbſtanklagen 
ſich zu Tode tanzt, erſt recht nicht. Und da hab ich mir denn, 
weil das alles nicht geht, als ein Beſtes herausgekluͤgelt: weg 
von hier, weg und hin unter lauter pechſchwarze Kerle, die von 
Kultur und Ehre nichts wiſſen. Dieſe Gluͤcklichen! Denn 
gerade das, dieſer ganze Krimskrams iſt doch an allem ſchuld. 
Aus Paſſion, was am Ende gehen moͤchte, tut man dergleichen 
nicht. Alſo bloßen Vorſtellungen zuliebe... Vorſtellungen! 
... Und da klappt denn einer zuſammen, und man klappt 
ſelber nach. Bloß noch ſchlimmer.“ 

„Ach was, Innſtetten, das find Launen, Einfälle. Quer 
durch Afrika, was ſoll das heißen? Das iſt fuͤr nen Leutnant, 
der Schulden hat. Aber ein Mann wie Sie! Wollen Sie mit 
einem roten Fes einem Palawer praͤſidieren oder mit einem 
Schwiegerſohn von König Mteſa Blutfreundſchaft ſchließen? 
Oder wollen Sie ſich in einem Tropenhelm, mit ſechs Loͤchern 
oben, am Kongo entlang taſten, bis Sie bei Kamerun oder 
da herum wieder herauskommen? Unmoͤglich!“ 

„Unmoͤglich? Warum? Und wenn unmöglich, was 
dann?“ 

„Einfach hierbleiben und Refignation üben. Wer iſt denn 
unbedruckt? Wer ſagte nicht jeden Tag: ‚Eigentlich eine ſehr 
fragwuͤrdige Geſchichte.“ Sie wiſſen, ich habe auch mein Päd; 
chen zu tragen, nicht gerade das Ihrige, aber nicht viel leichter. 


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Es iſt Torheit mit dem im Urwald⸗Umherkriechen oder in 
einem Termitenhuͤgel naͤchtigen; wer's mag, der mag es, 
aber fuͤr unſerein iſt es nichts. In der Breſche ſtehen und aus⸗ 
halten, bis man faͤllt, das iſt das beſte. Vorher aber im kleinen 
und kleinſten ſoviel herausſchlagen wie moͤglich und ein Auge 
dafür haben, wenn die Veilchen blühen oder das Luiſendenkmal 
in Blumen ſteht oder die kleinen Maͤdchen mit hohen Schnuͤr⸗ 
ſtiefeln über die Korde ſpringen. Oder auch wohl nach Pots⸗ 
dam fahren und in die Friedenskirche gehen, wo Kaiſer Friedrich 
liegt, und wo ſie jetzt eben anfangen, ihm ein Grabhaus zu 
bauen. Und wenn Sie da ſtehen, dann überlegen Sie ſich das 
Leben von dem, und wenn Sie dann nicht beruhigt ſind, 
dann iſt Ihnen freilich nicht zu helfen.“ N 

„Gut, gut. Aber das Jahr iſt lang, und jeder einzelne Tag 
. . . und dann der Abend.“ 

„Mit dem iſt immer noch am eheſten fertig zu werden. 
Da haben wir ‚Sardanapal‘ oder ‚Coppelia‘ mit der del Era, 
und wenn es damit aus iſt, dann haben wir Siechen. Nicht 
zu verachten. Drei Seidel beruhigen jedesmal. Es gibt immer 
noch viele, ſehr viele, die zu der ganzen Sache nicht anders ſtehen 
wie wir, und einer, dem auch viel verquer gegangen war, 
ſagte mir mal: „Glauben Sie mir, Wuͤllersdorf, es geht übers 
haupt nicht ohne „Hilfskonſtruktionen“.“ Der das ſagte, war 
ein Baumeiſter und mußt es alſo wiſſen. Und er hatte recht 
mit ſeinem Satz. Es vergeht kein Tag, der mich nicht an die 
„Hilfskonſtruktionen“ gemahnte.“ 

Wuͤllersdorf, als er ſich ſo expektoriert, nahm Hut und 
Stock. Innſtetten aber, der ſich bei dieſen Worten ſeines 
Freundes ſeiner eigenen voraufgegangenen Betrachtungen 
über das „kleine Gluck“ erinnert haben mochte, nickte halb zu⸗ 
ſtimmend und laͤchelte vor ſich hin. 

„Und wohin gehen Sie nun, Wuͤllersdorf? Es iſt noch u 
fruͤh für das Miniſterium.“ 


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ie „Ich ſchenk es mir heute ganz. Erſt noch eine Stunde 
Spaziergang am Kanal hin bis an die Charlottenburger 
Schleuſe und dann wieder zuruͤck. Und dann ein kleines Vor⸗ 
ſprechen bei Huth, Potsdamer Straße, die kleine Holztreppe 
vorſichtig hinauf. Unten iſt ein Blumenladen.“ 

„Und das freut Sie? Das genuͤgt Ihnen?“ 

„Das will ich nicht gerade ſagen. Aber es hilft ein bißchen. 
Ich finde da verſchiedene Stammgaͤſte, Fruͤhſchoppler, deren 
Namen ich kluͤglich verſchweige. Der eine erzaͤhlt dann vom 
Herzog von Ratibor, der andere vom Fuͤrſtbiſchof Kopp und 
der dritte wohl gar von Bismarck. Ein bißchen fallt immer 
ab. Dreiviertel ſtimmt nicht, aber wenn es nur witzig iſt, 
krittelt man nicht lange dran herum und hoͤrt dankbar zu.“ 

Und damit ging er. 


Sechsunddreißigſtes Kapitel 


Der Mai war ſchoͤn, der Juni noch ſchoͤner, und Effi, 
nachdem ein erſtes ſchmerzliches Gefuͤhl, das Rollos Eintreffen 
in ihr geweckt hatte, gluͤcklich überwunden war, war voll Freude, 
das treue Tier wieder um ſich zu haben. Roswitha wurde 
belobt, und der alte Brieſt erging ſich ſeiner Frau gegenuͤber 
in Worten der Anerkennung fuͤr Innſtetten, der ein Kavalier 
ſei, nicht kleinlich und immer das Herz auf dem rechten Fleck 
gehabt habe. „Schade, daß die dumme Geſchichte dazwiſchen 

fahren mußte. Eigentlich war es doch ein Muſterpaar.“ Der 
einzige, der bei dem Wiederſehen ruhig blieb, war Rollo ſelbſt, 
weil er entweder kein Organ fuͤr Zeitmaß hatte oder die Tren⸗ 
nung als eine Unordnung anſah, die nun einfach wieder be⸗ 
hoben ſei. Daß er alt geworden, wirkte wohl auch mit dabei. 
Mit ſeinen Zaͤrtlichkeiten blieb er ſparſam, wie er beim Wieder⸗ 
ſehen ſparſam mit ſeinen Freudenbezeigungen geweſen war, 


IV. 29 449 


aber in feiner Treue war er womoͤglich noch gewachſen. & 


wich feiner Herrin nicht von der Seite. Den Jagdhund bes 


handelte er wohlwollend, aber doch als ein Weſen auf niederer 
Stufe. Nachts lag er vor Effis Tuͤr auf der Binſenmatte, 
morgens, wenn das Fruͤhſtuͤck im Freien genommen wurde, 
neben der Sonnenuhr, immer ruhig, immer ſchlaͤfrig, und 


nur wenn ſich Effi vom Fruͤhſtuͤckstiſch erhob und auf den Flur 
zuſchritt und hier erſt den Strohhut und dann den Sonnen⸗ 


ſchirm vom Staͤnder nahm, kam ihm ſeine Jugend wieder, 
und ohne ſich darum zu kuͤmmern, ob ſeine Kraft auf eine große 
oder kleine Probe geſtellt werden wuͤrde, jagte er die Dorf⸗ 
ſtraße hinauf und wieder herunter und beruhigte ſich erſt, 
wenn ſie zwiſchen den erſten Feldern waren. Effi, der freie 
Luft noch mehr galt als landſchaftliche Schoͤnheit, vermied 
die kleinen Waldpartien und hielt meiſt die große, zunaͤchſt von 
uralten Ruͤſtern und dann, wo die Chauſſee begann, von 
Pappeln beſetzte große Straße, die nach der Bahnhofsſtation 


— 


fuͤhrte, wohl eine Stunde Wegs. An allem freute ſie ſich, 
atmete begluͤckt den Duft ein, der von den Raps⸗ und Klee⸗ 


feldern heruͤber kam, oder folgte dem Aufſteigen der Lerchen 
und zaͤhlte die Ziehbrunnen und Troͤge, daran das Vieh zur 


Traͤnke ging. Dabei Hang ein leiſes Laͤuten zu ihr heruͤber. 
Und dann war ihr zu Sinn, als muͤſſe ſie die Augen ſchließen 


5 42 


und in einem füßen Vergeſſen hinuͤbergehen. In Nähe 


der Station, hart an der Chauſſee, lag eine Chauſſeewalze. 


Das war ihr täglicher Raſteplatz, von dem aus ſie das Treiben 
auf dem Bahndamm verfolgen konnte; Züge kamen und 


gingen, und mitunter ſah ſie zwei Rauchfahnen, die ſich einen 
Augenblick wie deckten und dann nach links und rechts hin 
wieder auseinandergingen, bis ſie hinter Dorf und Waͤldchen 


verſchwanden. Rollo ſaß dann neben ihr, an ihrem Fruͤhſtuͤck teils 


nehmend, und wenn er den letzten Biſſen aufgefangen hatte, 
fuhr er, wohl um ſich dankbar zu bezeigen, irgendeine Acke! 


1 
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8 

4 wie ein Raſender hinauf und hielt nur inne, wenn ein 
paar beim Bruͤten geſtoͤrte Rebhuͤhner dicht neben ihm aus 
einer Nachbarfurche aufflogen. 


„Wie ſchoͤn dieſer Sommer! Daß ich noch ſo gluͤcklich 
fein könnte, liebe Mama, vor einem Jahre hätte ich's nicht 
gedacht,“ — das ſagte Effi jeden Tag, wenn fie mit der Mama 

um den Teich ſchritt oder einen Fruͤhapfel vom Zweig brach 

| und tapfer einbiß. Denn fie hatte die ſchoͤnſten Zähne. Frau 
von Brieſt ſtreichelte ihr dann die Hand und ſagte: „Werde 

nur erſt wieder geſund, Effi, ganz geſund; das Gluͤck findet 

| ſich dann; nicht das alte, aber ein neues. Es gibt Gott fei 
Dank viele Arten von Gluͤck. Und du ſollſt ſehen, wir werden 
ſchon etwas finden für dich.“ 

„Ihr ſeid ſo gut. Und eigentlich hab ich doch auch euer 
Leben geaͤndert und euch vor der Zeit zu alten Leuten gemacht.“ 

„Ach, meine liebe Effi, davon ſprich nicht. Als es kam, 
da dacht ich ebenſo. Jetzt weiß ich, daß unſere Stille beſſer iſt 
als der Laͤrm und das laute Getriebe von vordem. Und wenn 
du ſo fortfaͤhrſt, koͤnnen wir noch reiſen. Als Wieſike Mentone 
ivorſchlug, da warſt du krank und reizbar und hatteſt, weil du 
krank warſt, ganz recht mit dem, was du von den Schaffnern 
und Kellnern ſagteſt; aber wenn du wieder feſtere Nerven haſt, 
f dann geht es, dann aͤrgert man ſich nicht mehr, dann lacht man 
N über die großen Alluͤren und das gefräufelte Haar. Und dann 
das blaue Meer und weiße Segel und die Felſen ganz mit 


rotem Kaktus uͤberwachſen, — ich habe es noch nicht geſehen, 


| der ich denke es mir fo. Und ich möchte es wohl kennen 
lernen.“ 

So verging der Sommer, und die Sternſchnuppennaͤchte 
lagen ſchon zuruͤck. Effi hatte während dieſer Nächte bis über 
Mitternacht hinaus am Fenſter geſeſſen und ſich nicht muͤde 
5 koͤnnen. „Ich war immer eine ſchwache Chriſtin; aber 


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ob wir doch vielleicht von da oben ſtammen und, wenn es hi 
vorbei iſt, in unſere himmliſche Heimat zurückkehren, zu de 
Sternen oben oder noch daruͤber hinaus! Ich weiß es nicht, 1 0 
will es auch nicht wiſſen, ich habe nur die Sehnſucht.“ 5 

Arme Effi, du hatteſt zu den Himmelwundern zu lan 9 
hinaufgeſehen und daruͤber nachgedacht, und das Ende war, dei, 
die Nachtluft und die Nebel, die vom Teich her aufftiegen, 
wieder aufs Krankenbett warfen, und als Wieſike gerufen wur 
und ſie geſehen hatte, nahm er Brieſt beiſeite und ſagte: „Wir 
nichts mehr; machen Sie ſich auf ein baldiges Ende gefaßt 

Er hatte nur zu wahr geſprochen, und wenige Tage danach 
es war noch nicht ſpaͤt und die zehnte Stunde noch nicht heran 
da kam Roswitha nach unten und ſagte zu Frau von Brieſt 
„Gnaͤdigſte Frau, mit der gnaͤdigen Frau oben iſt es ſchlimm 
ſie ſpricht immer ſo ſtill vor ſich hin und mitunter iſt es, als ol 
ſie bete, ſie will es aber nicht wahr haben, und ich weiß nich 9 
mir iſt, als ob es jede Stunde vorbei ſein koͤnnte.“ 

„Will ſie mich ſprechen?“ 

„Sie hat es nicht geſagt. Aber ich glaube, ſie moͤchte ee 
Sie wiſſen ja, wie fie iſt; fie will Sie nicht ſtoͤren und aͤngſtli 
machen. Aber es waͤre doch wohl gut.“ 6 

„Es iſt gut, Roswitha,“ ſagte Frau von e lich wer 
kommen.“ 

Und ehe die Uhr noch einſetzte, ſtieg Frau von Brieſt di 
Treppe hinauf und trat bei Effi ein. Das Fenſter ſtand av 
und ſie lag auf einer Chaiſelongue, die neben dem Fenſter ſtant 

Frau von Brieſt ſchob einen kleinen ſchwarzen Stuhl mi 
drei goldenen Staͤbchen in der Ebenholzlehne heran, nahm TE 
Hand und fagte: 

„Wie geht es dir, Effi? Roswitha ſagt, du feieft fo fiebrig.“ 

„Ach, Roswitha nimmt alles fo aͤngſtlich. Ich ſah ihr an, 
ſie glaubt, ich ſterbe. Nun, ich weiß nicht. Aber ſie denkt, es 
ſoll es jeder ſo aͤngſtlich nehmen wie ſie ſelbſt.“ 


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D Diſt du ſo ruhig uͤber Sterben, liebe Effi?“ 

„Ganz ruhig, Mama.“ 

„Taͤuſchſt du dich darin nicht? Alles haͤngt am Leben und 

' 2 Jugend erſt recht. Und du biſt noch fo jung, liebe Effi.“ 

775 Effi ſchwieg eine Weile. Dann ſagte ſie: „Du weißt, ich 

abe nicht viel geleſen und Innſtetten wunderte ſich oft Darüber, 

md es war ihm nicht recht.“ 

i Es war das erſtemal, daß fie Innſtettens Namen nannte, 
vas einen großen Eindruck auf die Mama machte und dieſer 
$ lat zeigte, daß es zu Ende fei. 

Ulber ich glaube,“ nahm Frau von Brieſt das Wort, „du 

wollteſt mir was erzaͤhlen.“ 

I „Ja, das wollte ich, weil du davon ſprachſt, ich ſei noch fo 
jung. Freilich bin ich noch jung. Aber das ſchadet nichts. 
Es war noch in gluͤcklichen Tagen, da las mir Innſtetten 
abends vor; er hatte ſehr gute Bücher, und in einem hieß es: 
9 Es ſei wer von einer froͤhlichen Tafel abgerufen worden, und 
am andern Tage habe der Abgerufene gefragt, wie's denn 
nachher geweſen ſei. Da habe man ihm geantwortet: ‚Ach 
8 war noch allerlei; aber eigentlich haben Sie nichts ver⸗ 
ſaͤumt. Sieh, Mama, dieſe Worte haben ſich mir eingepraͤgt — 
es hat nicht viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel etwas 
t kuͤher abgerufen wird.“ 
ri Frau von Brieſt ſchwieg. Effi aber ſchob ſich etwas hoͤher 
fü hinauf und ſagte dann: „Und da ich nun mal von alten Zeiten 


. | nd auch von Innſtetten geſprochen habe, muß ich dir doch 


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noch etwas ſagen, liebe Mama.“ 
„„du regſt dich auf, Effi.“ 

„Nein, nein; etwas von der Seele herunterſprechen, das 
Legt mich nicht auf, das macht fill. Und da wollt ich dir denn 
ſagen: ich ſterbe mit Gott und Menſchen verſoͤhnt, auch verſoͤhnt 
mit ihm.“ 

„Warſt du denn in deiner Seele in ſo großer Bitterkeit 


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mit ihm? Eigentlich, verzeihe mir, meine liebe Effi, d aß ich 
das jetzt noch ſage, eigentlich haft d du doch euer Leid herauf⸗ 
beſchworen. = 5 
Effi nickte. „Ja, Mama. Und traurig, daß es ſo ist | 
Aber als dann all das Schreckliche kam, und zuletzt das mit 


Annie, du weißt ſchon, da hab ich doch, wenn ich das lächerliche 
Wort gebrauchen darf, den Spieß umgekehrt und habe mich 0 
ganz ernſthaft in den Gedanken hineingelebt, er ſei ſchuld, 
weil er nuͤchtern und berechnend geweſen ſei und zuletzt auch 2; 
noch grauſam. Und da find Verwuͤnſchungen gegen ihn über | 
meine Lippen gekommen.“ 9 

„Und das bedruckt dich jetzt?“ 1 

„Ja. Und es liegt mir daran, daß er erfaͤhrt, wie ink 
hier in meinen Krankheitstagen, die doch faft meine ſchoͤnſten k 
geweſen find, wie mir hier klar geworden, daß er in allem recht f 
gehandelt. In der Geſchichte mit dem armen Crampas — ja, 
was ſollt er am Ende anders tun? Und dann, womit er mich 
am tiefſten verletzte, daß er mein eigen Kind in einer Art Ab᷑⸗ 
wehr gegen mich erzogen hat, ſo hart es mir ankommt und ſo 
weh es mir tut, er hat auch darin recht gehabt. Laß ihn bas Ki 
wiſſen, daß ich in dieſer Überzeugung geſtorben bin. Es wird 
ihn troͤſten, aufrichten, vielleicht verſoͤhnen. Denn er u. 
viel Gutes in feiner Natur und war fo edel, wie jemand we: 
kaun, der ohne rechte Liebe iſt.“ 

Frau von Brieſt ſah, daß Effi erſchoͤpft war und zu ſclaſen 
ſchien oder ſchlafen wollte. Sie erhob ſich leiſe von ihrem Platz 
und ging. Indeſſen kaum, daß fie fort war, erhob ſich auch 
Efſi und ſetzte ſich an das offene Fenſter, um noch einmal die 
fühle Nachtluft einzuſaugen. Die Sterne flimmerten, und im 
Parke regte ſich kein Blatt. Aber je laͤnger ſie hinaushorchte, 
je deutlicher hörte fie wieder, daß es wie ein feines Rieſeln +- 
auf die Platanen niederfiel. Ein Gefuͤhl der Befreiung üben, 
kam fie. „Ruhe, Ruhe.“ 


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Br 
5 er 


Gen war einen t fpäter, und der September ging auf 
Neige. Das Wetter war ſchoͤn, aber das Laub im Parke 
gte ſchon viel Rot und Gelb, und ſeit den Aquinoktien, die 
dies Sturmtage gebracht hatten, lagen die Blätter überall 
gusgeſtreut. Auf dem Rondell hatte ſich eine Heine Ver⸗ 
derung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der 
wo ſie geſtanden hatte, lag ſeit geſtern eine weiße Mar⸗ 
platte, darauf ſtand nichts als „Effi Brieſt“ und darunter 
n euz. Das war Effis letzte Bitte geweſen: „Ich moͤchte 
ur meinem Stein meinen alten Namen wieder haben; ich 
‚be dem andern keine Ehre gemacht.“ Und es war ihr ver⸗ 
ochen worden. 

Sa, geſtern war die Marmorplatte gekommen und auf⸗ 
elegt worden, und angeſichts der Stelle ſaßen nun wieder 
B ist und Frau und ſahen darauf hin und auf den Heliotrop, 
den man geſchont und der den Stein jetzt einrahmte. Rollo 
ag daneben, den Kopf in die Pfoten geſteckt. 

Wilke, deſſen Gamaſchen immer weiter wurden, brachte 
Fruͤhſtuͤck und die Poſt, und der alte Brieſt ſagte: „Wilke, 
le den kleinen Wagen. Ich will mit der Frau über Land 


5 Frau von Brieſt hatte mittlerweile den Kaffee eingeſchenkt 
ſah nach dem Rondell und ſeinem Blumenbeete. „Sieh, 


er gegangen als uns. Er frißt auch nicht mehr.“ 

„Ja, Luiſe, die Kreatur. Das iſt ja, was ich immer ſage. 
iſt nicht ſo viel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir 
ter von Inſtinkt. Am Ende iſt es doch das beſte.“ 
„Sprich nicht fo. Wenn du fo philofophierft... nimm 
nir nicht übel, Brieſt, dazu reicht es bei dir nicht aus. Du 
beinen guten Verſtand, aber du kannſt doch nicht an ſolche 
gen..“ a 

| „Eigentlich nicht.“ 


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„Und wenn denn ſchon Überhaupt Fragen geftells wer 
ſollen, da gibt es ganz andere, Brieſt, und ich kann dir ſag 
es vergeht kein Tag, ſeit das arme Kind da liegt, wo mir for 
Fragen nicht gekommen wären...“ 

„Welche Fragen?“ 

„Ob wir nicht doch vielleicht ſchuld ſind?“ 

„uUnſinn, Luiſe. Wie meinſt du das?? 

„Ob wir fie nicht anders in Zucht haͤtten nehmen möß 
Gerade wir. Denn Niemeyer iſt doch eigentliche e 
weil er alles in Zweifel läßt. Und dann, Brieſt, fo lei 
tut ... deine beſtaͤndigen Zweideutigkeiten . und zule 
womit ich mich ſelbſt anklage, denn ich will nicht ſchuldlos «ai 
gehen in dieſer Sache, ob fie nicht doch vielleicht zu jung wan 

Rollo, der bei dieſen Worten aufwachte, ſchuͤttelte den 
langſam hin und her, und Brieft ſagte ruhig: „Ach, r 
laß... das iſt ein zu weites Feld.“ 


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